Die heimliche Hauptstadt Europas

Appelle an die Vernunft: Istanbuls Kulturszene, Orhan Pamuks Nobelpreis und die Türkei

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Wo sie sind, ist Europa: Türkische Künstler gehören zu den interessantesten der Gegenwart, und keine Metropole des Kontinents ist derzeit so lebendig wie Istanbul. Hier kann man alles entdecken, was unsere Epoche prägt: Eine vielfältige und verzweigte Kultur, ein Land zwischen Moderne und Tradition. Istanbul ist eine einzige Passage zwischen Ost und West, Islam und Christentum, Europa und Asien. Der diesjährige Nobelpreisträger Orhan Pamuk steht nur beispielhaft für eine pluralistische und liberale Türkei, die nach Europa drängt. Natürlich gibt es auch eine andere, der das ganze Projekt Europa ein Dorn im Auge ist. Hier gibt es keine Neutralität. Europa steht vor einer klaren Alternative, und wird sich entscheiden müssen, welchen Weg der Türkei es bevorzugt. Wenn Europa die Türkei nicht integriert, wird es selbst am stärksten unter den Folgen leiden.

Orhan Pamuk

Entschuldigen Sie bitte, dass ich so viel von Politik gesprochen habe.

Orhan Pamuk, gegen Ende seiner Friedenpreisrede in Frankfurt, 23.10.2005

Der Papst war gerade in der Türkei, Pamuk erhält den Nobelpreis für Literatur, und 2008 wird die Türkei Gastland der Frankfurter Buchmesse sein: Auch dies ist Teil eines Wandlungsprozesses der Türkei, ihrer Öffnung und ihrer Annährung an Resteuropa. Insbesondere das Istanbuler Geistes- und Kulturleben ist es wert, stärker ins kollektive Bewusstsein der Deutschen - auch der türkischen Einwanderer in Deutschland - und der übrigen EU-Bürger zu gelangen.

Mit Orhan Pamuk hat man einen Autor geehrt, der wie wenige gegenwärtige Schriftsteller mit beiden Beinen in der Mitte der klassischen europäischen Tradition steht. In dessen Elternhaus Thomas Mann, Balzac, Dostojewskij und Cervantes ständige Mitbewohner waren. Der den Roman als "eine der bedeutendsten Kunstformen, die Europa je hervorgebracht hat", schätzt:

In all den Romanen, die ich in meiner Jugend las, wurde Europa nicht über das Christentum definiert, sondern vielmehr über den Individualismus. Europa wurde mir auf attraktive Weise durch Romanhelden vermittelt, die um ihre Freiheit kämpfen und sich verwirklichen wollen.

Man ehrt einen Mann aus der liberal-bürgerlichen Istanbuler Oberschicht, der sich der Traditionen des neuzeitlichen Europas, seines Freiheitsgedankens stärker bewusst ist als viele andere Künstler und Politiker, der Europas Verschmelzung des antiken und des mittelalterlichen Erbes und dessen Weiterentwicklung zu aufgeklärten, demokratischen, kurzum modernen Lebensverhältnissen auch gegen dessen eigene anti-freiheitliche Kräfte, gegen ein Europa, das sich ausschließlich über die Vergangenheit definiert, sehr bewusst verteidigt:

Ich für mein Teil bin überzeugt, dass der Friedensgedanke das Herzstück der Europäischen Union ist.

"Die anderen Farben"

Istanbul ist die geistige Hauptstadt der Türkei, ein Ort, der weder von den staatstragenden Verwahrern des Atatürk-Erbes dominiert wird, dessen einstiger autoritärer Modernismus sich längst in einen ganz typischen Konservatismus gewandelt hat, noch von den neuen moderaten Islamisten der AKP, die gerade an der Regierung sind und still und heimlich daran arbeiten, den Laizismus der Türkei von Innen auszuhöhlen, Staat und Gesellschaft umzudefinieren in einen "ganz normalen" "islamischen Staat". Hier geben jüngere Künstler den Ton an, hier ist die Verbindung der östlichen und der westlichen Kultur höchst produktiv.

In der Literatur repräsentiert Pamuk auch den Abschied von der Generation eines Yasar Kemal, der vor Pamuk der bekannteste Autor der Türkei war - in Position und literarischer Tradition am ehesten Günter Grass vergleichbar. Kemals Bücher sind Epen der Provinz, Geschichten über Bauernjungen und Großgrundbesitzer, klassischen Mustern verhaftet, etwas altbacken im Ton und bieder in der Moral. Damit ist Kemal durchaus nicht repräsentativ für die türkische Literatur. Schon Romane wie "Ak-Memnu" von Halit Ziya Uaklgil, der verführerisch das Lebensgefühl am Ende des Osmanischen Reichs portraitiert, auch "Hotel Heimat" von Yusuf Atlgan spart weder die Lage der Minderheiten, noch Sex und Drogenkonsum aus.

Orhan Pamuk

Trotzdem steht Pamuk für etwas grundsätzlich Neues, für eine urbane Türkei, so säkular-republikanisch, wie manche westliche Länder nicht, vielschichtig, multikulturell, spielerisch und amoralisch. Man findet sie auch in "Tuhaf bir Kadn" ("Eine seltsame Frau") von Leyla Erbil oder in Ahmet Ümits Krimi "Nacht und Nebel". Diese Autoren berufen sich auf Freud, Proust, Borges und Eco, ihre Werke sind von politischen und philosophischen Fragestellungen durchdrungen. Sie bewegen sich virtuos wie Seiltänzer zwischen den Kulturen, getrieben von Neugier und innerer Unruhe - Einblicke in die Befindlichkeit einer Gesellschaft zwischen Orient und Okzident.

"Orhan Pamuk ist nicht mehr allein", schreibt der deutsch-türkische Auor Zafer Senocak:

Die junge Generation von Schriftstellern, die ihm gefolgt ist, unter ihnen auffallend viele Autorinnen, hat sich inzwischen gänzlich losgelöst von einer ideologisch manipulierbaren Auftragskunst, zeichnet sich durch hohe stilistische Sensibilität, Einfallsreichtum und einen spielerischen Umgang mit den Traditionen aus. Der Gegensatz zwischen der so genannten "orientalischen" Tradition und einer westlich geprägten Moderne ist aufgehoben, die Moderne selbst eine Variante der Tradition mit deren widersprüchlichen Deutungsmustern, die komische und traurige, in jedem Fall aber die vieldeutigen Aspekte, aus unterschiedlichen Perspektiven beschreiben lassen. So wird eine neue adäquate Sprache für Geschlechterdifferenzen gefunden, Identitätsfixierungen werden aufgelöst, die widersprüchliche Transformation der türkischen Gesellschaft erfasst. Diese Wendung hat die moderne türkische Literatur wirklich auf Augenhöhe mit der europäischen Literatur der Gegenwart gebracht.

"Die Türkei ist ein Land, das sich seiner Multikulturalität allmählich bewusst wird."

Das entspricht einer gesellschaftlichen Situation, dem starken Wandel der Türkei seit Ende der 90-er Jahre: "Unzählige politische Tabus werden heute öffentlich gebrochen." sagt die Krimiautorin und Juristin Esmahan Aykol, "Diejenigen, die den Demokratisierungsprozess umkehren wollen, sind in der Defensive."

Das relativiert die Aufmerksamkeit interessierter Kreise an den Schattenseiten der türkischen Gegenwart. Natürlich: Es gibt noch immer den Gummiparagraph 301, mit dem immer wieder mal Intellektuelle wegen "Herabsetzung des Türkentums" vor Gericht gezerrt und mit Haftstrafen bedroht werden. Aber er wird in der Türkei selbst höchst kontrovers diskutiert. Und wer wurde wirklich verurteilt? Tatsächlich ist die Abschaffung des Paragrafen nur eine Frage der Zeit.

Es gibt Fehler, in die ein westlicher Beobachter im Zusammenhang mit der modernen Türkei leicht verfällt. Einer davon ist der Irrtum, die geistige Landschaft der Türkei nur gemäß der Frontstellung Laizismus gegen Islam zu kartographieren, sie nur als Ort der Begegnungen und Konflikte zwischen Ost und West zu betrachten. Das Bild ist weitaus vernetzter, vielfältiger und disparater. Der Istanbuler Philosoph Önay Sözer etwa plädiert dafür, die Metapher von der Türkei als "Brücke" zu verabschieden. Das Land sei seit der Antike ein "Ort europäischer Philosophie". Die Wurzeln des Römischen Rechts liegen eben in Istanbul, als es noch Ost-Rom hieß.

Darauf weist auch die in Istanbul geborene, in Frankfurt ausgebildete und heute an der Yale University lehrende Philosophin Seyla Benhabib hin: "Die Türkei ist ein Land, das sich seiner Multikulturalität allmählich bewusst wird." Die politische Geschichte aller moderner Nationalstaaten zeige sich grundsätzlich als Übergang "von Konzepten der Gemeinschaftlichkeit, die als Gleichartigkeit verstanden wurde, hin zu Konzepten von Gemeinschaftlichkeit, die als Gleichwertigkeit von Bürgern verstanden wird, die mit bestimmten Rechten ausgestattet sind." Die Türkei sei derzeit im Übergang zu einer solchen reifen multikulturellen Demokratie, so Benhabib: "Bei dieser Entwicklung gibt es freilich keinerlei Automatismus." In Istanbul, der einzigen Stadt der Welt, die sich über zwei Kontinente erstreckt, kann man beide Thesen, die optimistische und die skeptische, ideal ablesen.

"Man muss sich hüten, nur der Idylle zu verfallen."

Auch wer sich für Reichtum und Vielfalt der türkischen Kinotradition interessiert, muss nach Istanbul fahren. Hier kann man alles sehen: Neben aktuellen amerikanischen Blockbustern und den Klassikern des europäischen Autorenkinos laufen hier immer auch wieder alte türkische Filme. Besonders im Beyoglu-Viertel am Pera-Berg, im moderneren Teil des europäischen Istanbul, der größtenteils in der Belle Epoque um 1900 gebaut wurde. Hier befindet sich der "Boulevard", die Haupteinkaufsmeile, die sich in nichts von der westeuropäischer Metropolen unterscheidet, die Häuser haben Fassaden im Pariser Stil - tatsächlich gibt es hier auch noch viele jener berühmten Einkaufspassagen, die in Paris längst verschwunden sind - und auf einem der Hauptplätze steht das französische Gymnasium, das es bereits seit fast 500 Jahren gibt, und das noch heute die viele Kinder des Istanbuler Bürgertums besuchen.

Beyoglu-Viertel

Wenn man die Augen zu macht, ist der Duft süß, der in die Nase steigt. Darum sollte man das tun, irgendwann einmal, obwohl es in Istanbul sonst wenig Gründe gibt, die Augen zu schließen. Es stimmt alles, was über die pralle Sinnlichkeit dieser Stadt gesagt wurde: Von Chateaubriand über den Dunst des Morgens, den Wind des Mittags und die Röte der Abendsonne, von Flaubert über die Schönheit der Frauen, von Moltke über die Genüsse des Hamam. In Beyoglu finden sich auch jene alten, etwas heruntergekommenen Kinos, in denen schon viele Generationen von Istanbuler Türken - und späteren Regisseuren - ihre Filmbildung erfuhren. Zumindest in einigen Ecken spürt man auch nach der zehnten Renovierung der Innenräume noch etwas von der Atmosphäre der 20er Jahre, in denen sie gebaut wurden.

"Man muss sich hüten, nur der Idylle zu verfallen", sagt Attila Dorsay, Nestor der türkischen Filmkritik und einer der führenden Intellektuellen der Stadt. Dorsay gehört zu jener Gruppe von Filminteressierten, die hier Anfang der 80er-Jahre das Internationale Filmfestival aufbauten, das wichtigste Festival des Landes, das heute rund 200 Filme zeigt, und 2006 sein 25jähriges Bestehen feierte.

Kraftfeld aus widerstrebenden Kräften

Wer sich mit dem aktuellem türkischen Kino vertraut macht, entdeckt alle Charakterzüge, die auch Istanbul selbst prägen: Diese Filme sind Passagen zwischen Ost und West, Islam und Christentum, Europa und Asien. Und damit immer auch Passagen durch die türkische Gesellschaft selbst. Das gilt schon durch so merkwürdige, auf den Ausländer erst einmal sehr fremd wirkende Werke, wie Serdar Akars "Tal der Wölfe", der im Frühjahr auch in Deutschland für Furore sorgte (vgl. Von einer Gesellschaft, die auszog, das Gruseln zu lernen), und für Kartal Tibets "Dünyayi Kurtaran Adamin Oglu" ("Der Sohn des Mannes der die Welt rettete"), die lang erwartete Fortsetzung des B-Movie-Klassikers "Turkish Star Wars".

Gleich mehrere der erfolgreichsten und besten türkischen Filme dieses Jahres entfalten ausgiebig das Kraftfeld des Zusammenlebens von drei Generationen und widmen sich den ihm innewohnenden widerstrebenden Kräften. Ganz schön dramatisch geht es dabei in "My father and son" zu, der auch in Deutschland in einigen Kinos lief: Regisseur Cagan Irmak zieht alle Melo-Register. Gleich am Anfang gibt es eine Sturzgeburt im Park, die Mutter stirbt, weil weit und breit keine Hilfe kommt. Schuld daran ist der Militärputsch, der sich just in der gleichen Nacht des Jahres 1980 ereignet hat, und der in der türkischen Gesellschaft bis heute noch traumatisch nachwirkt. Nur wenige trifft man unter dem liberalen, bildungsbürgerlichen Publikum in Istanbul, die nicht zumindest Verwandte haben, die damals verhaftet und möglicherweise auch gefoltert wurden.

Geschickt verknüpft der Film diesen politischen Hintergrund mit der Geschichte von der Rückkehr eines verlorenen Sohnes aufs Land. Der kleine Enkel führt die Familie und vor allem die Männergesellschaft zusammen. Erst gegen Ende geht das wohlaustarierte Gleichgewicht zwischen Privatem und Politischem verloren, siegt die Sentimentalität - was dem generationsübergreifenden Erfolg zugute kommt: Filme wie dieser sind wirkliche Publikumsrenner.

Immerhin 40 Prozent Marktanteil haben einheimische Filme in den letzten Jahren erobert, eine Quote, die nur von Indien, Korea, Frankreich und den USA übertroffen wird. Und abgesehen von den Stars und Sternchen aus Hollywood gibt es in der Türkei auch eine ganz eigene Starkultur. Diese Tradition und die unglaublich vielfältige Kinokultur der türkischen Gegenwart wird in Europa noch zu wenig wahrgenommen; dabei ist türkisches Kino hip. "Lange hat das türkische Kino im eigenen Saft gekocht. Aber jetzt öffnen wir uns modernen Filmsprachen und wollen international verstanden werden", meint Dorsay.

Sein Kollege Engin Ertan, mit knapp 30 ein Repräsentant der jüngeren Generation, ist skeptischer:

Die Türkei hat zwar eine große Tradition, aber eine echte Filmkultur existiert gegenwärtig eigentlich nicht - selbst in Istanbul, wo die Intellektuellen leben, gibt es zuwenig produktiven Streit, stattdessen nur Profilierungskämpfe.

Ein internationaler Erfolgsregisseur wie Nuri Bilge Ceylan sei eine Ausnahme, zudem produziere er seine Filme vor allem für ein kleines elitäres Publikum auf den Filmfestivals. Aber auch Ertan konstatiert, dass neben Ceylan noch einige weitere Filmemacher aus dessen Generation der zwischen 40 und 50jährigen Regisseure aus Istanbul internationale Erfolge feiern: Etwa Semih Kaplanoglu, Zeki Demirkubiz und Yesim Ustaoglu, die alle politisch nach 1980 durch die Opposition zur Militärdiktatur sozialisiert wurden und heute in engem persönlichen Austausch unter low budget-Bedingungen distinguierte, strenge, international sehr erfolgreiche Filme machen, die sich an Ozu, Bresson und Wenders orientieren - das künstlerische Gesicht des türkischen Gegenwartskinos.

Und täglich ruft der Muezzin...

Zu ihnen gehört auch Reha Erdem. Mit "Kac para kac" und "Whats human anyway?" wurde er einem breiteren Publikum bekannt. "Wir haben die gleichen Erfahrungen gemacht: Unterdrückung und bleierne Zeit in unserer Gesellschaft, die wir für liberal hielten. Wir haben gegen die Militärs demonstriert, im Untergrund gekämpft." erinnert er sich:

Das war eine prägende Erfahrung, weil wir bereits alt genug waren, um alles ganz bewusst zu erleben. Und heute sind es die gleichen Militärs, welche die offene Gesellschaft vor den Fundamentalisten schützen. Es ist paradox!

Erdems viertes Werk, der glänzend fotografierte "5 Times" (i.O.: "Bec Vaket") ist das sperrige Gegenstück zu "My father and son": Auch hier drei Generationen in einem Dorf in den Bergen. Unter strahlendblauem Himmel, in archaisch karger, zeitloser Landschaft konzentriert sich der Film auf die sorgfältige Beobachtung dreier Kinder. Zwischen täglichen Verrichtungen, Schule, Arbeit und kleinen Freuden, wie dem Buch, dass die Dorfschullehrerin der neugierigen Bauerntochter zur - heimlichen - Lektüre borgt, werfen die Kinder ihren eigenen Blick auf die Welt der Erwachsenen, passen sich stumm dem Rhythmus von deren Leben an und distanzieren sich zugleich innerlich völlig. Vieles ist tragisch und schwer, manches federleicht, Schuld und Sühne verschwimmen im Kreisel der unendlichen Wiederkehr des Gleichen - und täglich ruft der Muezzin, der den Tag in die titelgebenden fünf Zeiten teilt... In der Zusammenschau mehrerer Filme zeigen sich Konturen der geistigen Situation der Türkei: Immer wieder gibt es dieses Wechselspiel zwischen Gehen und Zurückkehren, Aufbruch und Dableiben, das zumeist im Konflikt zwischen Stadt und Land und der Generationen ausgetragen wird.

Vor zuviel Idyllisierung hütet einen allerdings schon der Alltag. Fast jeden öffentlichen Raum, auch viele Cafés und Geschäfte betritt man durch eine Sicherheitsschleuse, wie am Flughafen muss man Tasche und Handy abgeben. Das wird schnell Gewohnheit, die kaum noch wahrgenommen wird, doch immer wieder blitzt kurz die Erinnerung auf, dass erst im November 2003 eine Serie schwerer Bombenanschläge Dutzende von Todesopfern forderte. Um die Ecke liegt auch die britische Botschaft, die damals durch eine Bombe zerstört wurde - hinter meterhohen Sandsäcken arbeitet man eifrig am Wiederaufbau.

Direkt daneben beginnt der Fischbasar: Laut wird gehandelt, man kann die Ware betasten, probieren, glücklich eintauchen in Verhältnisse, die bald die EU-Gesundheitspolizei verbieten will. Und schon ein kurzer Weg macht die Kontraste verständlicher als viele Filme. Istanbul ist zugleich der Okzident des Orients, wie umgekehrt. Istanbul ist nach Westen orientiert, eine europäische Stadt, aber von nicht wenigen schon seit dem Fall Konstantinopels nicht mehr als solche akzeptiert, nur als "Einfallstor" gefürchtet, im Osten aber nie wirklich angekommen - und als solche sehr repräsentativ für ein Land, das in jene gespalten ist in türkisches Nationalgefühl und Abwehr von allen osmanischen Traditionen, gespalten auch in die Lebensentwürfe verschiedener Generationen.

Das Bündnis der Frauen

Auch viele Film-Regisseure verbindet, dass sie ihre Gesellschaft und ihr Land in Frage stellen - das Kino ist definitiv anti-patriotisch, und kritisiert die Türkei und die gesellschaftliche Wirklichkeit im Detail sehr offen. Die sehr verschiedenen Filmsprachen geben Einblick in die tiefe Zerrissenheit des Landes zwischen Modernität und Tradition. Sex ist hier auch auf der Leinwand längst kein Tabu mehr, und Kopftücher sieht man dort so wenig, wie auf der Straße.

Nur einige alte Frauen tragen eins und diejenigen der Jüngeren, denen man schon von weitem, an ihren, in Unsicherheit und Neugier gemischten Blicken, ihrer einfachen, überhaupt nicht modischen Kleidung, ihren muskulösen Händen ansieht, dass sie vom Land kommen. Die Istanbuler, vor allem die jungen schimpfen auf sie: "Bauern", "Primitivlinge", und "sie verändern das Gesicht der Stadt", mit Hinweis darauf, dass die Einwohnerzahl Istanbuls, wo 1920 noch gut 500.000 Menschen wohnten, heute knapp über der 10 Millionen-Grenze liegt. Viele Arme, die hier vergeblich Arbeit suchen, hausen unter erbärmlichen Umständen in den Vororten der Metropole.

Mitunter entsteht durch diese Filme ein eher düsteres Bild des Landes. Neben dem nur begrenzt unschuldigen Kinderblick aus "My father and son" und "5 Times" sind die neuen Helden vor allem junge urbane Frauen. Im Zentrum von "Two Girls" von Kutlug Ataman, der ebenfalls gerade in Deutschland läuft, steht die Freundschaft zweier Mädchen, die sich vor allem darin gleichen, dass sie von ihrer Umgebung nicht verstanden werden, und im Grunde nur für die Wunscherfüllung ihrer Mütter instrumentalisiert werden. Das untergründige Thema ist dabei das feste Bündnis der - älteren - Frauen, von "overprotective-aggressive" Müttern, das eine wichtige Säule der türkischen Männergesellschaft bildet und nichts schärfer sanktioniert als weibliche Ausbruchsversuche.

"Die Türkei ist in einer unglaublich spannenden Phase." findet Ataman, der neben Spielfilmen auch als Videokünstler bekannt wurde. "Alles gärt hier. Eigentlich lebe ich in London und Deutschland, aber zur Zeit zieht es mich oft hierher." Die Situation sei aber auch gefährlich: "Unter der Oberfläche ist der Konflikt zwischen Modernisieren und Traditionalisten da." Forciert werde er noch durch den Druck der EU, das Land "beitrittsfähig" zu machen. "Ich bin für Europa und die Öffnung der Türkei, aber die Anpassungspolitik hat auch ihren Preis." ergänzt Engin Ertan dazu:

Es dient vor allem den Interessen der Wirtschaft, und ich bin nicht sicher, wie sehr der EU-Beitritt der Türkei wirklich nutzt.

Die inneren Brüche der türkischen Gesellschaft zeigten sich vor allem an der Situation junger, moderner Frauen, so Ataman weiter: "Ich wollte das in meinem Film nicht schönfärben, sondern in der ganzen Härte, auch in den paradoxen Konsequenzen zeigen."

Die Verschiedenheit dieser Perspektiven vereint die Hauptfigur von Mustafa Altioklar an Klassiker wie "Das Schweigen der Lämmer" und "Seven" angelehnten Thriller "Shattered Soul", auch sie eine junge Frau aus Istanbul, die an einem multiplen Persönlichkeitssyndrom leidet. So kämpfen in ihrer Psyche eine fürsorgliche Lehrerin, ein kleines Mädchen, ein Schlampe und eine fundamentalistische Predigerin miteinander - ein treffendes Mosaik von Varianten türkischer Weiblichkeit. Im Gewand des Genrefilms erzählt Altioklar auch von den unversöhnten Differenzen einer Gesellschaft zwischen türkischer Tradition und europäischer Zukunft.

Es gibt keine Neutralität

Orhan Pamuk steht nur beispielhaft für eine pluralistische und liberale Türkei, die nach Europa drängt. Natürlich gibt es auch eine andere, der das ganze Projekt Europa ein Dorn im Auge ist. Wer sich mit seinem Werk und seinen öffentlichen Äußerungen beschäftigt, erkennt, dass Europa vor einer klaren Alternative steht, gegenüber der es keinen Mittelweg - die verlogene Ausrede von einer "privilegierten Partnerschaft" - gibt, keine Neutralität: Egal, wie man sich in den kommenden Jahren verhält, man wird mit seinem Handeln entweder die offene, multikulturelle, liberale, laizistische Türkei unterstützen, oder die europafeindliche, dumpf-nationalistische, antimoderne, islamische, entweder die Aufklärer und Verwestlicher oder die rechten Populisten.

Diese Entscheidung wird Europas Beziehungen zur islamischen Welt für die nächsten Jahrzehnte bestimmen: Zwischen Integration und Feindschaft, Fähigkeit zum Dialog und kulturkriegerischer Abschottung. In Pamuks Worten:

Wer an die Europäische Union glaubt, sollte einsehen, dass es hier um die Alternative zwischen Frieden und Nationalismus geht. Hier liegt die Entscheidung, die wir treffen müssen. Frieden oder Nationalismus.

Es lohnt sich, noch einmal auf Pamuks Paulskirchenansprache zu schauen, mit der er sich im Vorjahr für die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels bedankte. Die Romankunst als solche, heißt es da, habe mit der Tatsache zu tun, "wie wir uns den 'anderen' in unserem Kopf, den 'Fremden', den 'Feind' allmählich aneignen." Das genau ist, es was in der Türkei gerade geschieht und was umgekehrt in Europa überfällig ist.

Werke Orhan Pamuks auf deutsch: "Istanbul"; Hanser Verlag 2006 "Der Blick aus meinem Fenster. Betrachtungen"; Hanser Verlag 2006 "Schnee", Roman; Hanser Verlag 2005 "Rot ist mein Name", Roman; Hanser Verlag 2001; Fischer Taschenbuch 2004 "Das neue Leben", Roman; Hanser Verlag 1998; Fischer Taschenbuch 2000 "Das schwarze Buch", Roman; Fischer Taschenbuch 1997 "Die weiße Festung", Roman; Suhrkamp Verlag 1990