Die große Müdigkeit

Europa scheint den Entwicklungen und Aufbrüchen, die sich in der "Neuen Welt" vollziehen, nachzuhinken. Utopische Energien, sicher meist genährt durch einen naive Überschwenglichkeit der Hoffnung auf einen neuen Anfang, kommen nicht mehr recht auf. Man sucht sich dem technischen Fortschritt und neoliberalistischen Gedankengut anzupassen, während gleichzeitig der europäische Standort und sein Modell eines demokratischen Sozialstaates gefährdet sind und die europäischen Länder in einen Unterbietungswettbewerb eintreten. Globalisierung, neue Technologien, veränderte Organisationsstrukturen, steigende Individualisierung und Cyberspace erscheinen nicht als Chance, sondern als Gegebenheiten, denen man sich unterwerfen muß und vor denen man sich möglichst schützen sollte.

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In einer Zeit, in der viele in den Cyberspace drängen und fieberhaft an der Herstellung des postbiologischen Lebens arbeiten, in der vor allem Techno-Utopien gedeihen, sind vielen Europäern der Mut, die Lust am Risiko, die Chance von teifgreifenden Veränderungen, kurz: die Zukunft abhandengekommen. Die "Alte Welt" ist müde geworden, nachdem sie jahrhundertelang die Welt ökonomisch, technisch, kulturell, militärisch und wissenschaftlich beherrscht und der Gipfel ihrer Macht erst kurz zurückliegt. Nichts scheint mehr zu gehen, die Schritte voran werden verwässert und abgeschliffen, man hält krampfhaft am Bewahren fest und verliert dennoch oder gerade deswegen immer mehr an Boden. Sollten wir Europäer also in Panik geraten und, wie so manches Mal, in Untergangsängsten schwelgen?

Müdigkeit - Körper und Maschinen

Auffällig ist, daß man nur wenig über Müdigkeit findet, auch und gerade weil es eines der alltäglichsten Phänomene ist. Wenn von Müdigkeit die Rede ist, dann geht es in aller Regel darum, wie man sie vermeiden, umgehen oder ausschalten kann, denn nichts scheint uns wichtiger zu sein, als alles zu intensivieren, zu beschleunigen und unterbrechungslos zu gestalten. Müdigkeit heißt denn auch, daß die Leistungskraft absinkt, die Motivation sich verflüchtigt und die Aufmerksamkeit nachläßt. Wer Maschinen steuert oder überhaupt arbeitet, soll nicht ermüden, zumal dies ja auch gefährlich werden kann. Die Arbeitswissenschaft, beginnend mit dem Taylorismus, dient der Leistungssteigerung und ist ein einziger Kampf gegen die Müdigkeit. Auch die Kognitionsforschung beschäftigt sich überwiegend mit der Wachheit der Menschen und die Medien, die Kunst oder die Werbung stellen einen massiven Angriff auf die Aufmerksamkeit dar, um sie einzufangen und zu stimulieren, denn wessen Aufmerksamkeit ermüdet, wendet sich ab und schaltet gar - der GAU der Medien - ab, wenn er nicht zuvor bereits eingeschlafen ist. Wer sich müde gibt, muß aufgerüttelt werden. Und wenn man die Diagnose stellt, daß wir Menschen in Europa, in der Alten Welt, müde geworden sind, dann ist man sicher schnell bei der Hand zu sagen, daß es so nicht weitergehen kann, daß wir uns wieder aufrappeln, aktiv und interaktiv werden müssen, weil der Endzustand, das Erschlaffen oder Einschlafen, nur Panik hervorruft.

