Die Wissenschaftstheorie fordert Open Access

Seite 4: 5. Funktionen der Journale

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Des Rätsels Lösung: Ähnlich wie Kirchen nicht der Förderung, sondern der Kontrolle der Religiosität dienen (Bekämpfung von Häretikern und Volksaberglauben), sind die wichtigsten Journalfunktionen nicht mit der Förderung, sondern mit der Kontrolle der Kommunikation verbunden:

  • Dem Journalwesen wird vielfach die Funktion der Archivierung wissenschaftlicher Leistungen zugeschrieben. Über dieses behauptete Funktionsmonopol ließe sich streiten: Auch Patente, Briefe, Artefakte (wissenschaftlichen Geräte, Produkte) und das in den Wissenschaftlerkörpern gespeicherte "implizite Wissen" (Michael Polanyi) sind unverzichtbar, wenn wir wissenschaftliche Leistungen nachvollziehen oder gar nutzen wollen. Bücher basieren meist auf dem Zusammentragen verstreut publizierter Beiträge eines Autors oder zu einem Thema und deren Integration - in Verbindung mit Registererschließung bislang die klassischen Wissensarchive schlechthin.
  • Die wichtigste Funktionszuschreibung besteht wohl (im Monopol) der Qualitätskontrolle. Die Hardliner-Meinung: Nur referierte Journalaufsätze seien für die Bewertung wissenschaftlicher Leistungen relevant. Dabei übersehen sie, dass Verlage von Welt auch Buchmanuskripte begutachten lassen und zahlreiche wissenschaftliche Gesellschaften die Vortrags-Einreichungen zu Kongressen bzw. deren Proceedings. Die einzig mögliche Garantie für die Qualitätskontrolle sei das "Peer-Review-System" der Verlage. Doch ein einheitliches Prüfsystem gibt es nicht. Zu willkürlich unterschiedlich und unterschiedlich willkürlich sind die Prozeduren beim Referieren bzw. Editieren. Sie werden im Übrigen ehrenamtlich von WissenschaftlerInnen vorgenommen. Und recht pessimistisch hinsichtlich ihrer Funktionstüchtigkeit sind zahlreiche Befunde der Peer-Review-Forschung (vg. Fröhlich 2002a, 2006b, 2008).

Als weitere wichtige Journalfunktionen sehe ich an:

  • die Rationalisierung oft erbitterter Prioritätsstreitigkeiten. Berief man sich vordem auf persönliche Zeugen oder deponierte bei Akademien versiegelte Kuverts (um Konkurrenten nicht auf die richtige Spur zu führen), erwies sich seit dem 17. Jh. das Datum der Erstveröffentlichung als wesentlich sinnvolleres Kriterium für Priorität. Es verpflichtete zur Veröffentlichung der Ergebnisse und förderte so die weitere wissenschaftliche Entwicklung.
  • Unterstützung bei der Herausbildung und Durchsetzung neuer Fächer, Spezialdisziplinen und Paradigmen (wissenschaftlicher Schulen). In Universitäten konnten neue Fächer und Theorien, meist von Privatdozenten und Extraordinarien vertreten, oft erst nach langer Verzögerung Fuß fassen. Nicht selten sind etablierte Wissenschaftler Gegner grundlegender Innovationen - denn diese entwerten ihre eigenen Investitionen, d.h. Theorien, Modelle, Methoden. In ihren eigenen Journalen und Organen ließen sie konkurrierende Ansätze oft nicht zu Wort kommen. Die Gründung eigener Gesellschaften und Zeitschriften brachte den Innovatoren den Durchbruch (vgl. Fröhlich 2002b und dort zitierte Literatur).
  • Schaffung und Fortschreibung von Hierarchien. Experten vermuten die aktuelle weltweite Zahl wissenschaftlicher Journale irgendwo zwischen 50 000 und 500 000. Letztere Schätzung dürfte wohl auch Jahrbücher, Newsletter wissenschaftlicher Vereinigungen, Nebenreihen und elektronische Journale umfassen. Nur etwa 8000 Journalen rühmen sich, von den Zitationsdatenbanken der Firma "Thomson Reuters" erfasst zu werden. Für ihre natur- und sozialwissenschaftlichen Vertreter werden jährlich "Journal Impact Faktoren (JIFs)" berechnet, welche die durchschnittliche Zitation je Artikel in den beiden Jahren zuvor repräsentieren sollen. Diese JIFs sind zu primären Attraktoren von Autoren, Herausgebern und Verlegern geworden. Pointiert formuliert: Ob ein Journal tatsächlich gelesen wird, wird zunehmend belanglos. Ob es in den ersten zwei Jahren nach seinem Erscheinen häufig zitiert wird, wird hingegen immer wichtiger.

Bei einem Einzelbeitrag wird es nicht nur zunehmend irrelevant, ob er gelesen wird, sondern auch, ob er bloß zitiert wird: Von Relevanz ist bloß sein Erscheinen in einem referierten und durchschnittlich stark zitierten Journal. Denn statt tatsächlich den article impact, d.h. die Zitationen des Einzelbeitrags zu eruieren (aufwändig und teuer), multiplizieren Evaluatoren lieber die Zahl der Aufsätze eines Wissenschaftlers mit den Journal-Impact-Faktor-Werten ihrer Publikationsorte (= Journale). Auf Basis solcher Milchmädchenrechnungen habilitiert manfrau sich heutzutage in Ökonomie und Medizin (auf die vielen Dysfunktionen qualitativer und quantitativer Journalevaluation und auf mögliche Reformvorschläge kann ich hier nicht eingehen, vgl. dazu Fröhlich 199b, 2002a, 2006b, 2008).