Die Verlindenstraßung der Weltpolitik

Kitsch als Leitmotiv - vom Kosovo bis nach Syrien

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Politik kann von vielerlei Interessen gesteuert sein: von der Suche nach neuen Märkten und Rohstoffen, von Ideologie, Religion oder purem Machtstreben wie in der Serie House of Cards. Das alles ist wohlbekannt. Eine Ursache politischen Handelns wird aber häufig vergessen, obwohl sie gerade seit den 1990er Jahren eine sehr bedeutende weltpolitische Rolle spielt: Kitschige Wunschträume, deren Träumer meinen, sie könnten sich die Welt abseits gegebener Realitäten machen, wie sie ihnen gefällt.

Besonders auffällig war das Leitmotiv Kitsch beim Kosovokrieg: Hier machten deutsche und amerikanische Politiker ein Land selbständig, in dem für kritischere Beobachter absehbar war, dass im Falle einer Selbständigkeit die Organisierte Kriminalität die Macht übernehmen würde - was dann auch geschah:

Eine als "Verschlusssache" eingestufte Studie des Instituts für Europäische Politik (IEP) kam Anfang 2007 zu dem Ergebnis, dass der Kosovo "fest in der Hand der Organisierten Kriminalität" sei, die "weitgehende Kontrolle über den Regierungsapparat" habe. Der Bericht führt aus, wie "parallel zum öffentlichen Ordnungswesen" die "Dominanz des clanbasierten und auf den Grundprinzipien patriarchaler Altersautorität fußenden Herrschaftssystems" wuchs, während der NATO-Angriffe einen "exponentiellen Machtzuwachs erfuhr und nach dem Zusammenbruch der jugoslawischen Ordnung zur alleinigen gesellschaftlichen Autorität im Kosovo avancierte". Anschließend kam es zur:

Herausbildung von clangesteuerten politkriminellen Netzwerken, die seither maßgeblich die ökonomischen Geschicke des Kosovo kontrollieren und konkurrierende legal aufwachsende Strukturen notfalls mit Waffengewalt eliminieren [...] Unter dem Deckmantel der Etablierung politischer Parteien verfestigten rivalisierende Clans [ihre] Machtstrukturen und konnten in Folge mehrerer Wahlen sowie aufgrund der politischen Anerkennung seitens internationaler Institutionen wie UNMIK und KFOR eine bislang unübertroffene Machtfülle erlangen.

Der "faktische Zusammenbruch der Strafverfolgung" nach 1999 machte aus der ehemaligen serbischen Provinz einen "idealen Rückzugsraum für kriminelle Akteure" und für Geldwäsche. Die Kosovo Fact Finding Mission der EU stufte den Justizsektor 2006 als "extremly weak and unable to deliver a proper service".

Der Aufbau einer funktionierenden Justiz scheiterte im Kosovo an Bestechung, Einschüchterung, Clanwirtschaft und dem informellen Kanun-Recht, dessen Problematik lange vor der NATO-Operation bekannt war: Der Kanun trägt ein gewaltlegitimierendes Ehrkonzept ("Besa") und die Pflicht zur Blutrache ("Gjakmaria") im Mittelpunkt. Die Vorstellung, dass er mit der Zeit von alleine verschwinden würde, stellte sich als verhängnisvolle Fehlspekulation heraus: Er ist kein archaisches Recht, sondern entstand erst zu Beginn der osmanischen Besatzungszeit. Dort bildete er ein Gegen- bzw. ein Parallelrecht zum offiziellen osmanischen Recht. Dieses 500jährige Gedeihen im Schatten einer anderen Rechtsordnung ließ Fachkundigen schon vor 1999 Vorstellungen fragwürdig erscheinen, dass die Bevölkerung ohne weiteres Zutun eine mit der westlichen Welt kompatible Rechtsordnung übernehmen würde. Die IEP-Studie befand zur Rolle des Kanun im Kosovo:

Die Dominanz dieser Rechtspraxis erstickt dabei jedweden S[ecurity]S[ystem]R[eform]-Prozess im Keim, da die Regeln des Kanun bereits vom Ansatz her einer Etablierung rechtsstaatlicher und demokratischer Strukturen zuwider laufen.