Müdigkeit geht dem Schlaf vorher. Als biologisches Phänomen ist das Müdewerden ein notwendiges Gefühl, das unseren Körper und unseren Geist nicht nur vor Überanstrengung oder information overload schützt, sondern das auch alltäglich in periodischen Zyklen wiederkehrt, weil permanente Wachheit offenbar zuviel Energie verbraucht. Wir sind als biologische Wesen Pendler und Reisende zwischen zwei Zuständen, die einander abwechseln müssen, die sich gegenseitig unterbrechen, weil sich weder das eine noch das andere endlos fortsetzen läßt. Ermüden ist die Vorbereitung auf den Schlaf, den man auch als einen kleinen Tod bezeichnet. Die Müdigkeit zieht uns hinüber, läßt es uns leichter werden, Abschied zu nehmen. Man spricht auch davon, daß Maschinen und Material ermüden, daß ihre mechanischen Teile nicht mehr greifen, was dann nur heißen kann, die Maschine geht kaputt, ist nicht mehr funktionstüchtig. Maschinen überhitzen sich, Computer stürzen ab, Geräte wechseln in den Stand-by-Betrieb oder sie werden heruntergefahren, aber sie werden nicht müde. Das aber ist bei biologischen Wesen anders. Um weiter leben zu können, müssen wir uns offenbar zurückziehen, uns abwenden von der Welt, aus den Netzen austreten und in uns einkehren, träge werden, Motorik und Sensorik verschließen, kurz: langsamer werden, eine Pause einlegen. So gesehen ist Ermüdung, ist die Müdigkeit nichts Schreckliches, sondern schlicht eine Unterbrechung, nach der es wieder einen neuen Anfang gibt, ebenso wie wir nach dem Schlafen neu in den Tag gehen und vielleicht jeden Tag die Welt immer wieder ein wenig anders sehen können.

Noch nirgendwo habe ich eine Überlegung darüber gefunden, ob Roboter, Künstliches Leben oder irgendwelche künstlichen Intelligenzen nicht müde werden sollen oder diese Regeneration vielleicht nicht brauchen. Man geht offenbar schlichtweg davon aus, daß unsere digitalen Kinder mit diesem Mangel, mit dieser Einschränkung permanenter Wachheit, nicht behaftet sind. Auch wenn man vom globalen Gehirn spricht, das sich durch die Computernetze und die an sie angeschlossenen Menschen bilden soll, ist von Müdigkeit, Unterbrechung und Schlaf nicht die Rede. Permanent angeschlossen zu sein, ununterbrechungslos vernetzt und vielleicht überwacht zu sein, scheint das Motto der technischen Entwicklung zu sein, die mit den globalen Netzen denn auch Tag und Nacht, den Rhythmus der lokalen Zeiten, noch weiter verflüchtigt. Nicht nur Nachrichten oder Konsummöglichkeiten sollen 24 Stunden am Tag verfügbar sein, auch die Menschen sollen dies - und wenn es mit ihrem biologischen Körper und Gehirn nicht geht, dann rüsten wir sie halt entsprechend auf. Schließlich wurden Maschinen ja auch erfunden, um die tierische und menschliche Bedürftigkeit, sich erholen zu müssen, zu umgehen und pausenlos gleichbleibend in Betrieb zu sein. Möglicherweise ist ja diese Unfähigkeit zur Müdigkeit und zum Schlaf auch ein Grund dafür, warum unsere digitalen Schwestern und Brüder noch immer nicht richtig smart werden wollen, weil sie ihre Aktivitätszustände nicht innerlich zu regulieren vermögen, weil sie immer gleich sind, weil sie sich nicht verändern.

Panische Aktivität

Müdigkeit ist Verlangsamung und Rückzug. Man kann nicht mehr oder will nicht mehr, aber man lehnt sich nicht auf, zettelt eine Revolte an oder sucht nach neuen Wegen. Müdigkeit stellt sich ein, sie überfällt einen, lähmt den Willen und die Aufmerksamkeit, ist eine Art Narkotikum, eher dem Opium als Ecstasy vergleichbar, auch wenn Aufputschmittel nur ein Versuch sind, der Müdigkeit ein Schnippchen zu schlagen, sie nicht zu akzeptieren. Nichts scheint uns gegenwärtig ferner als die Müdigkeit zu liegen. Als Menetekel droht sie über einer Gesellschaft und ihren Mitgliedern, die den Anschluß verpaßt haben, sich erschöpft an den Wegrand, vielmehr an den Rand der Datenautobahnen und sonstigen Schnellstraßen, legen und nun die Karawane des Fortschritts neugierig oder ängstlich an sich vorüberziehen lassen. Schlaffe Zeitgenossen, Couch Potatoes und Veränderungsunwillige haben es in Zeiten schwer, in denen die Revolution durch Technik, die ja immer, zumindest dem Anspruch nach, eine der Beschleunigung ist, zum Tagesgeschäft wurde. Wer sich der Müdigkeit hingeben und von ihr sprechen kann, steht bereits außerhalb der pausenlos aktiven, permanent kommunikationsbereiten, von Innovationen gejagten und natürlich interaktiven Gesellschaft des Informationszeitalters und befindet sich auf der Seite der Verlierer.

