"Die griechischen Schulden sind Peanuts gegenüber den deutschen"

Die Griechenland-Schuldenkrise und externe Effekte der deutschen Wirtschaftsmacht

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Wer sich so stolz auf das eigene erfolgreiche Wirtschaftsmodell und unnachgiebig gegen andere Vorstellungen zeigt wie die deutsche Regierung bei der Lösung der griechischen Schuldenkrise, fordert Kritik heraus. Da die deutschen Wirtschaftsexperten, wie man in den großen Medien hierzulande verfolgen kann, vertraglich immer Recht haben, verlegt sie sich auf ein erweitertes Argumentations-Portfolio.

So lanciert ein Artikel, erschienen in der französischen Le Monde in der Rubrik "Idées", eine interessante Spitze gegen die Budget-Moralisten aus Berlin. Seine steile These: Erweitert man den Bewertungskontext von Wirtschaft, so sind die griechischen Schulden Peanuts gegenüber den Kosten, welche die deutsche Wirtschaftsmacht für die Allgemeinheit verursacht.

Um dies zu begründen, pickt sich der Autor eine Paradebranche heraus: die chemische Industrie, die Deutschland zur "größten Chemienation in Europa macht", so der Branchenverband VCI. Im weltweiten Vergleich rangiert die Branche auf Platz vier.

Im nächsten Schritt zieht der Wissenschaftsjournalist Stéphane Foucart im Prinzip schwer Vergleichbares - Staatsschulden und soziale Kosten - auf eine gemeinsame Ebene. Die Rechnung sieht dann so aus:

Wenn man sich am letzten Jahrzehnt orientiert, dann belaufen sich die versteckten Kollateralkosten - in der Volkswirtschaft als "negative externe Effekte" bezeichnet -, die mit der chemischen Industrie verbunden sind, EU-weit auf mindestens 1.570 Milliarden Euro. Im selben Zeitraum sind die griechischen Schulden von 195 Milliarden auf 320 Milliarden gestiegen, ein Zuwachs von 125 Milliarden Euro. Das ist nicht einmal ein Zehntel der negativen externen Effekte der chemischen Industrie im selben Zeitraum und ganz sicher viel, viel weniger als die negativen externen Effekte, welche die deutschen Giganten in diesem Sektor verursachen.

Die Zahl "157 Milliarden", die hier auf zehn Jahre gerechnet wurde, stammt vom amerikanischen Umweltmediziner und Public health-Spezialisten Leonardo Trasande. Im April dieses Jahres veröffentlichte Trasande eine Reihe von Studien, im Fachmagazin The Journal of Clinical Endocrinology & Metabolism.

Darin unternahm er den Versuch, schädliche Wirkungen, die mit endokrinen Disruptoren (z.B. Bisphenol A, PCB, Weichmacher) verbunden sind, zu quantifizieren und kam auf "157 Milliarden Euro bottom line".

Eine norwegische Studie aus dem letzten Jahr, die ebenfalls, aber mit anderen Kriterien, die Kosten von hormonell wirksamen Chemikalien untersuchte, kam zum Ergebnis, dass EU-Mitgliedstaaten "bis zu 1,2 Milliarden Euro jährlich für die gesundheitlichen Folgen der endokrinen Disruptoren (EDC) bezahlen".

Trotz der enormen Unterschiede zwischen Herangehensweisen und Ergebnissen haben beide Studien zweierlei gemeinsam: Erstens die Feststellung, dass die Kosten schwer einzuschätzen sind und ihre Ergebnisse mit größter Wahrscheinlichkeit unter den echten Kosten liegen, und zweitens eine Forderung, die im Zusammenhang mit ihren Erhebungen auftaucht - dass die Lobbyarbeit der großen Konzerne in Brüssel dafür sorgt, dass die schadhaften Wirkungen nicht reduziert werden.

Auf die EU-Kommission werde massiver Lobbydruck ausgeübt, um Hürden für ein Ausschlussverfahren so hoch wie möglich zu hängen oder um Ausnahmegenehmigungen zu erwirken, wird auch anderorts konstatiert.

Die dort beschriebene intensive Lobbyarbeit deutscher Vertreter in Brüssel ist für den Autor des Le Monde-Artikels eine indirekte Bestätigung, dass Berlin völlig im Bilde darüber ist, welche Kosten strengere Regelungen für die deutsche chemische Industrie bedeuten würden. Dass man die Industrie von diesen Kosten verschonen will, verweise auf ein Wahrnehmungsproblem und ein moralisches Problem.

Diese "Schulden" lassen keinen aufschreien. Aber sie sind dennoch viel spürbarer als die griechischen: vom enormen wirtschaftlichen Gewicht einmal abgesehen, mischen sich die gigantischen externen Effekte in unser biologisches sytem ein, verschlechtern die Gesundheit der Bevölkerung und verändert Ökosysteme.

Freilich, so das Fazit des Artikels, seien das keine Schulden im strikten wirtschaftlichen Sinn, wie die griechischen Schulden, die auf Verträgen basieren, sondern eine moralische Schuld. Für die deutsche Prosperität, die zu großen Teilen auch von der chemischen Industrie getragen wird, würden schließlich viele bezahlen und mehr als für Griechenlands Schulden.