Die genetisch-kulturelle Ko-Evolution

Die Evolutionsbiologie und die Erklärung der menschlichen Kreativität Teil IV

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Während der überwiegende Teil der Evolution bei den Tieren aus der unterschiedlichen Replikation der genetischen Information entsteht, ist bei der Evolution der Menschen notwendigerweise die unterschiedliche Weitergabe sowohl der genetischen als auch der kulturellen Information beteiligt. "Kulturelle Information" ist hier eher ein Verlegenheitsbegriff als eine buchstäblich zutreffende Beschreibung. Er bezieht sich auf solche Dinge wie Geschichten, Glaubensvorstellungen und Zeremonien, die auf symbolische Weise den Individuen in jeder menschlichen Gesellschaft gemeinsam sind. Veränderungen in der Fülle von Varianten einer Geschichte oder eines zeremoniellen Verhaltens schließen die kulturelle Evolution in ihrer am einfachsten erkennbaren Form ein. Die Soziobiologie behauptet, daß Gene und Kultur sich nicht unabhängig voneinander, auf getrennten und isolierten Wegen entwickeln. Die Neurobiologie der menschlichen mentalen Entwicklung macht sie wechselseitig voneinander abhängig, was zum Prozeß der genetisch-kulturellen Ko-Evolution führt (Lumsden and Wilson 1981). Die genetisch-kulturelle Ko-Evolution scheint in der genetisch-kulturellen Vererbung basiert zu sein, in einem Prozeß lebendigen Wachsens und Sich-Entwickelns, bei dem angeborene Lernfähigkeiten auf bestimmte Formen oder Typen von Informationen reagieren und so die zentralen Tendenzen markieren, um die herum kulturelle Vielfalt entsteht. Auch wenn die menschlichen Kulturen sich gewaltig in den Einzelheiten ihrer Verwandtschaftsterminologien unterscheiden, so fehlen keiner Kultur Begriffe, um der Position eines jeden in der Aufeinanderfolge von jung und alt Bedeutung zu verleihen.

Die Geschichte des Menschen verbindet die Linien der kulturellen und der biologischen Evolution

Ed Wilson und ich haben den spezifischen Begriff "epigenetische Regel" eingeführt, um die Muster der genomischen Expression zu bezeichnen, die die Entwicklung des individuellen Geistes begleiten (Lumsden and Wilson 1981, 1983). Jede epigentische Regel, die den Geist und das Verhalten beeinflußt, enthält ein oder mehrere Elemente einer komplexen Ereignisfolge, die an verschiedenen Orten im Nervensystem und im Geist stattfindet. Wir fanden es nützlich, diese Elemente in zwei hauptsächliche Klassen zu unterteilen: in primäre epigentische Regeln, die von der anfänglichen sensorischen Filterung bis zur Wahrnehmung reichen, und in sekundäre epigenetische Regeln, die die Entwicklung zentraler Eigenschaften und Fähigkeiten wie Temperament, Persönlichkeit und Glaubensvorstellungen vermitteln, kraft derer die Menschen prädisponiert sind, die Weitergabe bestimmter Varianten der kulturellen Information eher als andere zu fördern. Die primären epigenetischen Regeln sind stärker genetisch festgelegt und weniger flexibel. ......Jede Klasse übt wichtige Einflüsse auf die Fähigkeit des Geistes zur Selbstorganisation aus und hat zu einer parallelen oder konvergenten Evolution in unabhängigen Kulturen geführt.

