Die Welt im Glashaus

Crystal Palace, London; Hyde Park, 1851. Bild: Alonso de Mendoza / CC-BY-SA-3.0

Die Umbrüche im Verhältnis von Mensch, Maschine und Natur spiegeln sich in der Architektur aus Eisen und Glas wider - Teil 1

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

"Eisen, Eisen, nichts als Eisen!", rief Baron Haussmann, nachdem ein erster Versuch, neue Markthallen mit konventionellen Mitteln aufzubauen, gescheitert war. Es war um die Mitte des 19. Jahrhunderts, als Paris hygienisch bereinigt und militärstrategisch begradigt werden sollte. Die neuen Boulevards wurden begrünt, und der "Bauch von Paris", wie Zola die "Grandes Halles" nannte, erstreckte sich über zwei Gruppen von Pavillons, die durch überdachte Straßen miteinander verbunden waren. Die geräumige Anlage ließ Licht und Luft ein. Als zur gleichen Zeit in Paris Bahnhöfe, Bibliotheken und Kaufhäuser errichtet wurden, war die "Eisenzeit" bereits voll im Gange. Sie entwickelte sich aus dem Gewächshausbau. So kommt zum eisernen das gläserne Zeitalter.

Im Mittelpunkt steht die gusseiserne Säule. Besonders in der Anfangs- und in der Endzeit, was ungefähr die Zeitspanne des 19. Jahrhunderts umfasst, war sie antiken Vorbildern nachempfunden: dorisch oder pompejanisch. Dabei war ihre erste Stellung sehr diskret. Wenn sie steinerne Gebäude stützte, war sie von der Wand zurückgezogen. Das war die eigentliche, nicht nur technische Revolution: die Trennung von Stütze und Wand.

Die Wand war von der tragenden Funktion befreit, und die Konstruktion machte sich vom Grundriss unabhängig. Sie wurde zum inneren tektonischen Prinzip. Die sich von der klassizistischen Außenhaut und Raumaufteilung des Gebäudes subversiv emanzipierende Konstruktion nennt Walter Benjamin1 das Unterbewusstsein der Architektur des 19. Jahrhunderts, das sich erst im 20. Jahrhundert Bahn brach und zum sichtbaren Programm der Moderne wurde.

Die Welt im Glashaus (26 Bilder)

Iron Bridge bei Coalbrookdale, 1779. Bild: Nilfanion / CC-BY-SA-4.0

Los ging es 1775-79 mit dem Bau der Coalbrookdale-Brücke über den Severn. Coalbrookdale war eine Keimzelle der Industrialisierung. Mit dem Namen sind auch die ersten Eisenschienen und die Entwicklung der Dampfmaschine verbunden. Die Bogenbrücke hatte - und hat noch - eine Spannweite von 30 m. Die nächstfolgende Gusseisenbrücke überspannte bereits 72 m.

Diese kühnen Sprünge des Fortschritts überraschten die Architekten, waren aus ihrer Sicht die Brücken doch von Baudilettanten entworfen, die nichts von Kunst verstanden. Die Konstruktion als solche wird Gestalt, und diese wird als schön empfunden. Die Architektur wurde vom Thron der Ästhetik gestoßen, um sie aus dem Geist der Ingenieurbaukunst zu erneuern. Die nüchtern berechnete Funktion von Tragegerüsten, aber auch von Produktionsmitteln wie Maschinen wurde nicht nur zur Generalform des Bauens, sondern zur Substanz von Kultur und Gesellschaft. Die Architekten liefen Gefahr, zu Dekorateuren zu verkommen. Die Reibereien zwischen beiden Berufsgruppen wirken bis heute nach.

Die Menschheit wird eine völlig neue Art von Architektur hervorbringen, sobald die von der Industrie geschaffenen Methoden angewandt werden. Die Verwendung von Eisen erlaubt, ja erzwingt viele neue Formen, die man bei Bahnhöfen, Hängebrücken und den Wölbungen von Treibhäusern sehen kann.

Théophile Gautier

Nachdem bereits im 18. Jahrhundert Versuche mit Guss- und Schmiedeeisen bei Dachstühlen gemacht worden waren, etwa beim Théatre Francais 1786, gab die Entwicklung größerer Glasscheiben dem Gewächshausbau ab den 1820er Jahren einen Schub. Heute noch stehen die Gewächshäuser des Pariser Jardin des Plantes mit ihren eisernen Rahmenständerwerken (1833). Größere Spannweiten spielten auch bei Gewächshäusern eine Rolle, denn der Lichteinfall von oben ist den Pflanzen zuträglich, besonders wenn die Kuppeln gewölbt sind und das Sonnenlicht möglichst lange senkrecht auf die Außenhaut fällt.

