Die Wahl des Westens

Der ukrainische Oppositionsführer Wiktor Juschtschenko kündigte schon vor der wiederholten Stichwahl am Sonntag an, nur den eigenen Sieg zu akzeptieren. Im Westen wird ein solches Vorgehen durchaus akzeptiert

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Vier Tage vor der Wiederholung der Stichwahl um das Präsidentenamt in der Ukraine bot Oppositionsführer Wiktor Juschtschenko noch einmal alles auf. 80 000 Menschen waren dem Oberhaupt der "orangenen Revolution" am Mittwoch vor dem Urnengang noch einmal auf den Kiewer Unabhängigkeitsplatz gefolgt. Dabei gab sich Juschtschenko siegessicher. Die Oppositionsbewegung habe "den Sieg bereits errungen", erklärte er seinen Anhängern. "Versammelt euch, so dass es keine Chance zum Wahlbetrug oder zur Störung der Wahlen geben wird". Ein anderes Ergebnis als den Sieg der Opposition, so die Botschaft, komme einem erneuten Wahlbetrug gleich.

Nicht nur in der westlichen Presse wurde Juschtschenko über Wochen hinweg als "der europäische Kandidat", sein Gegner Wiktor Janukowitsch hingegen als "der pro-russische Politiker" präsentiert. Auch auf politischer Ebene nahm man zuletzt kein Blatt mehr vor den Mund. So zitierte das in Warschau erscheinende Politmagazin "Politika" den polnischen Ministerpräsidenten Aleksander Kwasniewski mit einer diplomatisch höchst brisanten Positionsnahme. Ein Russland ohne die Ukraine sei besser als ein Russland mit der Ukraine, so Kwasniewski, der zusammen mit EU-Chefdiplomat Javier Solana und dem Vorsitzenden der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), Jan Kubis, als internationaler Vermittler in die ukrainische Staatskrise eingreifen sollte.

In einer durch solche Interventionen angeheizten Stimmung waren die Wähler in der Ukraine am Sonntag zum dritten Mal binnen weniger Wochen zur Wahl des Staatsoberhauptes aufgerufen. Die erste Stichwahl vom 21. November war von dem Obersten Gerichtshof Anfang Dezember unter dem Druck der Oppositionsbewegung annulliert worden. Damals hatte Janukowitsch angeblich mit 49,2 Prozent der abgegebenen Stimmen gewonnen, Juschtschenko habe nur 46,7 Prozent erhalten. Erst nach massiven Protesten war der vermeintliche Wahlsieger Janukowitsch beurlaubt worden. Die Amtsgeschäfte werden seither von dem bisherigen Präsidenten Leonid Kutschma weitergeführt. Dieser sprach sich am Freitag in einer Fernsehansprache für einen "vorsichtigen Wandel" in der Ukraine aus. Kutschma ging deutlich auf Distanz zu beiden Kandidaten. Diese hätten dem Gegner jeweils alle Probleme zugeschoben, beklagte Kutschma - "echte und eingebildete".

Demokratieverstöße auf beiden Seiten

Ohne Zweifel ist die Wiederholung der Stichwahl in der Ukraine gerechtfertigt. Im Verlauf der Stichwahl am 21. November waren Einflussnahmen zugunsten des "offiziellen" Kandidaten Janukowitsch von mehreren Seiten bestätigt worden. Als Eigentor für Janukowitsch entpuppte sich dabei vor allem der Druck auf die Presse. Mehrere oppositionelle Sender hatten mit Berichten über Drohungen gegen sie die Unterstützung für die Oppositionsbewegung nur noch steigern können. Politisch motiviert waren wohl auch die Entlassungen von Verwaltungschefs, aus deren Gebieten Ende November oppositionelle Mehrheiten gemeldet worden waren. Weil damals auch kritische Wahlhelfer eingeschüchtert worden sein sollen, wurde der nun wiederholte Urnengang von einer massiven internationalen Präsenz begleitet. Gut 12 000 Wahlhelfer waren am Sonntag in der Ukraine anwesend, allein die OSZE entsandte 1400 Mitarbeiter.