Bei der genetisch-kulturellen Evolution wirkt ein Mechanismus der Reziprozität: Kultur wird von den biologischen Zwängen hervorgebracht und geformt, die in den epigenetischen Regeln verkörpert sind, während die Gene die Veränderungen der epigenetischen Regeln in Reaktion auf sich wandelnde kulturelle Bedingungen gestalten. Selbst wenn die natürliche Selektion in der genetisch-kulturellen Evolution eine herausragende Rolle spielt, wie sie dies auch in der bekannteren Verwandtschaftsselektion und im reziproken Altruismus der tierischen Soziobiologie macht, können sich ihre Auswirkungen auf soziale Populationen sehr von den allein aufgrund der genetischen Evolution erwarteten unterscheiden. Epigenetische Regeln für kulturelles Lernen können stark nonlineare Kopplungen zwischen genetischer und kultureller Evolution mit überraschenden Ergebnissen schaffen. Die Vielfalt der möglichen evolutionären Ergebnisse kann vergleichsweise größer und die Geschwindigkeit, mit der sie von der Population erreicht werden, kann schneller sein. Altruistisches Verhalten kann sich in einer genetisch-kulturellen Population ohne die Hilfe der Verwandtschaftsselektion, des reziproken Altruismus oder irgendeinem anderen der Mechanismen verbreiten, die man normalerweise für das soziale Verhalten von Tieren berücksichtigt.

Die genetisch-kulturelle Ko-Evolution ist ein kausaler Whirlpool der Geschichte, in dem die Kultur von dem biologischen Imperativ geformt wird und Gene als Antwort auf wechselnde kulturelle Möglichkeiten verschoben werden.

Die Erforschung der genetisch-kulturellen Ko-Evolution ist eine Entwicklung in der Soziobiologie und der Evolutionswissenschaft, die die Schaffung eines Erklärungsnetzwerkes zwischen der Biologie und den Sozialwissenschaften unterstützen soll. Sie ist so angelegt, daß sie alle kulturellen Systeme, angefangen von den Protokulturen der Schimpansen und Delphine bis zu den heterarchischen proteischen Kulturen der Menschen, aber auch Kulturformen einschließt, die bislang nur mit der Phantasie zugänglich waren. Auf diesem Weg trifft die Soziobiologie jedoch direkt auf die menschliche Kreativität als einer geschichtlichen Kraft (Lumsden and Wilson 1981; Findlay and Lumsden 1988; Lumsden 1997, 1998). Unsere Versuche, den Kreislauf der genetisch-kulturellen Evolution darzustellen, wie er sich durch die Imagination auf dem Weg von der Biologie zur Gesellschaft und wieder zurück erstreckt, hat zu verwirrenden Fragen über die Grenzen der soziobiologischen Erkennens und des wissenschaftlichen Verstehens des Geistes im Allgemeinen geführt.

Horizonte des Unvorstellbaren

Eine der überragenden Leistungen moderner Wissenschaft ist sicherlich die mathematische Theorie der Populationsbiologie und der Evolutionsgenetik. Das sind Disziplinen, die die quantitative Form der Prinzipien enthüllen, welche die Ebbe und Flut der Genvarianten über Zeit und Raum hinweg steuern (Provine and Debus 1987, Roughgarden 1996 für spannende Beobachtungen). Die Soziobiologie hat sich in ihren Interpretationen der Populationsgenetik der menschlichen Gesellschaften dieser Prinzipien ausgiebig bedient. Sie hat in ihrer Erweiterung auf die genetisch-kulturelle Ko-Evolution überdies die Frage gestellt, ob die Verbindungen zwischen Genen, Geist und Kultur auch in der Form mathematischer Aussagen darstellbar sind, so daß die Wissenschaft über ko-evolutionäre Prinzipien verfügen würde, die einen quantitativen Nutzen besitzen. Mathematische Soziologen und Anthropologen, die an Mathematik und exotischen formalen Logiken interessiert sind, haben ähnliche Fragen gestellt, auch wenn sie sich stärker auf nicht-biologische Erklärungsansätze für das Verhalten und die Gruppenorganisation konzentriert haben (z.B. Fararo 1992, Hage and Harary 1996, Kiel and Elliott 1996).

