Die Ursachen wachsender Ungleichheit

Seite 2: Zweifel am Erpressungspotential der Geldelite

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Nach Karl Marx schafft Geldkapital keinen Mehrwert. Dennoch betrachtet er Banken als für die Realwirtschaft unverzichtbar, da Unternehmen häufig Geldmittel benötigen, um die Kosten für die Beschaffung von Produktionsmitteln und die Auszahlung von Löhnen vorschießen zu können. Allerdings müssen die Zinsen für die Kredite mit hereingewirtschaftet werden. Die Höhe des Zinsbetrags hat somit einen Einfluss auf Investitionsentscheidungen.

Gemäß dem Sayschen Gesetz bestimmt sich der Zinssatz aus der Relation von Kreditangebot und -nachfrage. Er müsste demnach sinken, wenn Finanzmittel im Überfluss vorhanden sind. Geldbesitzer können jedoch nicht zu einer Kreditvergabe gezwungen werden. Mittels Hortung von Geld hätten sie die Möglichkeit, das Angebot zu verknappen und von Kreditnehmern höhere Zinsen zu erpressen. Die Finanzelite würde sich nicht nur zu Lasten anderer Wirtschaftsakteure bereichern, sondern könnte eine bedeutende Macht über sie erlangen.

Der Verhinderung eines solchen Szenariums dient die von Silvio Gesell begründete Freiwirtschaftslehre. Deren erklärtes Ziel ist es, Geld bei Strafe von Verlusten in den Wirtschaftskreislauf zu zwingen. So könnten Kreditbelastungen der Unternehmen minimiert und Investitionen beflügelt werden. Zugleich ließe sich die Macht des Geldadels brechen, da die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu dessen Vorteil beendet wäre. Durch die Umsetzung von Freigeldkonzepten, die auf dem Prinzip der Alterung von Geld beruhen, würde sich folglich die Kluft zwischen Arm und Reich verringern.

Zwar wurde die Freiwirtschaftslehre nirgendwo auf staatlicher Ebene praktiziert, jedoch dürften Niedrigzinspolitik und Quantitative Easing der Notenbanken gleichermaßen eine Hortung von Geld unattraktiv machen. Nun wird mancherorts der Finanzbranche vorgeworfen, sie würde die niedrigen Notenbankzinsen nicht an Unternehmen und Verbraucher weiterreichen. Doch haben Banken ein verständliches Interesse an einer Minimierung von Risiken. Daher gab es auch früher keine billigen Kredite für waghalsige Geschäfte und bei schlechten Bonitäten, obwohl zu jenen Zeiten deutlich höhere Wachstumserwartungen bestanden.

Eine Zurückhaltung von Geld zum Zweck der Erpressung höherer Zinsen würde indes den Spekulanten selbst schaden. Deshalb wäre bei einem Bekanntwerden neuer lukrativer Investitionsobjekte zu erwarten, dass eine "Boykottfront" der Geldbesitzer schnell bröckeln würde. Ebenso wenig erscheint die differenziertere Betrachtung von John Maynard Keynes plausibel, dass sich die Liquiditätspräferenz bei sinkenden Kapitalerträgen erhöhen würde. Während angelegte Vermögen eine regelmäßige Rendite erwirtschaften oder wegen Knappheit einen Wertzuwachs erzielen, verliert gehortetes Geld durch Inflation. Darüber hinaus ist die Gefahr von Währungsschnitten keineswegs gebannt. Demgegenüber ist das Verlustrisiko bei Aktien und Anleihen großer Kapitalgesellschaften gegenwärtig als gering anzusehen. Nicht einmal das Argument einer Suche nach profitablen Anlagen im spekulativen Bereich überzeugt. Da es sich hierbei letztlich um Nullsummenspiele handelt, werden im gleichen Umfang Gewinne und Verluste realisiert.

Kein Geldentzug durch Zinsgewinne

Ausgehend von den Grundüberlegungen der Freiwirtschaftslehre hat sich unter Ökonomen eine Sichtweise etabliert, die Zinsforderungen der Banken für den zunehmenden Verschuldungsgrad einer Volkswirtschaft verantwortlich macht. So wird konstatiert, dass der Gesamtwert der gekauften Waren und Dienstleistungen gerade der Geldmenge multipliziert mit deren Umlaufgeschwindigkeit entspricht. Folglich besitzt die Kreditvergabe als Mittel der Geldschöpfung eine zentrale Funktion. Weil es als wünschenswert gilt, dass sich die Geldmenge im Gleichschritt mit dem Wirtschaftsleistung vermehrt, sollte die Gesamtverschuldung in entsprechendem Umfang zunehmen.

Die Zinsforderungen würden nun aber einen Strich durch diese Rechnung machen. Da die Zinsbeträge der umlaufenden Geldmenge entnommen werden müssten, würde diese sich zwangsläufig vermindern. Dies hätte dann negative Auswirkungen auf das volkswirtschaftliche Gesamtprodukt. Zur Kompensation müsste neues Giralgeld geschaffen werden, was jedoch nur durch Kreditvergabe möglich sei. Wegen des Zinseszinsmechanismus würde sich die Schuldensumme fortlaufend erhöhen. Die wachsenden Zinserlöse würden in das Eigentum der Geldbesitzer übergehen, wohingegen die Allgemeinheit durch steigende Verbindlichkeiten belastet wäre. Dadurch würde sich die Kluft zwischen Arm und Reich vertiefen.

