Die Welt im Kriegstrauma

Eine neue Sicherheitspolitik ist notwendig

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Der schrecklichste Terrorangriff der Geschichte richtete sich am 11. September 2001 gegen die Vereinigten Staaten von Amerika. Nach Attacken von entführten Passagierflugzeugen, die auf das World Trade Center (WTC) in New York gelenkt wurden, stürzten beide Türme des Gebäudes ein. Innerhalb von zwanzig Minuten zerstörten die Flugzeuge, die von Selbstmordattentätern gelenkt wurden, das WTC. Auch ein Teil des Pentagon in Washington stand nach einem kurz darauf ausgeführten Flugzeugangriff in Flammen. Eine Verkehrsmaschine, die beim Anflug auf das Gebäude beschleunigte, bohrte sich nach Augenzeugenberichten in einem 45-Grad-Winkel in das Gebäude. In ersten Schätzungen wurden Tausende von Tote in Manhattan genannt, aber die Zahlen dürften wohl noch erheblich höher liegen. Der gesamte Süden des Stadtteils wurde evakuiert. Ein viertes Flugzeug mit Kurs auf Camp David stürzte bei Pittsburgh ab. Berichtet und später wieder dementiert wurde auch, dass in der Nähe des State Department Building in Washington eine Autobombe gezündet wurde.

"The search is underway for those who are behind these evil acts. I've directed the full resources of our intelligence and law enforcement communities to find those responsible and to bring them to justice. We will make no distinction between the terrorists who committed these acts and those who harbor them. " (US-Präsident George W. Bush)

In den Vereinigten Staaten wird die Tragödie historisch bereits als zweites Pearl Harbour markiert: Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg ist der gesamte zivile Flugverkehr vollständig eingestellt wurden. Über Washington kreisen Kampfflugzeuge, um den Luftraum vor weiteren Aktionen zu sichern. Das FBI befürchtet Folgeanschläge und im ganzen Land werden Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Alle Flüge in die USA werden nach Kanada umgeleitet. Der amerikanische Kongress, Ministerien und Bundesgebäude aller Staaten sind bereits evakuiert worden. Die Sicherheitskräfte des Landes treffen sich in Hochsicherheitsbunkern und die angespannte Lage unterscheidet sich nicht mehr von einem Kriegszustand.

Der Bürgermeister von New York, Rudolph Giuliani, versucht, die Panik einzudämmen: "Keine Stadt der Welt ist besser auf einen Terroristenanschlag vorbereitet als New York." Aber die Feststellung kommt zu spät. In New York herrscht unbeschreibliches Chaos. Menschen sprangen nach dem Anschlag in Todesangst aus den Fenstern des WTC. Der erste einstürzende Turm des Gebäudes soll 80 Krankenwagen unter seinen Trümmern beerdigt haben.

Mit dem WTC und dem Pentagon wurden nicht nur zwei Gebäude getroffen, sondern die Wahrzeichen wirtschaftlicher und militärischer Macht Amerikas. Das Pentagon gilt den Feinden der USA seit Anbeginn als die verhasste Ikone des amerikanischen Imperialismus. Auch in anderen Teilen der Welt herrscht größte Besorgnis, dass nun weitere Terrortaten folgen. Zu Recht erklärte der FDP-Experte für außenpolitische Fragen Werner Hoyer, dass die Katastrophe in New York und Washington unabsehbare Auswirkungen auf den Weltfrieden habe. Es sei bei "logistisch so hervorragend geplanten Attentaten" damit zu rechnen, dass sich Anschläge auch auf andere Staaten richten. Nach dem Anschlag hat Israel sämtliche Botschaften auf der ganzen Welt evakuiert. Auch in London wurde der zivile Flugverkehr eingestellt.

Vor allem könnten sich jetzt terroristische Nachfolgetäter ermutigt sehen, die Konfusion und Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auszunutzen. Fest steht, dass der globale Terrorismus nunmehr in einem nicht geahnten Ausmaß in das Visier der mächtigsten Militärmacht der Erde und ihrer Verbündeten gerät. Präsident Bush hat in einer ersten Ansprache bereits erklärt: "Terrorismus gegen unser Land wird keine Zukunft haben." Es besteht kein Zweifel, dass diese Erklärung bitterernst gemeint ist: "Die Burschen, die das verantwortet haben, müssen gejagt werden". Tony Blair soll geweint haben, als er erklärte: "Dieser Massenterrorismus ist das neue Übel in unserer Welt. Wir müssen dieses Übel gemeinsam ausrotten." Auf die Tränen folgen Rache und Vergeltung. Alle Staaten, die bisher als Operationsbasen für den Terrorismus genannt werden, müssen nun mit unmittelbaren Gegenmaßnahmen der USA und der Verbündeten rechnen.