Weitgehend übergangen werden sowohl in der westlichen Presse wie auch in der Politik die zweifelhaften Manöver Juschtschenkos. Wenn dieser vier Tage vor den Wahlen deren Ergebnis quasi vorausnimmt, kommt das in der polarisierten Situation de facto einem Aufruf zur Gewalt gleich. Nicht ohne Grund existiert in zahlreichen parlamentarischen Systemen eine Friedenspflicht vor den Wahlen. In Spanien etwa dürfen in der Woche vor einem Wahltermin noch nicht einmal mehr Umfrageergebnisse veröffentlicht werden. Nicht so in der Ukraine. Hier rief Juschtschenko seine Anhänger zu einer Großdemonstration am Wahlabend auf, um gleichzeitig – als präventive Schuldzuweisung – vor Übergriffen "aus dem Regierungslager" zu warnen. Die Prognose zwischen einem Sieg der Opposition oder durch Janukowitschs Anhänger geschürte Zusammenstöße hat sich aber auch in westlichen Medien etabliert. Stellvertretend für die hier vorherrschende Tendenz traf auch "Spiegel Online" in einem Vorwahlbericht die Voraussage von einer "Siegesparty oder Krawallen".

Zunehmende Nervosität in Moskau

Deutlich verschlechtert hat sich angesichts solcher Positionen das Verhältnis zwischen Russland und der Europäischen Union. Kurz vor den Wahlen wiederholte der russische Präsident Wladimir Putin seinen jüngst häufiger vorgebrachten Vorwurf, der Westen wolle Russland isolieren. Den Anlass zu Putins Kritik gaben die Äußerungen des polnischen Präsidenten Kwasniewski.

Wenn wir (Kwasniewskis Aussage) als Bestreben interpretieren, Russlands Möglichkeiten zur Entwicklung guter nachbarschaftlicher Beziehungen einzuschränken, so wäre dies mit dem Wunsch gleichzusetzen, die Russische Föderation zu isolieren

Wladimir Putin Entgegnung auf die Äußerung Aleksander Kwasniewskis in der Zeitschrift "Politika"

Solche Stellungnahmen waren angesichts der Annäherung zwischen Russland und der Europäischen Union noch vor wenigen Monaten undenkbar gewesen. Schon während eines bilateralen Gipfels zu Beginn der Ukraine-Krise in Den Haag aber zeigte sich eine Stagnation in der Beziehung. So dürfte die Positionsnahme der EU in der Ukraine mittel- und langfristige Folgen auf den Kooperationswillen Moskaus haben. Diese Meinung vertritt auch Igor Maximytschew, der Ende der achtziger Jahre als sowjetischer Gesandter an der Botschaft in Ost-Berlin tätig war.

Viele Menschen in Russland kommen zu der Schlussfolgerung, der Westen wolle kein einflussreiches Russland und werde deshalb alles einsetzen, um den Prozess seiner Erneuerung zu erschweren.

Sowjetischer Ex-Diplomat Igor Maximytschew

Wenn es dem so sei, würde die Überwindung der Ost-West-Spaltung, die 1990 in greifbarer Nähe zu liegen schien, in weite Ferne rücken. Maximytschews Ansicht ist kein Einzelfall. Seit die EU erstmals eine Krise in Osteuropa durch ihr konzertiertes Vorgehen beeinflusst hat, haben in Moskau die nationalistischen Stimmen wieder zugenommen. Einmal mehr fürchten viele Entscheidungsträger, vom Westen eingekreist zu werden. Während seiner Jahrespressekonferenz zog Putin daher erste Konsequenzen. Auch die westliche Kritik an der Kriegspolitik Moskaus gegenüber der tschetschenischen Separatistenbewegung, so Putin, sei wohl auf einen Plan zur politischen Isolierung zurückzuführen.