Nicht einmal Zuschauen ist mehr angesagt, denn die neuen Medien wollen mit dem passiven Fensterschauer Schluß machen und propagieren den stets aktiven Mitmischenden, der sich ins virtuelle Getümmel stürzt oder neuerdings vom Internet als Pushmedium stets erneut mit Schocks versorgt und aus der Apathie herausgerissen wird. Viele, obgleich es durch die steigende Arbeitslosigkeit, die man früher als strukturelle bezeichnet hätte, immer weniger werden, haben immer weniger Zeit, müde zu sein, und vor allem dürfen sie dies nicht zeigen. Man putscht sich auf, nimmt Ecstasy, joggt und gewährt sich höchstens wohldosierte Zeiten der Wellness, hetzt von einem Termin zum anderen und dann in den Abenteuerurlaub, trägt das Handy bei sich und ist ans Internet angeschlossen, zeigt sich mobil und flexibel, jammert nicht, sondern ist optimistisch, sieht stets neue Chancen oder Handlungsbedarf, ist natürlich kreativ und stets auf der Überholspur, zappt durch die Programme, zieht sich die kleinen Info-Bröckchen der Info-Elite herein. Selbst die Kritiker geißeln atemlos das Geschehen, das sie offenbar nicht aufhalten können. Wer hingegen müde ist, zieht sich aus der Welt zurück, schließt seine Augen, bleibt fest an einem Punkt verankert, macht es sich bestenfalls gemütlich oder kann einfach nicht mehr.

Abklärung?

Trotzdem und eigentlich verwunderlicherweise erleben wir am Ende des Jahrtausends keine schwermütige oder melancholische Fin-de-siècle-Stimmung, wie wir sie aus der Geschichte Europas gut kennen. Wir sind eher mut- und orientierungslos, neigen zum Pessimismus und Skeptizismus, aber machen meist weiter, ohne große Hoffnungen zu haben. Schon zu lange haben wir die Zeremonien des Abschieds gefeiert, haben wir alle möglichen Post-Zustände durchlaufen, um noch wirklich an eine neue Welt zu glauben. Die Schrecken der Geschichte sitzen in unseren Knochen. Und der Fortschritt hat sich beschleunigt. Nicht mehr während einer Generation verändert sich die Lebenswelt grundlegend, sondern mehrmals in einem Leben, so daß stabile Anpassungsformen an sie sich ebenso wenig mehr ausbilden können wie Routinen im Umgang mit Computerhardware und Software, die ihr Verfallsdatum bereits im Namen führen und demonstrieren, daß sie stets nur vorläufige Realisierungen darstellen, die schon dann eigentlich überholt sind, wenn sie auf den Markt und in unsere Hände kommen. Uns geht auch die heroische Geste etwa der Nihilisten ab, denn wir sehen uns mehr und mehr gefangen in einem System, dessen Bestandteil wir sind und das sich durch die Aktionen von vielen Agenten und Bedingungen auf eine nicht vorhersehbare und nicht wirklich planbare Weise hinter unserem Rücken, aber durch uns hindurch verändert.

Früher, im 19. Jahrhundert und in den Anfängen des 20. Jahrhunderts, trat mit dem Liberalismus die Theorie der Evolution auf, die in ihrer populären Form immerhin für viele aussagte, daß die unsichtbare Hand hinter der Geschichte den Fortschritt des Besseren, Tüchtigeren, Stärkeren, Gesünderen oder Anpassungsfähigeren bewirkt. Heute wissen wir, daß die Geschichte vom Zufall heimgesucht wird, an den sich nichts und niemand anpassen kann, daß das, was existiert, das zufällig Überlebende einer einmaligen, nicht wiederholbaren Ereigniskette ist, daß die blinde darwinistische Selektion auch zum Zustandekommen unserer Gedanken führt, daß aus der Theorie der Evolution sich kein Sinn und keine Aussage über die Zukunft ableiten läßt, daß Stabilität überhaupt ein Ausnahmezustand und das Leben ein Risiko ist.