Was all diese Ansätze zum Ziel einer mathematischen Darstellung treibt, geht teilweise auf den Begriff eines "Systems" oder eines Objekts mit vielen Teilen als eines Gegenstandes mit zeitlich variablen tiefen Eigenschaften, die man Zustände nennt, innerhalb eines Bereich des wissenschaftlichen Diskurses zurück. Wenn man sagt, ein System befinde sich zu der Zeit t in einem Zustand, dann heißt dies, alle erkennbaren Eigenschaften des Systems zu diesem Zeitpunkt zu bestimmen. Die Menge der möglichen Zustände, die ein System einnehmen kann, wird oft dessen "Zustandsraum" und die Veränderungen der Zustände dessen "Dynamik" genannt. Die Theorie dynamischer Systeme, die die Kognitionswissenschaft, die Populationsgenetik, die mathematische Soziobiologie, die Soziologie und Anthropologie in der einen oder anderen Form übernommen haben, um zeitlichen Wandel zu beschreiben, setzt voraus, daß die relevante Systemdynamik in der Form mathematischer Aussagen formuliert werden kann. Der Ansatz der Theorie dynamischer Systeme war in der Physik äußerst erfolgreich, aber ist in der Biologie, der Psychologie und den Sozialwissenschaften noch relativ neu, wo sein Verdienst darin besteht, lebhafte Debatten anzuregen.

Ein System in Aktion: Zustände, Dynamik, Bewegung, Ziele.

Man erwäge einmal, wie die genetisch-kulturelle Ko-Evolution mit einer solchen Begrifflichkeit erfaßt werden könnte. Wenn die möglichen Zustände der genetischen und kulturellen Information, über die ein Individuum verfügt, bestimmt sind, werden sie in einer Menge kombiniert, die die möglichen Ergebnisse einer gemeinsamen genetischen und kulturellen Weitergabe definiert. Diese Menge ist der Zustandsraum einer Population. Dann wird eine neu formulierte Regel oder ko-evolutionäre Dynamik formuliert. Diese Regel basiert auf Wahrscheinlichkeitsverteilungen, die vom Zustandsraum definiert werden. Die Wahrscheinlichkeitsverteilungen spezifizieren die Häufigkeit, mit der sich Individuen eines gegebenen genetischen und kulturellen Stammbaums ereignen können. Die neu formulierte Regel transformiert die Wahrscheinlichkeitskurve zur Beschreibung der Population zu einem bestimmten Zeitpunkt t0 in eine Aufeinanderfolge von Kurven für die Populationsstruktur zu allen künftigen Zeitpunkten t. Unser Verständnis der Population wird folglich aus der Perspektive der neu formulierten Regel (der ko-evolutionären Dynamik), der Wahrscheinlichkeitsverteilungen und dem Zustandsraum zum Ausdruck gebracht. Bei den Fällen, bei denen aufgrund der Komplexität der Population oder dem Fehlen ausreichender Daten eine mathematische Beschreibung praktisch nicht erreicht werden kann, können dennoch ähnliche Ansätze angewendet werden, da das Nachdenken über zeitlichen Wandel notwendigerweise die Identifizierung von Eigenschaften beinhaltet, die mehr als einen Wert, die Zuschreibung bestimmter (qualitativer oder quantitativer) Werte zu bestimmten (kurzen oder langen) Zeitabschnitten und die Suche nach Mustern für das Tempo und den Modus der beobachteten Veränderungen erfordern.

Jeder Versuch, die Imagination und Kreativität in diesem Rahmen zu situieren, scheitert sofort, weil der zugrundeliegende Zustandsraum nicht mehr als konstante Struktur betrachtet werden kann. Mit jedem neuen kreativen Akt, mit jeder Innovation werden der Menge kultureller Informationen neue Daten hinzugefügt und können bestehende Elemente verschwinden, während neue Muster des Gebrauchs alte ersetzen. Der Zustandsraum hat sich verändert. Relativ zu diesen neuen kulturellen Konfigurationen sind die für den ursprünglichen Zustandsraum definierten Wahrscheinlichkeitsverteilungen nicht mehr genau definiert. Auf ähnliche Weise störend ist, daß die neu formulierte Regel, die die Dynamik der genetisch-kulturellen Ko-Evolution ausdrückt, verändert werden muß, um die Innovationen und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft zu berücksichtigen.