Kein Wunder also, dass der IEP-Bericht in bemerkenswert klaren Worten von einer "groteske[n] Realitätsverweigerung seitens der Internationalen Gemeinschaft" sprach

Irak, Syrien, Libyen

Dass sich das Leitmotiv Kitsch nicht in die alten Kategorien "links" und "rechts" einordnen lässt, zeigte der Irakkrieg besonders deutlich: Dort drängten im US-Kongress neben Demokraten, die schon im Kosovokrieg eine humanitäre Intervention ohne Blick auf die realen Gegebenheiten befürwortet hatten, vor allem so genannte Neocons aus der Republikanischen Partei auf einen künstlich herbeigeführten Regimewechsel, der ihrer Wunschvorstellung nach dazu führen sollte, dass der Irak eine Demokratie nach US-Vorbild wird, die so gut funktioniert, dass sie auf alle Länder in der Umgebung ausstrahlt und dort zu einem ähnlichen Wandel führt.

Wie naiv diese Vorstellung war, zeigte sich bereits relativ kurz, nachdem die US-Armee einmarschiert war: Die Iraker machten nämlich wenig Anstalten, sich wie Quasi-Amerikaner zu benehmen, für die der Unterschied zwischen Sunnit und Schiit in der Politik so unbedeutend ist wie der zwischen Baptist und Presbyterianer. Und so kam es, dass die US-Truppen in den Nuller Jahren sowohl von schiitischen als auch von sunnitischen Milizen bekämpft wurden. Die kurze Ruhe, die man sich mit Geldzahlungen an sunnitische Stammesführer erkaufte, endete, als der schiitische Wahlsieger Nuri al-Maliki das Land wie ein Schiitistan regierte, dem ein sunnitisches Gebiet als Kriegsbeute zugeschlagen worden war.

Diese Entwicklung hätte man absehen können, wenn man einen halbwegs kitschfreien Blick auf die Identitäten und Axiome der Bevölkerung des Irak geworfen und sich eingestanden hätte, dass sich diese nicht nach Belieben und von Heute auf Morgen ändern lassen. Doch weil der Kitsch den klaren Blick getrübt hatte, kontrollieren heute sunnitische Dschihadisten den Westen des Irak, wo sie Andersgläubige und Säkulare vertreiben und auf extrem grausame Weise massenmorden. Dass es dazu kam, liegt auch daran, dass der Westen in Syrien ebenfalls einen Regimewechsel anstrebte und es zuließ, dass Geldgeber aus Saudi-Arabien, Katar und der Türkei Salafisten bezahlten, die sich im Osten Syriens eine Machtbasis aufbauen konnten, welche ihnen aus Bodenschätzen und "Steuern" ein ständiges Staatseinkommen sicherte, mit dem sie ihre militärische Expansion finanzierten.

Dass diese Expansion funktioniert, liegt aber auch daran, dass die Konfessionen in Syrien eine ähnlich wichtige Rolle spielen wie im Irak - und dass viele Sunniten gar nichts dagegen haben, wenn der Islamische Staat (IS) Christen, Alawiten und Jesiden die Köpfe abschneidet. Die "demokratische Opposition", auf die man in Syrien spekulierte, erwies sich dagegen als Blase, deren Oberfläche aus einigen wenigen Intellektuellen bestand.

Der in Syrien und im Irak groß gewordene IS hat sich mittlerweile bis nach Libyen ausgebreitet, wo die vom Westen installierte Regierung aus Tripolis nach Tobruk fliehen musste. In dem nordafrikanischen Land hatte die NATO 2011 mit dem Argument des Schutzes von Zivilisten so lange Regierungseinrichtungen bombardiert, bis Staatschef Muammar al-Gaddafi anal gepfählt wurde. Und auch dort konnte man schon vorab erkennen, dass sich die Wunschräume westlicher Regimewechsler angesichts der Gegebenheiten im Land wahrscheinlich nicht erfüllen würden.

Die Geo-Redakteurin Gabriele Riedle, die sich bis zum Ausbruch des Umsturzes von 2011 in Libyen aufhielt, meinte nach ihrer Rückkehr nach Deutschland, dass sie keinen einzigen Libyer getroffen habe, der von Demokratie redete. Ihrer Wahrnehmung nach spielten beim Aufstand regionale Zusammengehörigkeitsgefühle und eine Eigendynamik der Rache die wichtigste Rolle: "Einer schießt, dann gibt es wütende Trauer, dann wird noch mehr geschossen, so eskaliert das."

Riedle, die damals explizit schrieb, dass der westliche Reflex "Protest ist gut und das bringt Demokratie" lediglich Wunschdenken ist, war allerdings eine Ausnahme in deutschen Medien. Die meisten Leitartikel und Kommentare zu den oben genannten Ländern lasen sich nämlich wie Landpfarrerpredigten aus dem 19. Jahrhundert - und nicht wie nüchterne Analysen. Möglicherweise liegt der Kern des Problems deshalb gar nicht unmittelbar in der Politik, sondern eine Stufe davor: In verlindenstraßten Medien, die im Kitsch erstarrt sind.

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