Das muß nicht müde machen, allerdings verträgt sich der Zufall erst einmal schlecht mit der Vernunft: eine Erfindung Europas, mit der es seinen lange andauernden Siegeszug antrat, eine mechanische Welt und die mechanische Maschine entdeckte, unveränderliche Prinzipien, letzte Einheiten und eine, wenn auch verborgene, Endabsicht der Geschichte, die tatkräftig umgesetzt wurden. Europa hat der Welt u.a. geschenkt oder aufgezwungen: den Fortschritt, die rationale Wissenschaft und Technik, den Individualismus und die Emanzipation, den Kapitalismus und Kommunismus, den Nationalismus und Kosmopolitismus, die Menschenrechte und die Demokratie, aber auch den Faschismus und seine Vernichtungslager. Aus der Sicht Europas steuerte die Geschichte auf Europa als ihren Höhepunkt zu, ebenso wie die biologische Geschichte auf den Menschen. Aber jetzt haben wir das Gefühl, daß wir, die Menschen in Europa, zumindest im westlichen Europa, in der Alten Welt, müde geworden sind, daß wir vergreisen, daß es uns weitaus schwerer fällt, an die permanente Aufbruchsstimmung, das Go West, die technischen Utopien zu glauben, die aus der Neuen Welt mit stets neuen Versprechungen kommen. Die einstmals von Europa beherrschten Ländern scheinen uns zu überrunden. Uns scheint der Optimismus und vielleicht auch die Naivität abzugehen, an das strahlende Morgen einer aufgehenden Welt zu glauben, die hinter den zerbröckelnden Ruinen der untergehenden steht.

Fortschritt als Anpassung?

Der Alten Welt wird immer gesagt, sie habe den Anschluß verloren, sie halte an Modellen fest, die veraltet sind. Tatsächlich haben wir keinen Schwung. Alles, was wir anpacken, scheint daneben zu gehen, lustlos ausgeführt zu werden. Europa, der Traum von einer Einheit, ist weiter entfernt denn je. Fraglich ist schon, ob wir überhaupt den Euro hinkriegen. Begeisterung löst Europa, eine große Völkergemeinschaft, jedenfalls nicht mehr aus, höchstens geht von dieser Idee noch der Zwang aus, zu irgendeiner Einheit kommen zu müssen, um nicht unterzugehen. Das kennzeichnet ganz allgemein die Stimmung. Die Vorgaben werden woanders, in der Neuen Welt, gemacht.

Wir, so sagt man uns und so glauben wir, müssen uns anpassen, die Entwicklung nachvollziehen, um den Standort, um uns zu retten. Da kommt keine Begeisterung auf. Die Politik agiert im leeren Raum, hat ihren Einfluß verloren, ist orientierungslos geworden, schwankt zwischen Anpassung an das Neue und einer verzweifelten Bewahrung, kann sich aus den alten Gegensätzen und Handlungsstrategien nicht lösen. Mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Staaten und dem Fall der Mauer schien von Europa noch einmal ein neuer Aufbruch auszugehen. Die Hoffnungen waren groß und sind schnell verflogen. Die postkommunistischen Ländern haben den Anschluß an den Reichtum und die Demokratie nicht so schnell gefunden, wie es die Menschen erwartet haben. Konflikte brachen auf, die wir längst überwunden zu haben glaubten. Nun ist man zwar ex- oder postkommunistisch, aber der Aufbruch ist versiegt und es scheint, als würde die Vergangenheit Europa erneut einholen. Die Alternativenlosigkeit des Kapitalismus hat im Zeitalter der Globalisierung das Versprechen verloren, für alle zu einer Welt zu führen, in der die Menschen frei sind und ohne Not leben können.