Es ist daher offensichtlich, daß die Theorie dynamischer Systeme, falls sie sich nicht irgendwie mit dem kreativen Verhalten beschäftigt, nur funktionieren kann, wenn sich der Raum der kulturellen Information nicht verändert, also in den Zeitspannen, wenn kreative Akte nicht die Kultur verändern. In einer hypothetischen Steinzeitkultur von frühen Hominiden konnte der Zeitabschnitt zwischen den von sukzessiven kreativen Akten markierten Ereignishorizonten ziemlich lange sein. Es waren Jahre, vielleicht sogar Jahrtausende (Pfeiffer 19i82, Tattersall 1993). Aber in der menschlichen Geschichte, die einsetzte, als die Historiker ihre Arbeit aufnahmen, kommen Kreativität und Innovation häufig vor. In der postindustriellen Zivilisation strömt die Imagination so schnell in die Kultur, daß sie gegenüber den Zeitabschnitten der biologischen und makrosozialen Evolution als wirklich kontinuierlich gelten kann: weit entfernt von den isolierten und punktuierten Einflüssen des innovativen Wandels, der vielleicht für die paläolithischen Zeiten typischer gewesen ist.

Welcher Weg führt in die Zukunft?

Die materiellen Folgen der menschlichen Imagination, die sich durch kulturelle Innovationen verwirklicht, lassen daher die Zukunft (und unsere evolutionären Vergangenheiten) auf eine völlig andere Weise wie in den Theorien der nonlinearen Dynamik und des "Chaos" unvorhersehbar werden, wo ein System um einen Raum möglicher Zustände in einer äußerst komplexen Weise wandern kann und abgesehen von unmöglichen Automaten mit einer unendlichen numerischen Genauigkeit unberechenbar sind. Selbst beim Chaos ist der Zustandsraum fixiert und stellt eine vorneweg bestimmte Arena für die Bildung von zeitlichen Mustern dar. Kreatives Verhalten zerreißt diese Räume und verwandelt die Arena des Wandels in sich verändernde Arenen für die evolutionäre Transformation.

Die Populationsbiologie hat sich natürlich schon früher mit einem ähnlich erscheinenden Problem beschäftigt, vor allem mit dem Prozeß genetischer Mutation und den Veränderungen, die sie in die Einheiten der genetischen Information einführt, während sie von Generation zu Generation weitergegeben wird. Genetische Mutationen sind aber keine zielgerichteten oder intentionalen Handlungen, und ihre Folgen sind im Verhältnis zum Zwang, den die natürliche Selektion auf die Population ausübt, zufällig (siehe jedoch Lumsden 1998 für einen Überblick über das kürzlich ausgearbeitete Konzept einer gerichteten Mutation). Man nimmt daher an, daß Kreativität und Imagination vermutlich ganz andere Ansätze erforderlich machen als die zufallsbestimmten dynamischen Gleichungen, die man zur Quantifizierung der Evolution in Anbetracht mutierender Gene verwendet.

Ein für den ersten Blick verlockender Trick ist die Antizipation der möglicherweise sich ereignenden Innovationen (Wellenantrieb oder eine Krebstherapie im 23. Jahrhundert?) und deren Einfügung in die Menge der Kulturen, mit der man beginnt. Die Kultur könnte zuerst gezwungen sein, sich lediglich in prä-innovativen Bereichen ihres Zustandsraums zu bewegen, aber wenn eine Innovation sich ereignet, nehmen ihre Optionen zu, wodurch ein immer größerer Bereich des kulturellen Raums für den evolutionären Prozeß erschlossen wird.

