Die Zerstörung der "X-Men"

Bild: © Twentieth Century Fox

Hollywoods neuester Gestaltwandel: "Dark Phoenix" ist ein gelungener Abschluss, bevor das X ein U wird, und die Mutanten-Helden neu geboren werden

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Mutation. It is the key to our Evolution. It has enabled us to evolve from a single cell organism into the dominant species on the planet. This process is slow, normally taking thousands and thousands of years. But every few hundred Millania, evolution leaps forward.

X-Men 2000, Beginn

Eine junge Frau tötet ihre beste Freundin. Sie kann sich selbst nicht kontrollieren. Eines Tages verschwindet die junge Frau spurlos, um kurze Zeit später dann wiederaufzutauchen, aber radikal verändert und für ihre Freunde bald kaum noch wiederzuerkennen. Eine Gehirnwäsche? Eine Krankheit? Hysterie? Pubertät? "Otherness", die von der normierten Mehrheitsgesellschaft nicht mehr akzeptiert wird?

Man könnte die ganze Geschichte der "X-Men" mit Begriffen aus unserem normalen Leben beschreiben, und es ergibt einigen Sinn, die Story von "Dark Phoenix", dem neuesten - siebten, nach manchen Zählungen auch zwölften - Kinoabenteuer der Gruppe, genau so und außerdem vor dem Hintergrund der allerneuesten Debatten um Sexismus und Weiblichkeit zu verstehen, also als populärmythologische Verbrämung der Selbstermächtigung ("Empowerment") einer jungen Frau.

Selbstverständlich ist dies zugleich auch einfach ein Beispiel für Unterhaltungskino mit tieferer Bedeutung und in diesem Fall auf einigermaßen überdurchschnittlichem Niveau. Zugleich belegt auch dieser Film auf zahlreichen Ebenen, was Drehli Robnik, österreichischer Filmwissenschaftler und Herausgeber des brandneuen Sammelbandes "Put the X in PolitiX", der ersten deutschsprachigen Buchveröffentlichung zur X-Men-Reihe, in seiner Einleitung schreibt: "X-Men"-Filme seien "ganz gewöhnliche Filme."

Sie sind, schreibt Robnik weiter, damit auch ganz gewöhnliche Fan-Vehikel. Aus Franchise wird "Fan Scheiß". Zugleich aber führt er aus, dass da gerade in dieser Reihe mehr ist, dass das Wahrnehmen lohnt: "Im Wahrnehmen zu denken geben uns X-Men-Filme das Wirkliche von Beziehungen." Es geht in den Filmen einerseits um Beziehungen zwischen heroischer Überhöhung und Solidarität und um den dialektischen Konflikt zwischen individueller Tat und Gruppe.

X-Men: Dark Phoenix (11 Bilder)

Bild: © Twentieth Century Fox

Die X-Men, das weiß man nach den bisherigen Filmen, sind keine gewöhnlichen Superhelden. Sie sind "Mutanten", also menschenähnliche Wesen mit verschiedenen sehr individuellen Sonderbegabungen. Es ist immer das eigentliche Thema der "X-Men" gewesen, wie Lebewesen mit denen umgehen, die sie als "anders" und "fremd" charakterisieren, die sie ausgrenzen wollen. Und wie sie dabei sich selbst sehen, wie sie also selbst mit dem umgehen, was sie sind, wie sie ihre besonderen Gaben gebrauchen, steuern, kontrollieren. Denn die besondere Begabung ist hier immer zugleich Chance wie Gefahr.

Viele der bekannten Figuren und Darsteller aus den letzten Filmen - Michael Fassbender als durch die Shoah traumatisierter und von Rachephantasien erfüllter, jüdischer Superheld ("J-Man") "Magneto", James McAvoy als der an den Rollstuhl gefesselte Telepath Dr.Xavier, der eine internatsähnliche Mutantenschule leitet, die "School for Gifted Youngsters", oder die "Gestaltwandlerin" Mystique (Jennifer Lawrence) - kommen auch in dieser in den frühen 1990er Jahren angesiedelten Fortsetzung der Serie wieder vor.

Zugleich konzentriert sich "Dark Phoenix" auf eine Figur und deren Schicksal: Die bei Fans besonders beliebte Jean Grey (Sophie Turner), die zunächst in Xaviers Schule aufwächst, dann aber im Weltraum durch eine Sonneneruption mit bösen kosmischen Kräften infiziert, verändert und zum "dunklen Phoenix" wird - deren nun unkontrollierbare Kräfte (im Marvel-Universum handelt es sich bei der "Phoenix-Kraft" um eine urgewaltige kosmische Entität in Form des flammenden Raubvogels) werden auch für die X-Men zur Bedrohung. Erst recht, nachdem auch Außerirdische wie die mysteriöse Vuk (Jessica Chastain) an der besonders ausgestatteten Mutantin interessiert sind...

Wieder einmal muss sich also ein Charakter entscheiden, welcher Seite er zugehören will. In gewisser Weise befinden sich alle X-Men in demselben Dilemma. Vor allem Xavier ist in Gefahr, sich durch die Nähe zur Macht verführen zu lassen.

Seine Mutantenschule übernimmt Katastrophenhilfe und Politikberatung mit direkter Telefonleitung zum US-Präsidenten - in der Hoffnung im Austausch mit gesellschaftlicher Anerkennung belohnt zu werden. Das Dilemma gilt für die meisten X-Men. Ganz frei ist auch "Dark Phoenix" aber in ihrer Entscheidung nicht. Gähn? Klischee? Keineswegs. Man muss nur die Bilder lesen lernen...

Das X als weiße Fläche für alle Formen der Projektion

Das was die X-Men seit jeher von anderen Superhelden-Franchises unterscheiden, ist eben das X. "The O stands for nothing" heißt es prominent (denn es war offenbar Hitchcocks Rache am Produzenten David O. Selznik) in Alfred Hitchcocks bestem Film, "North by Northwest" (1958). "The X stands for everything", könnte man analog in diesem Fall formulieren.

Die Mutanten dieses Universums sind plural, offen, multikulti; sie fungieren als eine weiße Fläche für alle Formen von Projektion. In ihrer X-Beliebigkeit (politisch weitaus korrekter formuliert: ihrer "Diversität") wenden sie sich an alle, die sich in der postmodernen Gesellschaft ausgegrenzt und unterdrückt fühlen. Mit anderen Worten: an die Mehrheit.

Gerade die X-Men - die dienstältesten aktiven Superhelden - sind eine der interessantesten, klügsten, facettenreichsten unter den bekannten Comic- und Superhelden-Reihen. Spezifisch gemeint ist in dieser Reihe mit dem X die Anerkennung der Kontingenz, der Unbestimmtheit, der neuen Unübersichtlichkeit in der Politik.

Die X-Men Filme stecken oder stellen das X in die Politik. Sie machten damit vor etwa 20 Jahren bereits genau das, was progressive linke Politik heute immer noch meist erfolglos versucht. Das X ist ein viel besseres Symbol als jedes Gendersternchen. Es geht hier nicht um Reinigung, Purifizierung, sondern um das Gegenteil: In puritanischen Zeiten verwirrt das X. Es ist schmutzig, unklar, unentschieden. Die Eindeutigkeit wird ausge-ixt.

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