Die "bösen Meister" werden sich in Zukunft vermehren

Ein Gespräch mit dem italienischen Philosophen Antonio Negri

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Antonio Negri - eine Revolte, die nicht endet heißt ein Film von Alexandra Weltz und Andreas Pichler, der am 19.11. 2004 um 22.15 Uhr auf Arte gezeigt wird. Damit wird erstmals das Leben des italienischen Philosophen Antonio Negri dokumentiert, der in den letzten Jahren mit "Empire" (Es rappelt im Emperium) und "Multitude: Krieg und Demokratie im Empire" einen wahren Hype auslöste (Die Neuentdeckung der Utopie). "Universitätsprofessor, Gefangener, Exilant, Staatsfeind Nummer eins in Italien und jetzt einer der Stars der neuen Antiglobalisierungsbewegung" - das sind einige der Stationen, Stationen dieses ungewöhnlichen Lebens.

Antonio Negri im Januar 2004 in Berlin. Foto: Stefan Krempl

Haben Sie sich selbst in diesem Filmporträt wieder erkannt?

Antonio Negri: Sicherlich ist es immer kompliziert, das Leben eines Menschen in einen Film einzufangen. Doch dieser Film hat einen roten Faden durch mein Leben gespannt, einen tiefroten Faden.

Wie hat sich die Neue Linke, in der Sie aktiv waren, von ähnlichen Bewegungen in anderen Ländern Europas unterschieden?

Antonio Negri: Es gab in Italien keine Trennung zwischen Studierenden und Arbeitern wie in vielen anderen Ländern. Die Aktivisten der 68er Bewegung vereinigten sich mit den Arbeitern von Fiat und anderen großen Fabriken. Diese Besonderheit hat es uns damals ermöglicht, in Italien ein Widerstandslabor aufzubauen. Dort hat die Verwandlung des Marxismus innerhalb der breiten Widerstandsbewegung stattgefunden und nicht in kleinen intellektuellen und studentischen Gruppen. Die Bewegung in Italien begann Ende der 60er Jahre und fand erst 1979 mit dem großen Repressionsschlag des Staates ihr Ende.

Es gab allerdings in den 70er Jahren zwischen der Potero Operaio und der Gruppe Revolutionärer Kampf gute Kontakte. Können Sie sich noch an die ehemaligen RK-Aktivisten Joseph Fischer und Daniel Cohn-Bendit erinnern?

Antonio Negri: Ich kannte alle diese Gruppen, den Revolutionären Kampf, die Proletarische Front und andere. Es gab damals ein dichtes Geflecht solcher Gruppen. In Frankfurt/Main waren Thomas Schmidt und Josef Fischer sehr aktiv Doch ihnen ist es nie gelungen, die Verbindung zwischen dem Massenkampf und der Herausbildung eines nichtrevisionistischen Marxismus herzustellen. Da hat der frühe Tod von Jürgen Krahl eine Lücke hinterlassen, die nicht wieder geschlossen werden konnte.

Noch immer sind zahlreiche italienische Aktivisten aus der Bewegung der 70er Jahre im Exil und müssen in Italien mit Strafverfolgung rechnen. Sind Sie also einer Illusion aufgesessen, als sie Ende der 90er Jahre mit der Hoffnung auf eine Amnestie nach Italien zurück gekehrt sind?

Antonio Negri: Ich kam nach Italien, weil mir italienische Politiker versicherten, meine Rückkehr nach Italien würde das Projekt einer Amnestie für die Aktivisten der Kämpfe der 60er und 70er Jahre beschleunigen. Es gab zu dieser Zeit auch konkrete Verhandlungen aller Parteien. Doch Berlusconi hat dann die Initiative ergriffen und dieses Projekt zum Scheitern gebracht. Heute ist eine Amnestie in Italien nicht möglich. Die regierende Rechte lehnt sie ab und die Linke ist nicht fähig, Initiativen zu ergreifen. So verfolgt Italien seine politischen Gegner nach mehr als 25 Jahren noch immer mit großer Rache.

Sie galten in Italien als Staatsfeind Nr. 1 und wurden als böser Meister und Verderber der Jugend bezeichnet. Ist das für Sie heute nicht schon fast ein Ehrentitel?

Antonio Negri: Italien ist ein durch und durch katholisches Land. Da sind solche Bezeichnungen total negativ. Sie sollen den so Bezeichneten total stigmatisieren. Doch ich muss zugeben, dass mich die Bezeichnung auch etwas mit Stolz erfüllt. Italien braucht viele solcher böser Meister, damit sich dort die Verhältnisse überhaupt ändern. Ich denke, sie werden sich in Zukunft vermehren.

Sie gelten als eine der Galionsfiguren der Antiglobalisierungsbewegung. Welche Perspektive sehen Sie für diese Bewegung, die in der letzten Zeit nur noch über die Sozialforen in den Medien präsent ist?

Antonio Negri: Ohne Zweifel macht diese globalisierungskritische Bewegung zur Zeit eine tiefe Krise durch. Doch schon heute hat sie unübersehbare Spuren hinterlassen. Jede weitere Bewegung, die entstehen wird, kann nicht umhin, daran anzuknüpfen. Es handelt sich um die erste postsozialistische Bewegung seit 1968.