Auch wenn formale Methoden, die auf dieser Idee eines "weichen Prädeterminismus" basieren, für kurze Durchläufe einer simulierte Geschichte genügen (Lumsden and Wilson 1981, Findlay and Lumsden 1988), so sind sie im weiteren Verlauf völlig unzulänglich, weil sie erfordern, das anfänglich Unbekannte - was mit welchen Folgen entdeckt werden wird - ganz am Beginn festzulegen, wenn wir den kulturellen Raum einrichten. Der Fehlschluß suggeriert, daß unsere Ausgangsbedingungen der Erklärung so gewählt werden können, daß sie die Antwort auf das Problem enthalten, für deren Lösung wir sie einsetzen, also vor allem für die Vorhersage der Kreativität. Auch wenn man die Dimensionen des Zustandsraumes kontinuierlich macht und so eine kontinuierliche Unendlichkeit von möglichen kulturellen Variationen auf kompakte Weise darzustellen vermag, anstatt die kulturellen Zustände, wie ich dies hier mit der Rede von "Einheiten" vereinfachend gemacht habe, diskret aufzuzählen, löst man das Problem nicht. Dieser Schritt verdeckt es nur, indem der Ort des Bruchs auf die dynamisch erneuerten Regeln verschoben wird. Das Problem ist auch nicht, wie ich zuvor angedeutet habe, die Grenzen abstrakter mathematischer Modelle anzuerkennen und zu qualitativen Analyse- und Erklärungsweisen überzugehen. Wenn man von Veränderung spricht, muß man von etwas sprechen, das sich verändert, was uns genau zu der buchstäblichen oder metaphorischen Abhängigkeit von Zuständen und Zustandsräumen zurückführt.

Wenn wir den kreativen Geist und die genetisch-kulturelle Evolution nicht vollständig über die Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnis entweichen lassen wollen, benötigen wir eine Theorieform, die Zukunft und Vergangenheit "weit offen" läßt, in der, um es anderes auszudrücken, einen Raum gibt, in dem das anfänglich Unvorstellbare geschehen kann, während es in einem angemessenen Sinn hypothetikodeduktiv bleibt. Ist das möglich?

Wir hängen an unseren
festgelegten Texten.

Das ist es, wenn wir bereit sind, an einer neuen Art des wissenschaftlichen Sprachspiels teilzunehmen, das nicht mit festgelegten Texten gespielt werden kann. Nehmen wir an, wir würden über eine Theorie der genetisch-kulturellen Ko-Evolution verfügen, die eine prinzipiengeleitete Behandlung des kreativen Verhaltens und die in der Folge in die Gesellschaft eingeführten Innovationen beinhaltet. Mit dieser Theorie bilden wir ein Populationsmodell, das am Zeitpunkt t0 beginnt, und sagen wir das Muster der genetisch-kulturellen Evolution für die Zeitpunkte t > t0 voraus. Da sich der kreative Geist erneuert und Innovationen das kulturelle und biologische Milieu der individuellen Entwicklung, der Optionen und der Entscheidungsbildung der Gruppe verändern können, wozu auch Beeinflussungen der menschlichen Kreativität und der Richtung, die sie einschlägt, gehören, scheint es sehr unwahrscheinlich zu sein, daß irgendeine Menge von Prinzipien, die auf der Ausgangssituation des Modells zur Zeit t0 basieren, lange Zeit gültig bleiben können. Selbst wenn diese Prinzipien den Trick zum Zeitpunkt t0 leisten, könnte eine entscheidende Innovation zum Zeitpunkt t1 (beispielsweise die gentechnische Veränderung des Neokortex und der Amygdala) das kreative Verhalten in der Population nach dem Zeitpunkt t1 radikal verändern. Die Theorie - und alle auf ihr basierenden Modelle - würden folglich für die Zeitpunkte nach dem Zeithorizont t1 ungültig sein, es sei denn, das Modell könnte irgendwie die Folgen der Innovation aufnehmen und sich selbst daran anpassen. Die "Anpassung" würde zumindest eine selbstgerichtete Produktion von ausführbaren Veränderungen im Zustandsraum des Modells und in der Dynamik der genetisch-kulturellen Ko-Evolution mit sich bringen, die vom kreativen Verhalten und seinen Leistungen angetrieben werden.

