Die Ursachen wachsender Ungleichheit

Seite 4: Barrieren durch Fixierung auf Systemkritik

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Das Wachstum der Einkommensunterschiede vollzieht sich im Rahmen des kapitalistischen Systems. Wie sind dann die dabei maßgebenden Mechanismen zu beurteilen? Sind die Grundlagen, auf denen sie beruhen, auch systemgebunden?

Ein Erwerb von Vermögen, mit dem zusätzliche Einkommen generiert werden, setzt die Möglichkeit eines individuellen oder gemeinschaftlichen Besitzes von Anlageobjekten voraus. Eine günstige Wettbewerbskonstellation ist nur vorteilhaft, wenn die Preisgestaltung auf Märkten nicht durch Restriktionen behindert wird. Und damit sich Investitionen auf Bereiche der Kostenminimierung verlagern, bedarf es nicht nur einer stockenden Nachfrage und eines Kapitalüberflusses, sondern Unternehmen müssen gleichermaßen über ihre Investitionen frei entscheiden dürfen.

Bei den Bedingungen Eigentum an Anlagevermögen, freie Preisgestaltung und Investitionsfreiheit handelt es sich offenbar um Säulen aller bisherigen Ökonomien, beginnend mit den ersten Hochkulturen des Orients. Historische Bestrebungen, diese partiell außer Kraft zu setzen, waren nur begrenzt erfolgreich und sind allesamt gescheitert. Dies betrifft feudalistische Verhältnisse wie auch staatsgelenkte Systeme von den alten chinesischen Reichen bis zum "realen Sozialismus" der Neuzeit. Vielfach wurde eine wirtschaftliche Stagnation nur dank der Existenz paralleler Strukturen wie etwa der Handwerkszünfte oder des Merkantilismus verhindert.

Wachsende Einkommensunterschiede gründen sich also weder auf das Kapitalverhältnis noch auf eine vermeintliche Dominanz der Finanzelite. Nun gibt es alternative Wirtschaftsmodelle, die es dennoch für notwendig halten, Lohnarbeit durch genossenschaftliche und gemeinnützige Organisationsformen zu ersetzen oder Geldströme mittels einer Monitative zu kontrollieren. Soweit sie Machtverschiebungen zugunsten schwächerer Wirtschaftakteure implizieren, würde ihre Realisierung den Trend zunehmender Ungleichheit tatsächlich abschwächen. Um ihn aber stoppen und umkehren zu können, bedarf es zusätzlicher Maßnahmen, welche die zentralen Mechanismen der Bereicherung und Umverteilung eindämmen.

Obwohl weiterhin Auffassungen verbreitet sind, dass das kapitalistische System durch eine Planwirtschaft ersetzt werden müsse, streben heute gängige Alternativentwürfe eher nach strukturellen Veränderungen. Dabei wird nicht die Absicht gehegt, Eigentum an Anlagevermögen, freie Preisgestaltung oder Investitionsfreiheit einzuschränken. Es wird wohl begriffen, dass es sich um allgemeine Grundlagen des Wirtschaftens handelt, die besser nicht angetastet werden.

Stattdessen soll die Marktwirtschaft von verzerrenden Einflüssen des Neoliberalismus "gesäubert" werden. Ohne auf die Funktionalität der Konzepte im Einzelnen einzugehen, kann konstatiert werden, dass sich in ihnen ein erhebliches Maß an Realitätsferne offenbart. Dies ist wohl der Grund, warum Probleme des Übergangs wie auch Widerstände, die angesichts der bestehenden Interessen- und Machtkonstellationen zu erwarten sind, kaum thematisiert werden.

Neokeynesianische Modelle erweisen sich als praktikabler. Sie stützen einkommensschwache Haushalte über Beschäftigungsprogramme, die durch öffentliche Verschuldung finanziert werden. Zugleich wachsen die Vermögen der Kapitalseite mittels öffentlicher Aufträge und durch Geldanlagen in Staatsanleihen. Aus dieser Alimentation der Wirtschaftsakteure resultiert unweigerlich eine angespannte Finanzlage von Staaten und Kommunen. Endet der Geldfluss, dann schwinden die konjunkturellen Effekte meist recht bald. Dies - und nicht der mangelnde Wille der Politiker - ist der Hauptgrund dafür, dass Staatsschulden nirgendwo signifikant abgebaut worden sind.

Rückbesinnung auf staatliche Steuerungsmaßnahmen

Eine Strategie zur Verminderung der Schere zwischen Arm und Reich kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie den Mechanismen entgegenwirkt, die sie verursachen. Bei dieser Aufgabe reicht augenscheinlich eine Einflussnahme über Gesetze, Verordnungen und Lenkungsinstrumente. Es bedarf keiner tiefgreifenden strukturellen Veränderungen, wie sie von manchen Kritikern des Neoliberalismus verlangt werden.

Mittel zur Eindämmung wachsender Einkommensunterschiede wurden vielerorts und über längere Zeiträume erprobt und perfektioniert. Manche werden noch heute angewandt, besonders in Staaten, die über ein relativ entwickeltes Sozialsystem verfügen. Im Gegensatz zu neokeynesianischen Konzepten sollte allerdings eine übermäßige Verschuldung der öffentlichen Hand vermieden werden, damit der politische Handlungsspielraum gewahrt bleibt. Um welche praktikablen und zugleich nachhaltigen Instrumente handelt es sich?

Einkommensquellen in Gestalt von Kapitalanlagen, die auf nicht konsumierten Geldeinkünften beruhen, können durch eine Besteuerung der Vermögen gestutzt werden. Über eine Steuerprogression lassen sich große Einkommensunterschiede nivellieren. Kartellgesetze und Verbraucherschutz dienen dem Zweck, faire Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten und ein Ausnutzen von Monopolstellungen zu verhindern. Dabei bedarf es internationaler Regelungen, um global agierenden Wirtschaftsakteuren Schranken zu setzen. Mittels öffentlicher Aufträge und spezieller Förderung können Investitionen in Bereiche gelenkt werden, wo sie anstelle von Einsparungen einer Erhöhung des Produktionswerts dienen.

Die politische Umsetzung dieser Maßnahmen wird nun durch veränderte Machtkonstellationen erschwert. Diese manifestieren sich vor allem im wachsenden Druck global aufgestellter Kapitalgesellschaften. Daraufhin hat sich die Interessenlage der Staaten selbst gewandelt. So erweist sich eine Begünstigung der eigenen Wirtschaftselite, oftmals auch auf Kosten anderer heimischer Wirtschaftsakteure, als volkswirtschaftlich vorteilhaft. Zudem sind die Regierungen bedeutender Finanzplätze daran interessiert, dass die Belastungen für große Kapitalgesellschaften und vermögende Haushalte eher reduziert werden, um noch mehr Geldmittel anlocken zu können.

So lassen sich einerseits Mechanismen, die wachsende Einkommensunterschiede hervorrufen, nur durch politische Eingriffe entschärfen. Andererseits wird die Interessenlage der Staaten durch dieselben Mechanismen dahingehend beeinflusst, dass Regierungen gerade gegenteilig handeln. Hier sollten reformbereite Volkswirtschaftler als anerkannte Experten ihren Einfluss durch eine klare Positionierung geltend machen. Dies verlangt, dass sie in ihren Expertisen die Hauptursachen für die wachsende Schere zwischen Arm und Reich gebührend berücksichtigen.