Die Vaporisierung der Diktatur

Das Hussein-Regime löst sich gespensterhaft auf, zurück bleiben jubelnde, plündernde und beobachtende Iraker sowie Zerstörungen, Paläste und Statuen

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Es sollten Gesten der Eroberung sein, als Soldaten mitsamt den eingebetteten Journalisten erstmals in Basra und Bagdad die noch stehenden Präsidentenpaläste betraten. Doch das alles machte eher den beiläufigen Eindruck, als würden Touristen staunend durch eine Art Museum schlendern und sich dann einzeln oder in Gruppe zum Erinnerungsfoto drapieren. Und irgendwie hat sich jetzt das Hussein-Regime, so wollen es uns wenigstens das Militär, die Medien und die Bilder vermitteln, dementsprechend weitgehend in Luft aufgelöst, fast so, als habe es nie wirklich existiert. Zurück bleiben die Ruinen, die zerstörten Panzer, die Paläste und zahllose Bilder und Staturen von Saddam. Und der Thron des Kaisers scheint so leer zu sein wie seine Paläste.

Der gesamte Feldzug sei, so meinte gestern der britische Militärhistoriker John Keegan, eigentlich gar kein Krieg gewesen. Trotzdem seien Schusswechsel von unerfahrenen Journalisten, die mit an der Front dabei sein durften, als große Schlachten beschrieben worden, und Hindernisse als Niederlagen: "In Wirklichkeit hat es fast keine Hindernisse für den unaufhaltsamen Vorrücken der Koalition, besonders für den dramatischen Marsch der Amerikaner nach Bagdad gegeben. Es gab auch keine großen Schlachten. Das war ein Zusammenbruch, kein Krieg."

Unbekannt ist freilich die Zahl der Opfer unter den Militärs und den Zivilisten auf der irakischen Seite, auf der Seite der alliierten Truppen waren die Verluste minimal. Die Hälfte verdankte sich sowieso Unfällen oder "friendly fire". Von den massiven Luftangriffen vorbereitet konnten die Bodentruppen schnell große Strecken erobern. Nur in den Städten und manchmal aus dem Hinterhalt gab es Widerstand, meist von relativ kleinen Gruppen. Oft seien die Angriffe von Irakern eine Art Selbstmordkommando gewesen, hörte man Soldaten sagen. In wenigen Tagen sind auch viele Städte, einschließlich Bagdad, mehr oder weniger eingenommen worden. Wie viele Menschen bei den Bombardierungen, Kämpfen und Scharmützeln auch immer gestorben sein mögen, so scheint sich die Zahl der Opfer doch bislang in Grenzen zu halten. Die Apokalyptiker scheinen damit widerlegt zu sein. Gott sei Dank für die Menschen.

Oft hörte man auch, dass es eigentlich keinen oder erstaunlich wenig Widerstand gab. Dass Panzer, Artillerie, Fahrzeuge oder Stellungen bei Ankunft verlassen waren. Man konnte bei manchen Soldaten, die von Journalisten befragt wurden, gelegentlich auch eine Art der Enttäuschung sehen. Schließlich war man solange auf einen wirklichen Einsatz vorbereitet worden, hatte sich vielleicht monatelang in Kuwait aufgehalten und ist dann mit Angst oder Lust losgezogen, um seinen "Job" gut zu erledigen. Und dann fuhr man oft in die Leere eines Landes, das zuvor als so bedrohlich geschildert wurde, dass die Vereinigten Staaten und die Welt unter großer Gefahr stünden und präventiv gehandelt werden müsse. Dann stand man keiner Armee gegenüber, sondern Scharfschützen und einzelnen Gruppen mit Maschinengewehren oder Panzerabwehrwaffen. In einer Stadt können auch kleine Gruppen lange Widerstand gegenüber einem Angreifer leisten, der das Leben der Zivilisten und der eigenen Soldaten möglichst schonen will.