Wissenschaftliche Theorien in der Form festgelegter Texte oder Anordnungen von mathematischen Aussagen können dies nicht. Sie sind dafür zu "dumm", weil ihnen ein Mechanismus fehlt, mit dem Veränderungen im Diskursbereich automatisch ausgeschnitten und in ihren Inhalt eingefügt werden können. Um das leisten zu können, müßte die Theorie selbst eine Art dynamischer Entität sein, die auf das Ziel ausgerichtet ist, sich selbst zu überprüfen, um sich die Konsequenzen für die Inhalte der Ereignisse anzueignen, die sie, zumindest für eine Weile, voraussagen kann. Evolutionäre Theorien des kreativen Geistes müssen daher selbst bestimmte Formen kreativen Verhaltens besitzen.

Bis noch vor einigen Jahren wäre die Vorstellung von sich selbst umschreibenden Theorien, die hypothetikodeduktive Ereignishorizonte durchqueren, indem sie sich das Unvorhersehbare aneignen, höchstens der Wunschtraum eines Metatheoretikers gewesen. Aber das ist, wie ich glaube, nicht mehr der Fall. Die Ankunft des World Wide Web stellt dem arbeitenden Wissenschaftler ein wichtiges Kompositionsmittel (vielleicht eine "sich vererbende Autorenschaft") zur Verfügung: den Hypertext, der "im Verlauf" zusammengestellt oder geschrieben werden kann, um in Echtzeit einen gewöhnlichen Text herzustellen. Zu diesem Fortschritt in der Ausdrucksfähigkeit kann ein konzeptueller Fortschritt in der theoretischen Computerwissenschaft mit ihren verbesserten Methoden der Programmierung von Software-Agenten hinzukommen, die ein autonomes, adaptives und zielorientiertes Verhalten aufweisen (McFarland and Bösser 1993, Maes 1995, Watson 1996). Computerbasierte Agenten sind benutzerfreundliche Programme mit eigenen Handlungsstrukturen. Sie suchen beispielsweise das Web nach Lieblingsthemen ab, liefern Berichte über aktuelle Ereignisse auf dem Börsenmarkt oder überprüfen die EMail und verfügen über Tricks, wie sie das besser machen können, während sie arbeiten.

Man stelle sich also die Eigenschaften einer wissenschaftlichen Theorie vor, die nicht als festgelegter Text, sondern als digitaler Agent, als eine Art des computerbasierten "Künstlichen Lebens" (Levy 1992) geschaffen wird, das so programmiert ist, daß es sich selbst an die Folgen der Kreativität und Innovation anpaßt, während diese in ihren Modellsimulationen geschehen. Die Softwareschnittstelle der Theorie ermöglicht es dem Benutzer, in den genetisch-kulturellen Zustandsraum der Population und in die ko-evolutionäre Dynamik einzutreten sowie die anfänglich auf das individuelle kreative Verhalten in der Gesellschaft anwendbaren Propositionen und eine Feineinstellung des adaptiven Programmierens zur Verfügung zu haben, mit dem die Theorie sich selbst umschreibt, wenn in der simulierten Population Innovationen geschehen. Mit den Wahrscheinlichkeitskurven für die genomische, epigenetische und kulturelle Organisation der Population enthält das Ergebnis den Text der gegenwärtig gültigen Theorieform mit allen vorhergehenden Versionen, sofern ein ausreichender Speicherplatz vorhanden ist. Ein ganzes epistemisches Laufwerk. Ein bescheidenes, aber vielversprechendes Beispiel einer solchen Leistungskraft, mit der der Theorieagent sich selbst umschreibt, um ziemlich komplexe Muster von Gefühlsereignissen in einem simulierten einzelnen Geist zu erklären, ist das EVA-Modell (Emotive Virtual Agent), das von David Kreindler, Nicholas Woolridge und mir erforscht wurde (Lumsden, Kreindler, and Woolridge 1998).

Die Umsetzung der Theorie: Vom Text zum Leben

Ich meine also, daß wissenschaftliche Theorien mit einer Autorenschaft von adaptiven, sich-entwickelnden digitalen Agenten die Zertrümmerung von einigen wichtigen Grenzen für die Evolutionstheorie unterstützen können, die gegenwärtig den kreativen Geist und seine Rolle in der Vergangenheit und Zukunft des Menschen verhüllen.