Wird der für Zinsen aufzubringende Geldbetrag aber tatsächlich der Wirtschaft entzogen? Neben Zinseinnahmen verfügen Banken über Einkünfte aus Gebühren und Leistungsvergütungen. Die Ausgaben beim Bankgeschäft betreffen Mieten, Abschreibungen, Büro- und anderes Material, externe Dienstleistungen, Löhne, Dividenden und Steuern. Ferner müssen an Sparkonteninhaber Zinsen gezahlt und Ausfälle durch zahlungsunfähige Kreditnehmer geschultert werden. Hierdurch gelangt aber das Gros der Zinsbeträge mit zeitlicher Verzögerung in den Wirtschaftskreislauf zurück, während ein Teil der Zinsforderungen im Zuge von Verlustabschreibungen verschwindet.

Die Zweckmäßigkeit von Zinsen lässt sich kaum bestreiten. Privathaushalte erhalten als Gegenleistung für Zinszahlungen den Vorteil, ihren Konsum zeitlich vorzuverlegen. Dabei erscheint es angemessen, dass Vergabe und Bedingungen eines Kredits von der Bonität abhängig gemacht werden. Der Bank fällt bei Strafe eigener Verluste diese Aufgabe zu. Was bei Privathaushalten der Konsum ist, sind für Staaten und Kommunen gesellschaftlich relevante Leistungen und für Unternehmen die Möglichkeit, Gewinne zu erwirtschaften. So leistet das Zinssystem einen wichtigen Beitrag zur optimalen Allokation von Finanzmitteln.

Die Tätigkeit von Banken ist mit der von Versicherungen oder Wettbüros vergleichbar. Zinsen sind somit nichts anderes als Entgelte für Finanzdienstleistungen unter Berücksichtigung abzudeckender Risiken. Zwar bereichern sich die Aktionäre der Banken sowie die Inhaber von Anleihen und Spareinlagen zu Lasten der Kreditnehmer. Jedoch besteht hinsichtlich der Auswirkungen auf die Einkommens- und Vermögensunterschiede kein prinzipieller Unterschied zu Kapitalerträgen in anderen Bereichen. Weder die meisten Banken noch die Besitzer von Anleihen bekleiden herausragende Positionen in der globalen Machtpyramide.

Steigende Einkommen durch Vermögenszuwachs

Unbestreitbar verfügen Kapitalisten wie auch Geldbesitzer über eine Einnahmequelle, zu der normale Lohnarbeiter keinen Zugang haben. Gleichwohl gibt es andere Wege, um überdurchschnittliche Einkommen zu generieren. Mit höherer Qualifikation steigen allgemein die Löhne. Bei besonderem Talent und Wissen winken Spitzengehälter. Als vorteilhaft erweisen sich ferner soziale Kompetenz, Referenzen, Kontakte zu einflussreichen Personen und besonderes Engagement. Die Höhe der Geldbezüge wird zudem durch diskriminierende Faktoren beeinflusst wie Alter, Geschlecht, Staatsbürgerschaft und Kulturhintergrund.

Offenbar ist für die Erklärung der wachsenden Schere zwischen Arm und Reich weniger relevant, worauf Einkommen im Einzelnen beruhen, als vielmehr deren Umfang. Im Folgenden werden drei Mechanismen thematisiert, die Bezieher hoher Geldeinkünfte zwingend begünstigen und dabei eine Eigendynamik entfalten. Die Kluft zu einkommensschwachen Haushalten vertieft sich sowohl relativ mittels größerer prozentualer Zuwächse als auch absolut durch Umverteilung.

Der erste Mechanismus erklärt sich aus der Verwendung von Finanzmitteln durch Privathaushalte. Bei diesen handelt es sich um regelmäßige Einkünfte sowie um Vermögen aus Rücklagen und einmaligen Zuwendungen wie Erbschaften oder Glückspielgewinne. Ihre Größe hat einen wesentlichen Einfluss darauf, zu welchen Anteilen Geld einerseits für konsumtive Zwecke ausgegeben und andererseits gespart wird.

Trotz erheblicher Unterschiede zwischen Ländern und Kulturräumen kann generell angenommen werden, dass die Spartätigkeit zumindest innerhalb einer Volkswirtschaft mit der Höhe der Geldeinkünfte zunimmt. Gespart wird für künftige Anschaffungen, aber auch ohne konkreten Verwendungszweck. So bleiben zwangsläufig Finanzmittel übrig, wenn ein Privathaushalt seine Konsumbedürfnisse maximal befriedigen kann. Diese werden für gewöhnlich gewinnbringend angelegt.

Dadurch entsteht nun ein Potential für zusätzliche Einkommen in Gestalt von Kapitalerträgen. Je höher sich jemand in der Einkommenspyramide befindet, desto größere Vermögen kann er anhäufen und sich durch Anlagetätigkeit dauerhaft bereichern. Aufgrund dieser zusätzlichen Geldquelle vertieft sich die relative Kluft zwischen Arm und Reich auch dann, wenn alle bisherigen Einkommen prozentual gleich wachsen.

Vergleichbare Möglichkeiten, nicht verbrauchte Geldeinkünfte gewinnbringend anzulegen, bieten sich Gemeinschaften jeder Art und insbesondere öffentlichen Haushalten. Verfügen Staaten oder Kommunen über reichliche Steuereinnahmen und Kapitalerträge, dann verbleiben meistens Mittel für zusätzliche Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Forschung. So können sie ihren Vorsprung sichern und ausbauen, woraufhin das Gefälle zu schwächeren Regionen weiter wächst.