Was bleibt, sind vermutlich einige Scharmützel, vielleicht noch einige Kämpfe im Norden oder um Tikrit und die Frage, wohin die Truppen, immerhin theoretisch um die 400.000 Mann stark, und die Regimeführer, vor allem natürlich Hussein, verschwunden sind. Heute sind die US-Truppen in die Innenstadt von Bagdad eingefahren: "Wir dachten, dass wir auf großen Widerstand treffen, aber das geschah nicht, also fuhren wir weiter und weiter, bis wir hier waren", erzählte der Marine Steven Harris. Auch wenn andere Einheiten noch wie an der Universität auf Widerstand stießen, so schien der Bann gebrochen zu sein. Das Regime bröckelte nicht nur, es war zusammen mit seinen Anhängern wie ein Geist verschwunden. Wie Hussein selbst, der vornehmlich eine Medienexistenz führte, erweist sich nun auch seine Herrschaft als Phantom. Vielleicht haben sich auch die realistisch denkenden Anhänger, die Niederlage von Anfang an vor Augen, ganz einfach unter die Zivilbevölkerung gemischt, sind mit anderen in Zivilbekleidung aus den Städten geflohen oder haben in der Menge gestanden und die Invasoren oder Befreier begrüßt. Für die meisten Iraker dürfte die Zukunft einfach ungewiss sein. Sie müssten vermutlich schnell von der von den Siegermächten installierten Ordnung überzeugt werden, um nach dem Terror des Regimes und dem Leben unter den Bomben ein Vertrauen in die Zukunft aufbauen zu können und nicht ihre wieder entdeckte Freiheit dann gegen die Befreier zu wenden, wenn diese nur als die nächsten Unterdrücker gesehen werden.

Neben den jubelnden Irakern, die man nun auf den Bildern sieht, gibt es diejenigen, die nach dem Machtzerfall gleich versuchen, ihren Geschäften nachzugehen, beispielsweise zu plündern, so schnell und so viel es geht. Erstaunlich ist, wieviel nach den langen Bombardements noch aus den Ministerien und Regierungsgebäuden zu holen ist. Wie immer, wenn sich Diktaturen, in denen ein Menschenleben nicht viel zählt, nach langer Zeit auflösen, können sich im anfänglichen Machtvakuum Verbrecherorganisationen herausbilden. Die werden womöglich, das hat man gerade wieder anhand von Serbien gesehen, von den Spezialisten in Sachen und Gewalt gefördert und geschaffen, während in den neuen Herrschaftsapparat, der schnell aufgezogen werden muss, um Chaos, Unsicherheit und Unruhen zu bändigen, ebenfalls Mitglieder des alten Machtapparates rücken.

Auch wenn eine Entsaddamifizierung unter den hohen Mitgliedern bald stattfinden sollte, dürfte an der "Basis" ein Großteil der alten Strukturen auf der einen oder anderen Seite des erst noch einzuführenden Gesetzes weiterleben. Das, und die möglicherweise nur vorübergehend untergetauchten harten Anhänger des Regimes mitsamt radikalen Muslims und Nationalisten, könnten die Stabilität einer demokratischen Regierung lange Zeit gefährden. Möglicherweise beginnt der "wirkliche" Krieg erst mit dem scheinbaren Sieg - und zieht sich über Jahre hin (dann aber ohne die Anwesenheit von Hunderten von Reportern und einer 24-stündigen Berichterstattung). Ein gutes Beispiel dafür ist Afghanistan, das aber hat freilich auch nicht so viel zu bieten wie der ölreiche Irak.