Europa, die Alte Welt, jahrhundertelang daran gewöhnt, technisch, wissenschaftlich, ökonomisch, kulturell und militärisch vorne zu stehen, die Welt zu kolonialisieren und ihr die in der europäischen Kultur geprägten Ideen aufzuzwängen, sieht sich plötzlich an den Rand gestellt. Wenn man nicht überrollt werden oder nur reaktiv seine Grenzen bewahren und sichern will, dann scheint man die Richtung umkehren zu müssen: Man muß aufbrechen in neue Räume, die man kolonialisiert, denen man die eigenen Gesetze aufzwingen kann, die Freiheit, Reichtum und Abenteuer versprechen, die einen hoffnungsvoll vorwärts und in die Zukunft schauen lassen, die Orientierung verschaffen, was, zumindest traditionell, immer mit einer Trajektorie im Raum, mit Fortschritt, mit dem Verlassen des Cocooning verbunden ist.

Technische Utopien

Daran scheint man in der Neuen Welt mit ihrer Tradition der Kolonialisierten, nicht des Kolonisation wie in Europa, noch besser anschließen zu können. Ich stelle nur eine Position vor, die mir paradigmatisch für die Verknüpfung des amerikanischen Traums vom Go West und einer Frontier mit einer politischen Hoffnung und einer technischen Grundlage zu sein erscheint und die von den neuen Utopisten, den Cyberspace bereits hinter sich lassend oder eher ihn voraussetzend, immer mehr geteilt wird. Gleich ob es sich um die Besiedlung des Weltraums oder des Cyberspace handelt, um den Umbau des Menschen, den bedingungslosen Liberalismus oder anderen technischen Visionen handelt, so scheinen hier noch Hoffnungen möglich zu sein, die wir längst verloren haben. Aber vielleicht ist das langfristig - keinesfalls jetzt - auch eine Chance von Europa.

Robert Zubrin von der NASA hat, übrigens schon bevor der Stein vom Mars mit den möglichen Lebensspuren gefunden wurde, dafür plädiert, den Mars als neue Frontier Amerikas in Angriff zu nehmen, um "die Seele Amerikas wiederherzustellen." Am Grunde der amerikanischen Seele, deren Merkmale eine egalitäre Demokratie, Individualismus und eben Innovationsgeist seien, befinde sich die "Existenz der Frontier". Amerika ist aus der globalen Besiedlungswelle hervorgegangen, die das Zeitalter der Entdeckungen für Europa eröffnete. Doch jetzt, nachdem die Besiedlungswelle schon seit 100 Jahren in Kalifornien, der westlichen Grenze, angekommen sei, stelle sich die Frage, was mit Amerika geschehe, wenn die Frontier verschwunden ist. "Kann eine freie, egalitäre, dekokratische, innovative Gesellschaft mit einem Geist des Machens erhalten werden, wenn der Raum zum Wachsen verschwunden ist?" Alles verschlechtert sich, weil nur die grenzenlose Bewegung und die Schaffung von Neuem eint. Daran aber muß man festhalten, weil es keine Alternative zum westlichen Lebensstil gibt: "Die westliche humanistische Zivilisation, wie wir sie kennen und heute schätzen, wurde durch Expansion geboren, sie reifte durch Expansion und kann nur in einer dynamischen Expansion weiter existieren." Als die Eroberer und Einwanderer aus Europa kamen, haben sie die alten Herrschaftssysteme hinter sich gelassen.

Amerika war kein Land, in dem man einfach lebte, sondern ein Ort für "Weltenbauer". Was dabei mit den Ureinwohnern passiert ist, wird allerdings stillschweigend übergangen, ebenso wie die Neueinwanderer, die ja auch ihrer Kultur entfliehen, offenbar dem weiteren Aufbau Amerikas nichts beizutragen haben. Sie können nur als "Last" empfunden werden, weil es ohne neues Land keine Arbeit mehr gibt. Amerikas Mission für die Welt geht ohne Raum, den man besiedeln und erobern kann, die Luft aus: "Ohne eine Frontier, von der man Luft zum Atmen erhält, verschwindet der Geist, der die progressive humanistische Kultur hervorgebracht hat, die Amerika der Welt während der letzten Jahrhundert offeriert hat. Das Problem ist nicht nur der nationale Verlust - der Fortschritt der Menschen benötigt eine Avantgarde, aber es ist kein Ersatz in Sicht."

