Die kulturelle Unterscheidung

Seite 2: "Widerstreit in den Phänomenen"

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Steht dafür Holbeins Kaufmannsporträt von 1532, das den Umschlag ihres Buches ziert und dem sie ein eigenes Kapitel gewidmet haben?

Wolfgang Fritz Haug: Ja. Ein Rezensent hat sich darüber gewundert, dass ich als Marxist "in der bürgerlichen Repräsentation nur distinktionsfreie Selbstverwirklichung erkennen" wolle. Aber es geht in dem Beispiel keineswegs um bürgerliche Repräsentation als solche. Und das reduktionistische Nur halte ich für ebenso sachfremd wie die Annahme, bürgerliche Individuen könnten sich einzig instrumentell zum Kulturellen verhalten. Mein Buch mutet einem zu, den Widerstreit in den Phänomenen zu erkennen. So bei Holbeins Portrait des deutschen Kaufmanns Georg Gisze in London.

Der bourdieusche Distinktionsakteur tut sich vor anderen vor; der Akteur der kulturellen Unterscheidung zieht ein konkretes Etwas oder Wie einem anderen vor. Der erste richtet sich in den Augen der Welt aus, der zweite richtet Welt in seinen Augen richtig ein. Die beiden unterscheiden sich voneinander wie instrumentelles Handeln vom Selbstzweckhandeln. Doch natürlich sind das Idealtypen. Holbeins Portrait zeigt aber keinen Idealtypus, sondern einen Menschen in seinem Widerspruch. Ich frage nach dem Kräfteverhältnis zwischen Selbstzweck und Instrumentalisierung. Am Beispiel des portraitierten Georg Gisze meine ich das Überwiegen der Selbstzweckpraxis zeigen zu können.

Das nenne ich die kulturelle Unterscheidung. Und von diesem elementaren Ausgangspunkt her rolle ich die Frage nach dem Kulturellen auf. Eine Ausgrabung ist beabsichtigt, keine Verklärung, also eine philosophische Reflexion als Medium der Selbstaufklärung.

Instrumentalisierung der Kunst

In welcher Weise sind Ideologie, Kultur und Alltag miteinander verzahnt?

Wolfgang Fritz Haug: Alles, was Menschen anzieht, zieht in anderer Weise die gesellschaftlichen Mächte an, die die Menschen an sich ziehen wollen. So handeln Kommunen in der Standortkonkurrenz, um Unternehmen anzuziehen. Aber so handeln auf ihre Weise auch diese Unternehmen, die qualifizierte Arbeitskräfte durch Kontrapunkte zur Arbeit anzuziehen hoffen. Und so handeln schließlich auch die ideologischen Mächte, allen voran der Staat, die solche Attraktionskräfte einzuspannen versuchen. Kein Kulturelles von einiger Wirkung entgeht all diesen an der Instrumentalisierung von Kultur Interessierten. Von allen Seiten nehmen sie es für sich in Anspruch — und sei es nur als Fassade.

Dieter Bartetzko hat diese Instrumentalisierung in der FAZ auf den Punkt gebracht, als er feststellte, angesichts der griechischen "Schulden-Tragödie" und der europäischen Krise kennten Politik und Medien "die Antike nur als Lieferant von Parolen. Ansonsten gilt für sie […]: "Sei schön und halt den Mund." Das lässt sich aufs Kulturelle schlechthin anwenden. Kultur in diesem Sinn, das ist die gute Miene zum bösen Spiel. Darum lassen Staat und Kapital auch etwas für sie springen.

"Kulturschutz analog zum Naturschutz"

Wollen Sie sagen, alle Kulturförderung sei Kosmetik?

Wolfgang Fritz Haug: Alle gewiss nicht. In einer der vielen geläufigen Bedeutungen ist die Kultur das dem Kommerz Abgemietete, ein Schutzsuchendes, das um den Status der kulturellen Ausnahme fleht, um Kulturschutz analog zum Naturschutz. Für die erhörten Fleher richten Stadt oder Staat oder private Mäzene kleine Kulturschutzgebiete ein.

Freilich muss man die Proportionen beachten. Die FAZ hat das sehr anschaulich getan, als sie vom Gegensatz zwischen der Kunstausstellung im Rahmen der diesjährigen Biennale und den künstlerischen Kapitalanlageobjekten berichtete, die privat in irgendeinem Palazzo ausgestellt waren. Letzteren galten die draußen ankernden Yachten, deren längste 100 Meter maß und dem russischen Oligarchen Abramovitsch gehörte. Im übrigen schlage ich dringend vor, Kunst zu sagen, wenn man Kunst meint, und nicht Kultur.

Welche Stellung nimmt bei dieser Entwicklung die Warenästhetik ein?

Wolfgang Fritz Haug: In meinen Büchern über Warenästhetik und Ideologietheorie habe ich vorwiegend mit analytischen Begriffen das jeweilige Material bearbeitet. Bei der Kultur ist das nicht möglich, weil Warenästhetik und ideologische Mächte hier alles durchdringen und überdeterminieren. Ich musste Elemente einer Philosophie des Kulturellen herausdestillieren, um die Fronten in diesem Getümmel ausmachen zu können. Die Untersuchung hat zwei Ebenen: das Aktionsfeld des Kulturellen und sein Interaktionsfeld mit Warenästhetik und Ideologie.

Die Warenästhetik verhält sich gegenüber allen anderen Mächten parasitär. Sie hat keine Überzeugung, sondern bedient sich aller Überzeugungen, soweit sie sich verkaufsfördernd einspannen lassen. Sie versucht, den Menschen die Wünsche von den Augen abzulesen, um sie ihnen als Befriedigungsbilder zurückzugeben, in welche die Waren eingehüllt werden. Jeder Kaufakt, soweit er zwischen konkurrierenden Angeboten wählt, gleicht ja formal der kulturellen Unterscheidung.

Im Gegenständlichen wie im Miteinander entscheiden wir uns fortwährend für das, worin es uns geht, wenn wir uns selbst entwerfen. Darauf senken sich sogleich die Notwendigkeiten und Nöte des Lebens. Ohne ständige Erneuerung verkümmert, schrumpft, verdumpft das kulturelle Moment. Belagert von geldwerten Angeboten, befriedigt das in ihm sich ausdrückende Verlangen mit käuflichen Surrogaten. Die Warenästhetik versucht, sich in jenen elementaren Selbstbejahungsakt der Menschen einzuklinken. Sie empfiehlt den Markenturnschuh als Identitätsrequisit und Element erfüllter Lebensweise.

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