Ein US-Panzerwagen kippte, nachdem Iraker und Soldaten mit großen Anstrengungen versucht hatten, ein Seil um sie zu legen, die riesige Hussein-Statue am al-Fardu-Platz um. Deren Kopf war zuerst in eine amerikanische und dann in eine irakische Flagge gehüllt worden. Symbolisch ist damit, mitten in Bagdad (und vor dem Palestine-Hotel, also vor den Kameras der versammelten Presse), der Herrscher entmachtet und mit dem fast archaischen Bildersturm gedemütigt worden. Der Platz ist frei für die nächsten Herrscher. Diese Aktion ist so symbolisch wie bislang der ganze Krieg - trotz Live-Berichten und zahlreichen Toten. Noch hält man sich in Washington und beim Hauptkommando mit Siegesmeldungen zurück. Brigadegeneral Vincent Brooks sagte vorsichtig in Katar: "The capital city is now one of those areas that has been added to the list of where the regime does not have control."

Tatsächlich ist dieser Auflösung des Regimes noch nicht wirklich zu trauen. Die Frage wird dennoch sein, ob nach dem bereits ein wenig missglückten "Shock-and-Awe"-Beginn nun auch das Finale nach dem schnellen Marsch auf Bagdad und in die Höhle des Bösen wenig eindrucksvoll bleiben wird. Sollte sich auch im Norden das Regime mit Ankunft der Bodentruppen weiter wie bisher auflösen, so entsteht die Frage, welches Ereignis man als Kriegsende bezeichnen will. Sollte es nicht doch noch zum Finale um Tikrit kommen und Hussein damit Bush helfen würde, diesen Medienkrieg, bei dem von Anfang an militärische und mediale Ziele verschweißt wurden, zu einem spannenden und spektakulären Abschluss zu verhelfen, so könnte der Krieg sich ebenso zerfasern, wie sich das Regime aufgelöst hat.

Das war auch bereits in Afghanistan ein Problem. Zweifellos wurde die Einnahme von Kabul als Höhepunkt und Finale gesehen, mit einer Endschlacht vielleicht in Tora Bora. Dort aber konnten sich die meisten der al-Qaida-Kämpfer und wahrscheinlich auch Bin Laden davonschleichen. Seitdem ist nur Kabul in der Hand der etablierten Regierung, der Rest des Landes steht wie eh und je unter der Herrschaft von Warlords. Auch als weltweiter Hauptexporteur von Opium und Heroin hat sich Afghanistan wieder behauptet. Der Hauptschurke, dessen Tötung oder Festnahme aber wichtig für einen Erfolg gewesen wäre, ist verschwunden und meldet sich nur hier und da über die Medien, wenn dies wirklich Bin Laden ist. Schnell hatte die US-Regierung, mediengerecht auf Personalisierung setzend, zum Helden des neuen Dramas den alten Schurken Saddam Hussein aufgebaut. Er verkörperte das Regime. Und wenn nun auch dieses Mal wieder der Böse mit den meisten seiner hohen Regimeanhänger untertaucht und von der Bühne verschwindet, gehen möglicherweise die großen Darsteller des Bösen allmählich aus.

Anbieten würde sich, zynisch gesprochen, weniger Syrien oder der Iran, sondern wohl am ehesten Nordkoreas Herrscher Kim Jong Il. Dieser herrscht tatsächlich noch brutal über ein Reich des Dunklen, von dem man wenig weiß und das ähnlich isoliert ist wie der Irak. Ausgeprägt wie bei Saddam ist aber auch der Persönlichkeitskult. Es gäbe also viel symbolisch zu zerstören. Auch wenn das Land ähnlich verarmt wie der Irak und Afghanistan ist, so scheint es noch über eine große Armee und tatsächlich ein Arsenal von Massenvernichtungswaffen einschließlich von Trägerraketen zu verfügen. Bislang stand es daher wohl nicht wirklich auf der Liste der Staaten, denen man sich nach dem Irak zuwenden wollte. Aber auch die Gefährlichkeit dieses Regimes könnte nur ein Phantom sein. Vielleicht würde es, trotz der lauten Warnungen, ebenfalls ganz schnell zerfallen.