Ohne neue Frontier, ohne Entdeckungsfahrten in eine unzivilisierte Wildnis, sterben alle Werte der Aufklärung ab. Die Erde ist bereits zu erschlossen und vernetzt: "Wenn Menschen die Würde erhalten sollen, die durch die Erschaffung ihrer eigenen Welt entsteht, dann müssen von der alten Welt frei sein." Der Mond ist einfach noch zu nahe an der Erde und überhaupt ist er für Menschen zu unfreundlich, während der Mars alles hat, was man benötigt, und zudem weit genug weg ist, "um seine Siedler von der intellektuellen, legalen oder kulturellen Vorherrschaft der alten Erde zu befreien."

Natürlich aber geht es auch um den technischen Fortschritt, der noch bis zum Kalten Krieg angehalten hat, jetzt aber mehr und mehr stagniert. Für einen erneuten Schub der technischen Innovation und damit für wirtschaftliche Macht würde eine Besiedlung des Mars sorgen: "Man stelle sich eine entstehende Zivilisation auf dem Mars vor. Ihre Zukunft würde entscheidend vom Fortschritt der Wissenschaft und Technologie abhängen. Genau wie die Erfindungen, die durch den "Yankee-Geist" des Frontier-Amerikas hervorgebracht wurden, eine mächtige Antriebskraft für den weltweiten menschlichen Fortschritt während des 19. Jahrhunderts darstellten, so würde der "Mars-Geist", der in einer Kultur entsteht, die Intelligenz, praktische Ausbildung und den Zwang, wirkliche Beiträge zu liefern, am höchsten schätzt, weit mehr als seinen normalen Anteil an wissenschaftlichen und technologischen Durchbrüchen hervorbringen und so den Fortschritt der Menschen im 21. Jahrhundert dramatisch beschleunigen."

Auch eine solche Vision ist keineswegs frei von Müdigkeit, vor allem von der Angst vor der Müdigkeit, aber in ihr steckt noch der für uns reichlich naive Glaube, an eine Tradition anschließen zu können, deren Verfolgung alle Probleme irgendwie auflösen kann, und der Glaube, daß das eigene Volk eine Mission besitzt, die Avantgarde der Menschheit darstellt. In seiner Inaugurationsrede sprach Bill Clinton voll Pathos vom amerikanischen Traum, von der großen Reise, von den großen Zielen. Wer könnte derartiges von Europa noch sagen wollen, etwa vom europäischen, deutschen, französischen, englischen, russischen oder ungarischen Traum sprechen, an dem die Welt genesen wird?

Ich komme gerade aus Asien zurück. In vielen Ländern herrscht dort eine unglaubliche Dynamik. Staaten, die noch vor kurzem als Entwicklungsländer galten, werden sich innerhalb einer einzigen Generation in den Kreis der führenden Industriestaaten des 21. Jahrhunderts katapultieren. Kühne Zukunftsvisionen werden dort entworfen und umgesetzt, und sie beflügeln die Menschen zu immer neuen Leistungen.

Aus der Rede von Roman Herzog

Als der Bundespräsident in seiner Erneuerungsermahnung zum fälligen "Aufbruch ins 21. Jahrhundert" die Schlaffheit der Deutschen und der deutschen Elite beklagte und zur Bildung von neuen Visionen und deren Umsetzung aufrief, fiel auf, daß auch er keine neuen Visionen anbieten konnte, daß sein Aufruf eher ein Symptom für die große Müdigkeit als ein Zeichen für einen Aufbruch war. Rutschen die europäischen Länder also in eine Stagnation? Oder sind die neuen Regierungen Englands und Frankreichs ein Zeichen für einen Aufbruch? Für Visionen ist Zeit notwendig, ein Austritt aus der schnellen Reaktion auf Tagesereignisse und aktuelle Entwicklungen. Insofern könnte der Eindruck der Müdigkeit auch auf eine Latenzphase hindeuten, die möglicherweise einen alternativen Weg in die Zukunft erschließt.