Wer sind die Täter?

"Die Freiheit selbst wurde heute Morgen von einem gesichtslosen Feigling angegriffen, und die Freiheit wird verteidigt werden" erklärte Präsident Bush. Wer sind die Täter, die Drahtzieher? Haben Staaten die grausam perfekte Tat unterstützt? Die Spekulationen überschlagen sich zunächst.

Ein Fernsehsender in Abu Dhabi teilte mit, dass eine palästinensische Gruppe die Verantwortung für den Angriff übernommen habe. Der Nachrichtenagentur Reuters zufolge bekannte sich die palästinensische "Demokratische Volksfront" (DFLP) zu dem Anschlag. Ein offizieller Sprecher der Gruppe zur Befreiung Palästinas dementierte das umgehend. Auch Abdel Asis Rantisi von der radikal- islamischen Hamas wies die Verantwortung zurück: "Wir Palästinenser bekämpfen Israel und keine unschuldigen Zivilisten." Immerhin erklärte das geistige Oberhaupt der Gruppe Scheich Achmed Jassin, dass es Zeit für die USA werde, sich zu fragen, warum ihnen solche Anschläge widerfahren. Die USA hätten immer Menschen in der ganzen Welt getötet.

Diese Sprache belegt, wie Recht der ägyptische Präsident Mubarak hatte, die USA bereits vor Monaten zu warnen, dass Terrorakte in den USA nicht mehr auszuschließen sind, wenn sich die US-Regierung nicht nachhaltiger um die Deeskalation des Palästina-Israel-Konflikt bemüht. Nach den Einschätzungen der ägyptischen Regierungszeitung "El Ahram" stellte der Nahost-Konflikt längst einen amerikanisch-arabischen Konflikt dar.

Cruisemissiles auf Kabul?

Einer der Hauptverdächtigen ist Ussama bin Ladin, der bereits vor einiger Zeit angekündigt hatte, einen noch nie da gewesenen Anschlag auf die USA zu planen. Orrin Hatch republikanische Senator von Utah, erkennt in dem Terrorakt die Signatur des Topterroristen, der seit längerem als amerikanischer Staatsfeind Nr. 1 gilt. "Wir werden herausfinden, wer es war, und wir werden diese Schurken kriegen", fügt er hinzu.

Die Taliban, die seit Jahren den "Chefbankier des Terorrs" beherbergen, erklärten umgehend nach der Katastrophe, dass es nicht das Werk bin Ladins sei und verurteilten zugleich den Anschlag: "Was in den USA geschehen ist, ist nicht das Werk einfacher Bürger. Es könnte das Werk von Regierungen sein. Ussama bin Ladin kann dieses Werk nicht verrichten, und wir auch nicht", hieß es offiziell in Kabul. Aber das beschwichtigende Dementi könnte nur eine eilige Selbstschutzmaßnahme sein, die eigene Haut zu retten.

Am frühen Morgen des 12. September (Ortszeit) schlagen Bomben in der Nähe des Flughafens der afghanische Hauptstadt Kabul ein. Was zunächst nach einer CNN-Berichterstattung als US-Vergeltungsschlag erscheint, wird von der oppositionellen "Nördlichen Allianz" als Angriff auf die regierenden Taliban verantwortet. Das Weiße Haus dementiert eine Beteiligung. Aber bereits dieses Ereignis, das nicht wie eine zufällige Koinzidenz erscheint, macht deutlich, dass die Detonationswirkungen des Terroranschlags sehr weit über Amerika hinaus gehen könnten.

Die zivilisierte Welt am Scheideweg?

Offensichtlich garantiert der größte Sicherheitsapparat der Welt keinen verlässlichen Schutz gegen Terroraktionen, die in großem Stil geplant und ausgeführt werden. Andreas Riek vom Hamburger Orient-Institut spricht vom "Krieg des 21. Jahrhunderts". Der schreckliche Beleg, dass die USA selbst in ihren Herzzentren schwer verwundbar ist, könnte den Weltterrorismus ermutigen, sein schändliches Handwerk nun noch nachhaltiger fortzusetzen. Die Militär- und Verteidigungslogik unbedingter Stärke, einer technologisch abgesicherten Hegemonie hat mit dem traumatischen 11. September 2001 die Grenzen der Plausibilität überschritten. Trotz Satellitenüberwachungen, flächendeckenden Abhörmaßnahmen und einer organisatorisch hybriden Struktur von Sicherheitsvorkehrungen, die sich von NSA, CIA, FBI bis hin zu kooperativem Achsen mit privaten Unternehmen unübersehbar erstrecken, wurde dieser Angriff nicht vorhergesehen. Dabei müssen die Vorbereitungen langfristig erfolgt und viele Mittäter involviert gewesen sein, um diesen Albtraum in die Tat umzusetzen. Luftfahrtexperten gehen davon aus, dass die Anschläge sogar seit Jahren vorbereitet wurden. Auf seiner Website Air Transport Intelligence vermutet Kieran Daly, dass die Terroristen sich als Flughafenangestellte Zutritt verschafft haben. Offensichtlich ist das Ziel, sensible Sicherheitsbereiche der zivilen Luftfahrt ausreichend zu überwachen, pure Illusion. Terroristen, die rücksichtslos ihr Leben einsetzen und keine Spielregel einhalten, um ihr Vernichtungswerk zu exekutieren, sind eines der Weltübel, gegen das vollständiger Schutz nie existieren wird.