Royal Botanic Gardens (Kew), Palmenhaus, London 1844-48. Bild: Kohlmaier + Sartory/Archiv

Der 560 m lange Crystal Palace wurde 1851 im Londoner Hyde-Park errichtet. Der Erbauer, Joseph Paxton, war Gärtner. Er hatte sich autodidaktisch in den Gewächshausbau eingearbeitet. Nun aber beherbergte der Komplex die erste große Weltausstellung. Mischnutzungen waren jedoch einkalkuliert. Der Crystal Palace war ein transitorisches Bauwerk. Die eisernen Teile, voran die 3.300 Säulen, waren vorgefertigt und auf der Baustelle montiert worden. Ebenso leicht ließen sie sich abbauen, was dann 1854 geschah, um den Glaspalast weiter draußen wieder aufzubauen. Im Ideenwettbewerb zur Umsetzung und Umnutzung hatte C. Burton sogar ein Turmprojekt von 1000 Fuß vorgeschlagen und damit dem Hochausbau vorgegriffen. Er hatte das Prinzip der eisernen Säule erkannt: die Reihung übereinander in unendlicher Vertikale.

Eingangsportal Palmenhaus, Kew Gard. Bild: Kohlmaier + Sartory/Archiv

Die Säulen waren im Raster aufgestellt. Die Konstruktion bestand aus einem freitragenden Skelett. Etliche Bestandsbäume wurden integriert. Paxton machte die damals größtmögliche Glaslänge von 1,22 m und Breite von 30,5 cm zur Grundlage der Maßeinheit des ganzen Bauwerks.2 Erst die intermittierenden Sprossen machen den Lichteinfall atmosphärisch wahrnehmbar. Der Blick von außen auf Natur- oder Industrie-Environments und der Blick von innen auf die umgebende Landschaft sind durch geometrische Netzstrukturen gefasst, und gleichzeitig sind Innen- und Außenwelt transparent, nicht an einen Ort zu fixieren. Die künstliche Illusion rückt diese Pavillons in die Nähe von Panoramen.

Der Rausch der Waren

Die Konstruktion gerät zur Demonstration industriellen Stolzes. Sie stellt sich selbst aus und ist als solche bestens geeignet für Weltausstellungen, die die Produkte aller Länder in friedlichem Wettbewerb versammeln - weniger friedlich allerdings, wenn das deutsche Prunkstück auf der Pariser Weltausstellung von 1867 Krupps Riesenkanone war. Bei den ausgestellten jeweils neusten Produkten ging es nur vordergründig um den Gebrauchswert. Dieser ist eine Camouflage des Tauschwertes, dessen wahre Eigenschaft wiederum das ständige Mehr ist. Der Tauschwert als sich selbst verwertender Wert ist das Kapital. Diesem Kapital verleihen die ausgestellten Waren Glanz. Karl Marx nennt es den Fetisch.

Die staunenden Menschen überlassen sich dem Fetisch, indem sie die Entfremdung von sich und den anderen freudig genießen. So kommt zu Pflanze und Maschine noch die Komponente Vergnügen hinzu. Theatern, Revuen, Bällen, aber auch Bibliotheken boten die Hallen Platz, und über allem thront Diana, die Göttin des Lichts. Die Elektrizität triumphiert über das Dampfmaschinenzeitalter auf der Weltausstellung von 1900. Die Industrie schreitet voran, indem sie sich ständig selbst vernichtet. Sie verwertet auch alles, was außerhalb ihrer liegt. Die im Zuge des Kolonialismus angeeignete exotische Natur wird zu Hause exemplarisch als Paradies unter der Glasglocke neu inszeniert. Die auf Klassenspaltung beruhenden gesellschaftlichen Verhältnisse werden zur Naturform verkehrt und verklärt.

Bruno Taut: Glashaus, 1914. Bild: Public Domain

Wie das applizierte Ornament das Zeitalter des Handwerks bezeichnet, verkörpert das gegossene Metall die geronnene Arbeitszeit des Industriezeitalters. Die Zeit selbst wird abstrakt, zum unendlichen Kontinuum. Für die Verkäufer von Arbeitskraft folgt daraus, dass der Rhythmus der Maschinen das Arbeitstempo und ihr Ausstoß das Konsumtempo vorgibt. Es existierte andrerseits eine Klasse im Dazwischen, die unendlich viel Zeit hatte. Um 1840 war es Sitte, dass Flaneure in den Passagen eine Schildkröte mit sich führten, von der sie sich das Tempo vorschreiben ließen. Für die Flaneure wurde die Straße zum Interieur, zur guten Stube.

Hervorgegangen waren die Passagen - und später die Kaufhäuser - aus der Idee, die textilen Warenlager der Läden in den Ausstellungsbereich einzubeziehen. Die Passage ist eine "durch eine Zeitlücke" betretbare verführerische Ware, in der Waren gekauft werden können. Benjamin vergleicht sie mit einer Hure, die Verkäuferin und Ware in einem ist.

Die Überdachung der Straßen führt zurück zu den Markthallen, die Zola beschreibt:

Über der Stadt war alles ein Wuchern, ein Blühen, ein ungeheuerliches Entfalten von Metall, dessen spindelartig hochsteigende Stämme, dessen sich windende und einander umschlingende Äste eine Welt mit dem anmutigen Laub eines hundertjährigen Hochwaldes bedeckten.

Architekturform ist Gesellschaftsform

Sigfried Giedion3:

In einem zuvor unbekannten Ausmaß durchdringen sich im Eiffelturm Innen- und Außenraum. Die Wirkung erfährt man, wenn man von der obersten Plattform die Wendeltreppen hinuntersteigt und die aufstrebenden Linien der Konstruktion sich mit den Bäumen, Häusern, Kirchen und den Windungen der Seine überschneiden. Die Durchdringung der kontinuierlich wechselnden Blickpunkte von innen und außen, von oben und unten, erzeugt in den Augen des sich bewegenden Beobachters eine Ahnung des vierdimensionalen Raumerlebnisses.

In seiner zwecklosen Zweckmäßigkeit spricht der Eiffelturm nur für sich selbst. Andererseits nimmt er als Bekrönung der Industrialisierung das Programm der Moderne vorweg, das erst nach dem Fin de Siècle für die bildenden Künste ausformuliert worden ist. Die Konzeption des All-Raums leitete sich insbesondere vom für Fabriken verwendeten Skelettbau ab. Die tektonische Gestaltung durch Stützen ersetzte den Fassadenstil. Innen und außen waren nicht mehr durch Fassaden getrennte Sphären. sondern beliebiger Ausschnitt aus einem All-Raum. Die Architektur griff über den umbauten Raum hinaus. Sie arbeitete den abstrakten Raum heraus. So griff der Architekturraum griff auf die Gesellschaft aus.

Peter Behrens: Montagehalle für die AEG, 1912. Bild: Achim Bleicher / CC-BY-SA-3.0

Betrachtet man die bürokratische Gliederung der Betriebsstruktur, wie sie in den großen Produktionshallen der AEG organisiert war, lässt sich daraus idealiter die Gesamtarchitektur der Gesellschaft ableiten. Alle arbeiten auf einer Ebene, und über allen wacht das Auge des Meisters.4 Die Funktion der Maschinen war eine Vergesellschaftung der Dinge und Arbeiter. Die Herrschaft wurde total. Dem standen sozialhygienische Verbesserungen nicht entgegen. Licht und Luft konnten in die Fabriken eindringen. Die Fabrik, die der diskrete Vorkämpfer der Moderne, Hermann Muthesius, 1907 errichtete, war "lichtdurchflutet wie kein anderes Werk" . Durch die Anordnung der Säulen und das Dachgewölbe entsteht der Eindruck eines Kirchenschiffs.

Die ingenieurtechnisch durchdrungene Architektur jener Zeit reklamierte nicht nur den All-Raum für sich, sondern sie behauptete auch, epochal und ganzheitlich zu sein. Muthesius schrieb: Ob bürgerliches Landhaus oder Arbeiterhaus, ob Büroräume, Bahnhofshalle, Schiffsräume, die formalen Prinzipien sind die gleichen. Er versuchte das historisch mit dem Ursprung aus Hallenhäusern, gleichsam Einraumhäusern, zu legitimieren. Bruno Taut spitzte die Typisierung und Serialisierung des Bauens zu: Stall, Wohnhaus, Tisch, Kinderheim, Rathaus, Stadtkrone, Bergkrone sind für ihn Glieder einer "Kette, in der alles Kleine groß und alles Große klein wird." Eine gläserne Kette. Am Ende der Kette steht der Stern. Taut beschwört eine Architektur als kristallisiertes Abbild dort des Kosmos und hier der Menschenschichtung.

Mit dem Kristall weitet Taut das Verhältnis von Glas und Licht ins Jenseits statischer euklidischer Räume aus. Er gibt ihm eine mythologische Dimension. Am Fries seines Glaspavillons von 1914 prangten die Knittelverse: "Das Licht will durch das ganze All und ist lebendig im Kristall." Oder: "Was wäre die Konstruktion / Ohne den Eisenbeton." Das deutet zugleich auf die Weiterentwicklung von Tragwerken über Stahl bis zu Stahlbeton hin.

Demnächst Teil 2: Der Schein des Glases