Mitgefühl: Evolutionstheorie als bardischer Agent

Im Prinzip kann einen nichts daran hindern, digitale Agenten mit einer Persönlichkeitsanimation zu verbinden. Mit der Kunst von computergenerierten Gesichter, Gestensimulation und Sprachsynthese wird die wissenschaftliche Theorie, die jetzt als digitaler Agent auftritt, auch mit der Illusion des Lebens ausgestattet (Thomas and Johnston 1984, Parke and Waters 1996). Wenn man auf den Computerbildschirm blickt, sieht man nicht nur Wahrscheinlichkeitskurven und selbstgenerierte Revisionen abstrakter ko-evolutionärer Postulate. Man sieht auch eine animierte Person, die Verkörperung des Theorieagenten, der expressiv mit dem Benutzer über das kommuniziert, was im Modell, das sie für diesen simuliert, und in ihre selbst geschieht, während sie die Simulation übernimmt.

Das Letzte, was wir brauchen, sind natürlich Theorien, die überstürzte Karrieren aufbauen, indem sie über sich selbst und ihre Leistungen jammern (oder jauchzen). Es ist jedoch klar, daß die Kultur der Barden alt ist, wahrscheinlich so alt wie der menschliche Geist selbst (Pfeiffer 1982). Ihre modernen Nachfahren - Kino, Theater, Fernsehen - ergreifen uns, indem sie teilweise unsere Fähigkeit aufrufen, mit dem anderen zu fühlen, uns selbst mit dem Lust zu verschaffen, was es ist, den geschätzten oder verabscheuten Mitmenschen zu mögen.

Das Gesicht der Zukunftstheorie

Möglicherweise werden die Theorieagenten, wie ich sie vorher charakterisiert habe, im Laufe ihrer Entwicklung die rhetorische Macht der Persönlichkeitsanimation erreichen und damit die Fähigkeit gewinnen, unsere sympathetischen Imaginationen über ihr Thema anzusprechen. Dann wird die entscheidung bei uns liegen, ob die Agonie der Grausamkeiten, die von unseren Armuts- oder Kriegssimulationen nachvollzogen werden, oder das Glück der simulierten kreativen Sprünge mit den Zahlen und Evolutionsstatistiken zu unserem erkennendem Geist gehören sollten. Wird die Wissenschaft, die mit derartigen bardischen Theorien unternommen wird, besser oder schlechter sein, und werden die Schleier, die um die menschliche Weisheit liegen, weniger verheddert sein?

Zumindest unter Akademikern wurde es fast zur Gewohnheit, scharf bewachte Grenzen zwischen der Darstellung dessen, was wahr an dem ist, was wir sehen, und Praktiken aufzurichten, die uns dazu auffordern, das zu werden, was wir erblicken. Dadurch sind wir meiner Meinung nach von den Verständnisweisen abgerückt, die wir, wie MH Abrams (1953) schrieb, auf uns selbst anwenden möchten und so erhellen könnten, wie das menschliche Wesen gleichzeitig spontan und doch gewohnheitsmäßig, geregelt und ungegeregelt sowie empirisch rational erklärbar ist, aber doch letztlich intuitiv in jedem Augenblick des persönlichen Lebens bleibt. Die Soziobiologie, wenn sie vielleicht teilweise in überzeugenden neuen Metasprachen neu formuliert wird, nimmt eine zentrale Rolle bei der Wiedergewinnung dessen ein, was wir einst für die angeblich besten Gründe aufgegeben haben.

Danksagung

Die Forschungsarbeiten, deren Ergebnisse hier eingeflossen sind, wurden vom Medical Research Council of Canada, dem Natural Sciences and Engineering Research Council of Canada, der Atkinson Charitable Foundation, der J.P. Bickell Foundation und der Harry Frank Guggenhein Foundation unterstützt. Das Copyright für alle Bilder liegt bei PhotoDisc, Inc.

Literatur

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer