Die höhere Instanz

Seit Monaten debattiert Polen über den Einfluss der Kirche auf den Staat und die Gesellschaft, dazu kommen Korruptionsskandale und Erpressungsversuche der Kirche

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Am 10. November war es wieder so weit. Wie an jedem 10. eines Monats, zur Erinnerung an an den ehemaligen Präsidenten Lech Kaczynski, der am 10. April zusammen mit 95 weiteren Personen bei einem Flugzeugabsturz in Smolensk ums Leben kam (Polen - Land im Ausnahmezustand), versammelten sich vor dem Präsidentenpalast in Warschau dessen Anhänger, um an dessen Tod zu erinnern und gleichzeitig gegen die aktuelle Regierung zu demonstrieren.

Doch an die Dimensionen des diesjährigen Sommers, als fanatische Kaczynski-Anhänger ein von Pfadfindern als Zeichen ihrer Trauer um die Opfer der Smolensk-Katastrophe aufgestelltes Kreuz dazu missbrauchten, gegen die aktuelle Regierung zu demonstrieren und sich als einzig wahre Polen darzustellen (Kann nur ein Katholik ein guter Pole sein?), konnte diese Kundgebung nicht heranreichen. Es waren geschätzt gerade mal 1.500 Leute, die sich mit Kreuzen bewaffnet vor dem Präsidentenpalast versammelten, Kerzen anzündeten, Blumen niederlegten zwischendurch beteten und politische Parolen brüllten. "Hier ist Polen und nicht Moskau" oder "Wir sind Polen" war unter anderem an dem Abend aus der Menge zu hören.

Aber auch wenn diese Demonstration nur wenige Stunden andauerte, zeigt sie doch, dass die Diskussion um das Holzkreuz vor dem Präsidentenpalast noch nicht abgeebbt ist. Dabei hätte dieses leidige Kreuzthema eigentlich längst beendet sein können. Am 16. September um 8 Uhr morgens entfernten Sicherheitsleute der Präsidialkanzlei ohne jegliche Ankündigung das zum Politikum gewordene religiöse Symbol und brachten es in die Kapelle des Präsidentenpalastes. "Das ist der richtige Schritt, um all das zu beenden, was zu einer Eskalation des Konflikts hätte führen können, dessen Zeuge wir in den letzten Wochen wurden", erklärte darauf der ehemalige Generalsekretär der polnischen Bischofskonferenz, Tadeusz Pieronek, und äußerte zudem sein Bedauern, dass diese Entscheidung nicht schon eher gefallen ist.

Die Einschätzung ist nicht falsch. Schon ein Machtwort von Jaroslaw Kaczynski hätte wahrscheinlich gereicht, um diesen absurden Konflikt zu beenden. Da die polnische Politik jedoch dominiert wird von einem heftigen Streit zwischen Kaczynskis Recht und Gerechtigkeit (PiS und der Bürgerplattform (PO) von Donald Tusk, hatte Kaczynski kein Interesse an einer Beilegung des Konflikts um das Kreuz. Vielmehr nutzt er jede erdenkliche Gelegenheit, um den politischen Streit anzufeuern, wie es auch der Mord in der Lodzer Geschäftsstelle der PiS zeigt ("Ergebnis einer mittlerweile langjährigen Hass-Kampagne gegen die PiS"). Bis heute behaupten Kaczynski und seine Anhänger, dass der Mord "das Ergebnis einer langjährigen Hass-Kampagne gegen die PiS" ist und ignorieren dabei die polizeilichen Ermittlungsergebnisse. Nach Informationen der Gazeta Wyborcza, standen auf der Todesliste von Ryszard C. insgesamt 20 Politiker aus allen im Sejm vertretenen Parteien.

Die politische Neigung der katholischen Kirche

Bischof Tadeusz Pieronek vergaß in seinem Kommentar jedoch zu erwähnen, dass es in Polen eine noch mächtigere Institution als Jaroslaw Kaczynski und seine PiS gibt, die den zwei Monate andauernden Streit um das Kreuz mit einem Machtwort ebenfalls hätte beenden können: die katholische Kirche. Sie sprach zwar von einem "Missbrauch des Kreuzes zu politischen Zwecken", da die Bischöfe aber selber uneinig waren, wie sie mit der Situation umgehen sollen, vermieden sie ein klares Machtwort. Mit einem für die Kirche fatalen Ergebnis. Wie eine am 20. September veröffentlichte Umfrage des Meinungsforschungsinstituts CBOS zeigt, ist die Kirche der große Verlierer des Konflikts. Nur 54 Prozent der Befragten hatten eine gute Meinung über die Tätigkeit der Kirche. 10 Prozent weniger, als im Vormonat.

Verglichen zu Deutschland, wo die katholische Kirche im Frühjahr weniger Vertrauen genoss als Großbanken, Parteien und Aufsichtsräte, wie eine Umfrage im April dieses Jahres ergab, sind diese Werte zwar himmlisch, doch die polnischen Bischöfe hat das Ergebnis dennoch erschüttert. Zuletzt vor vier Jahren, als die katholische Kirche wegen einiger ehemaliger Stasispitzel in ihren Reihen in die Schlagzeilen geriet (Eine polnische Kulturrevolution), erzielte sie in den Umfragen so schlechte Werte.

Dementsprechend fiel die Reaktion des polnischen Episkopats aus. So scharf wie nie in den Wochen zuvor kritisierten die Bischöfe die Hauptakteure des Konflikts, ohne jedoch die Verantwortlich zu verurteilen. Und dies ist nicht besonders erstaunlich, denn eine negative Meinung über die Politik von Jaroslaw Kaczynski und seiner nationalkonservativen Partei würde für die Führung der katholischen Kirche auch einen Gesichtsverlust bedeuten. Obwohl Papst Benedikt XVI. bei seinem Besuch an der Weichsel im Mai 2006 die polnischen Geistlichen ermahnte, sich nicht in die Politik einzumischen, sah die Realität in den vergangenen Jahren anders aus.

Nicht nur der einflussreiche Redemptoristenpfarrer Tadeusz Rydzyk, der mit seinen Medien um Radio Maryja ein gewichtiger Mitspieler in der polnischen Politik ist (Die Graue Eminenz), sondern auch die Bischöfe bezogen immer wieder Position, wovon vor allem die Kaczynski-Zwillinge profitierten. Und wie hoch diese in der Gunst der Geistlichen standen und stehen, zeigte sich in den ersten Monaten nach der Smolensk-Katastrophe. Ohne die Zustimmung des Krakauer Erzbischofs Stanislaw Dziwisz, wäre es nie zu der umstrittenen Beisetzung von Lech Kaczynski und seiner Ehefrau Maria auf dem Wawel gekommen, der ehemaligen Königsresidenz und einem Nationalheiligtum der Polen.

In den Wochen des Präsidentschaftswahlkampfs engagierten sich viele Geistliche auf unterschiedliche Art und Weise für Jaroslaw Kaczynski. Wahlstände der PiS vor Kirchen oder priesterliche Wahlempfehlungen für Kaczynski waren keine Seltenheit. Und trotz der Kritik liberaler Geistlicher wie Kazimierz Sowa, der den TV-Sender Religia TV leitet und sich seit Jahren für einen modernen und aufgeklärten Katholizismus engagiert, machten auch einige Bischöfe aus ihren politischen Sympathien kein Geheimnis.

Die Quittung dafür bekamen die polnischen Bischöfe nicht nur durch die schlechteren Umfragewerte, sondern auch durch eine laute Diskussion über die Rolle der katholischen Kirche in Polen und deren Einfluss auf Staat und Gesellschaft, die im Sommer ausbrach. Publizistisch bot der Debatte die Tageszeitung Rzeczpospolita mit ihrer viel beachteten Reihe Die polnische Toleranz eine Bühne. Was durchaus überraschend ist, da das Blatt eher zum konservativen Flügel der polnischen Presselandschaft gehört.

Die Kirche und die Korruption

Beschleunigt wurde die Debatte aber nicht nur durch die einseitige politische Unterstützung der Kirche und den Streit um das Holzkreuz vor dem Präsidentenpalast, sondern auch durch einen Korruptionsskandal, in den die Kirche verwickelt ist. Am 21. September meldeten die polnischen Nachrichtenagenturen die Verhaftung von Marek P. durch die Zentrale Antikorruptionsbehörde CBA. Dieser passte sich nach der politischen Wende von 1989 schnell den neuen Verhältnissen an und wurde vom Stasimitarbeiter zum Mitarbeiter der katholischen Kirche. Bei der Vermögenskommission, die sich mit der Rückgabe enteigneter Güter an die Kirche beschäftigt, vertrat er Klöster und Pfarreien. Eine Aufgabe, die Marek P. mit besonders viel Erfolg erfüllte, da er für diese zum ersten Ansprechpartner avancierte. Doch Marek P. griff offenbar nicht immer zu legalen Mitteln, um an die Güter zu gelangen, die der Kirche ab 1950 von den Kommunisten abgenommen wurden. Bestechung von Kommissionsmitgliedern und Betrug wirft ihm die Zentrale Antikorruptionsbehörde vor.

Mit der Verhaftung von Marek P. geriet erneut die Vermögenskommission in den Fokus der Medien, die bereits in den vergangenen Jahren regelmäßig über Unregelmäßigkeiten bei der Rückgabe enteigneter Güter an die Kirche berichtete. Doch erst durch die Verhaftung von Marek P. wurde offensichtlich, wie fraglich und zwielichtig die Wiedergutmachungen für die Enteignungen teilweise waren. Denn als Ersatz für Grundstücke und Immobilien, die aus bestimmten Gründen nicht mehr an die Kirche zurückgegeben werden können, hatten die Pfarreien und Klöster Anspruch auf andere Grundstücke, Gebäude oder Entschädigungszahlungen.

Problem war dabei nur, dass es oft die Kirche war, die sich die als Wiedergutmachung gedachten Grundstücke aussuchte und deren Wert durch eigene Sachverständige schätzen ließ. Ein Verfahren, bei dem die Kommunen, Wojewodschaften und damit der polnische Steuerzahler das Nachsehen hatten, von dem aber kirchliche Einrichtungen und deren Sachverständige wie Marek P. profitierten, da so manche Grundstücke in den Besitz der Kirche gelangten, deren tatsächlicher Wert höher war als bei der Kommission angegeben.

Möglich wurde dieses "kirchliche Wunder auf Erden", wie die Gazeta Wyborcza die Grundstücksvermehrung der polnischen Kirche nannte, durch die Zusammensetzung und der quasi juristischen Immunität der Vermögenskommission, die dem Innenministerium untersteht. Das Gremium besteht aus je sechs Vertretern der Regierung und der Kirche, und muss laut dem 1989 vereinbarten Gesetz keinen Tätigkeitsbericht oder sonst irgendeine Rechenschaft ablegen. Was dazu führte, dass bis heute nicht offiziell geklärt ist, was die Kirche in den letzten zwei Jahrzehnten überhaupt zurückerhalten oder rückerstattet bekam.

Während die Vermögenskommission 60.000 Hektar land-, und forstwirtschaftliche Fläche sowie 490 Immobilien angibt, sollen es nach Angaben der staatlichen Agentur für landwirtschaftliche Liegenschaften (ANR) 76.000 Hektar gewesen sein. Unklar ist auch, wie hoch die Entschädigungszahlungen waren, die die Kirche erhielt. Die Vermögenskommission spricht von 107.5 Millionen Zloty, knapp über 40 Millionen Euro, und löste damit in den Kommunen Kopfschütteln aus. Nach Angaben der Krakauer Stadtverwaltung, zahlte allein sie Entschädigungszahlungen für Grundstücke und Immobilien, die die Kirche in der Stadt beanspruchte, in Höhe von 110 Millionen Zloty.

Ende des "katholischen Imperialismus"

Für die katholische Kirche in Polen, die sich aufgrund der Vergangenheit als höchste Moralinstanz des Landes versteht, ein ziemlich unangenehmer Skandal. Und dies nicht nur wegen der bereits geführten Debatte um die Rolle der Kirche an der Weichsel, sondern auch weil sie sich politisch bemerkbar machte. Das Bündnis der Demokratischen Linken (SLD) forderte nicht nur die Abschaffung und Überprüfung der Vermögenskommission, sondern wagte sich gleich an Tabuthemen wie dem strengen Abtreibungsgesetz, das dem politischen Einfluss der Kirche geschuldet ist, und dem Religionsunterricht an Schulen. Janusz Palikot wiederum, Enfant Terrible der polnischen Politik, trat aus der Bürgerplattform aus und gründete eine neue Bewegung, deren wichtigstes Ziel eine strikte Trennung zwischen Staat und Kirche ist. "Wann sehen wir endlich eine einzige Staatsfeier ohne die fetten Bäuche der Bischöfe", fragte der 45-Jährige rhetorisch bei dem Gründungskongress in Warschau und forderte ein Ende des "katholischen Imperialismus".

Töne, die in der Heimat des verstorbenen Johannes Paul II., wo 95 Prozent der Bevölkerung katholisch ist, offenbar ankommen. Auf gut 20 Prozent schätzte Palikot in einer im Oktober ausgestrahlten Talkshow das Wählerpotential kirchenkritischer Parteien und bekommt von den bisher durchgeführten Umfragen Recht. Die linke SLD erlebt bei den Demoskopen mit 13 bis 15 Prozent einen seit Jahren nicht mehr gekannten Höhenflug und Palikot selber kommt mit seinem Unterstützungskomitee für Janusz Palikot auf gut 4 Prozent.

Diese Entwicklung beunruhigte die Kirchenoberen. Die Forderrungen der SLD versuchte sie zu diskreditieren, indem sie an die kommunistische Vergangenheit der Partei erinnerte. Und auch für Palikot und seine Gruppierung fand sie einige kritische Worte. Im Gegensatz zu den vergangenen 20 Jahren vermeidet sie es jedoch, sich für eine politische Gruppierung auszusprechen. Deutlich wird es im aktuellen Kommunalwahlkampf, der mit dem 1. Wahlgang am 21. November seinen ersten Höhepunkt erleben wird. Bis auf wenige Geistliche, die aus ihrer Nähe zu der nationalkonservativen Recht und Gerechtigkeit eh kein Geheimnis machen, wie der Priester Kazimierz Halwa, der während eines Gedenkgottesdienstes für Lech Kaczynski den liberalen Medien des Landes "teuflische Kräfte" vorwarf, sind Wahlempfehlungen von der Kanzel diesmal nicht zu hören.

Kampf um die künstliche Befruchtung

Doch ihre Finger von der Politik kann und möchte die Kirche dennoch nicht lassen. "Wenn sich die Abgeordneten dessen bewusst sind was sie tun und was sie wollen, und dazu beitragen, dass dieses Gesetz mit all seinen schädlichen Seiten in Kraft tritt, dann scheiden sie automatisch aus der kirchlichen Gemeinschaft aus", erklärte der Warschauer Erzbischof Henryk Hoser in einem Interview für die polnische Nachrichtenagentur PAP, wenige Tage bevor der Sejm über In Vitro, die künstliche Befruchtung beraten sollte. Eine Erpressung, die ihre Wirkung nicht verfehlt hat. Als am 23. Oktober im Sejm über die Gesetzesvorschläge, die von absolutem Verbot bis zum normalen Behandlungsanspruch auf Krankenschein reichen, wurde die Entscheidung vertagt. Dabei müsste in Polen dringend eine Lösung bezüglich der künstlichen Befruchtung gefunden werden. Seit 20 Jahren wird diese in Polen praktiziert, wovon auch deutsche Paare profitieren, doch keiner weiß, was mit den übrig gebliebenen Embryonen geschieht, ob sie eingefroren oder weggeworfen werden oder ob mit ihnen gehandelt oder an ihnen geforscht wird. Ein rechtsfreier Raum, der auch von Brüssel bemängelt wird, da Polen das einzige Land der EU ist, in dem In Vitro ohne einen gesetzlichen Rahmen praktiziert wird.

Alle Versuche der Politik, diesen Umstand zu ändern, scheiterten in den vergangenen Jahren an der katholischen Kirche, die sich für ein totales Verbot der künstlichen Befruchtung ausspricht. Die polnischen Bevölkerung hat sich hingegen in Umfragen mehrheitlich für eine Zulassung der In-Vitro-Fertilisation ausgesprochen. Doch die polnische Regierung will sich diesmal von der Kirche nicht einschüchtern lassen. Bei der zweiten Sejmsitzung zu dem Thema am 29. Oktober verwarf der Sejm den radikalsten Gesetzesvorschlag der PiS-Abgeordneten Teresa Wargocka, der sogar Gefängnisstrafen für die künstliche Befruchtung vorsah.

Die aktuelle kirchenkritische Haltung der Regierungspartei Bürgerplattform muss man jedoch mit Distanz genießen. Namhafte PO-Politiker kritisierten zwar den Erpressungsversuch des Warschauer Erzbischofs und Präsident Bronislaw Komorowski sprach bereits im August in einem Interview für die renommierte Zeitschrift Polityka von einer "notwendigen Debatte", als Polen nicht nur über das Kreuz, sondern auch über den Einfluss der katholischen Kirche auf den Staat diskutierte. Doch ernsthaft mit der katholischen Kirche, die immerhin einige Wähler mobilisieren kann, möchte sich die PO offenbar nicht anlegen.

Als Geschenk an die Kirche beschloss die Regierung im Eiltempo, dass die umstrittene Vermögenskommission mit dem 1. Januar ihre Arbeit einstellt. Ein weiteres Geschenk an die Kirche war der Sejmbeschluss vom 18. Oktober, dass der 6. Januar, der Tag der Heiligen Drei Könige, zukünftig ein arbeitsfreier Feiertag sein wird. Der Beschluss verstößt zwar gegen die Verfassung und ist auch sowohl bei den Arbeitnehmern als auch den Arbeitgebern umstritten, macht über die Bischöfe glücklich. Diese feierten die Entscheidung als einen Erfolg.