Wenn sich die Katastrophe des 11. September 2001 nicht zu einem Weltenbrand ausweiten soll, muss die Politik der bedingungslosen Stärke einer schonungslosen Revision unterzogen werden. Von diesem Ereignis könnten über die schrecklichen Folgen hinaus kettenreaktive Wirkungen ausgehen, die vieles übertreffen, was an Vernichtungsszenarien die Welt bisher beunruhigte. Die nicht auszulotende Seelenlage einer mächtigen Nation, die ohnmächtig ihre Verletzbarkeit erleben musste, droht zum globalen Pulverfass zu werden. Indes ist weniger die Angst vor der Apokalypse, die eine alte Kondition der Menschen ist, zu vergegenwärtigen, denn wenn sie kommt, endet ohnedies jede Reflektion. Der wahrscheinlichere Eingriff in das alltägliche Selbstverständnis von Gesellschaften, die sich in einem permanenten Kriegszustand wähnen, könnte zur gefährlichsten Spätfolge der sich überschlagenden Ereignisse werden.

Nach dem Trauma-Experten Leslie Carrick-Smith von der Britischen Gesellschaft für Psychologie haben die Anschläge ihr Ziel erreicht, die bestehende Weltordnung zu erschüttern. Eine Nation, die zuvor stolz war, den Golfkrieg fast ohne "body-counts" in den eigenen Reihen geführt zu haben und den Kosovo-Konflikt ohne Bodentruppeneinsätze zu beenden, beklagt nun Tausende von Ziviltoten. Bundeskanzler Gerhard Schröder spricht von einer "Kriegserklärung gegen die gesamte zivilisierte Welt". Aber obwohl diese Einschätzung so griffig klingt, darf sich die zivilisierte Welt gerade deshalb noch lange keinen Krieg aufzwingen lassen, der das Ende der zivilisierten Welt bedeuten könnte.

Die rhetorischen Überbietungen, die gegenwärtig Medien und Öffentlichkeit heiß laufen lassen, können nicht die Kategorien des Krisenmanagements sein. Allein sinnvoll kann es nur sein, deutlich zu machen, dass man sich in diesem Krieg die Gesetze des eigenen Handelns nicht aufzwingen lässt und die zivilisatorischen Prinzipien nicht über den Haufen wirft, um die nachvollziehbare Wut blind abzureagieren.

Der frühere US-Außenminister Henry Kissinger forderte eine konsequente Vergeltungsaktion: "In diesem Fall müsse es einen systematischen Angriff geben." Aber die Vergeltung, die sich nun auf Afghanistan, bin Ladin oder andere der unzähligen Terroreinheiten richten könnte, ist alles andere als eine Garantie, dass der globale Terrorismus sein Handwerk aufgibt, wie der inzwischen unlösbar erscheinende Nahost-Konflikt permanent belegt hat.

"Die Entschlossenheit dieser großen Nation wird auf die Probe gestellt. Aber wir werden der Welt zeigen, dass wir diesen Test bestehen. Gott segne Amerika," erklärte der amerikanische Präsident. Seine Besänftigung, dass man nicht blind zuschlagen werde, sollte in diesen schlimmen Stunden ein positives Zeichen sein. Aber wenn sich die "nationale Tragödie" (George W. Bush) nicht zu einer globalen ausweiten soll, muss vor allem Entschlossenheit gezeigt werden, zu einer Sicherheitspolitik zu avancieren, die das Vertrauen in eine militärstrategisch und kriegstechnologisch beherrschbare Welt gegen ein sensibleres Verständnis von Konfliktstrukturen eintauscht. Sollte Bush auf einen würdigen Platz in den Geschichtsbüchern erpicht sein, hat er jetzt seine einmalige Chance.