Die kulturelle Unterscheidung

Seite 3: "Flüssige Kultur"

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Heißt das, der Markenturnschuh gehört für Sie nicht zur Kultur?

Wolfgang Fritz Haug: Doch, er gehört dazu. Denn was man "Kultur" nennt, ist eine Resultante der Einmischung all dieser Mächte. Nach dem Kulturellen an der Kultur ist zu fragen, weil es darin untergeht. Im Blick auf die Natur hat Spinoza unterschieden zwischen Natur als Prozess und Natur als Resultat dieses Prozess. Die prozessierende Natur nannte er natura naturans und das Prozessresultat natura naturata. Entsprechend muss es mir darum gehen, die Kultur in statu nascendi von der am Ende dabei resultierenden Kultur zu unterscheiden, um ihr Kulturelles der Indienstnahme immer wieder abzuringen. Sonderbarerweise ist mir vorgehalten worden, für mich sei das Kulturelle "außerhalb des Sozialen", obwohl ich es doch gerade als eine der Kräfte im gesellschaftlichen Kulturprozess analysiere. Die entspringende Kultur soll zu ihrem Recht kommen, die flüssige, nicht die eingespannte, von den anderen Daseinsmächten eingefangene.

Welche Verdienste haben die Vorgehensweisen und Forschungsergebnisse der Cultural-Studies-Theoretiker für die moderne Wissenschaft von der Kultur?

Wolfgang Fritz Haug: Wer Cultural Studies sagt, muss zunächst von den Studien sprechen, die am Center for Contemporary Cultural Studies (CCCS) in Birmingham gemacht worden sind. Ein Gründungsimpuls kam von Raymond Williams, der die Kulturforschung von der Fixierung an sogenannte höhere Kultur gelöst und auf die Lebensweise hingelenkt hat. Seine größte Ausstrahlung erlangte das CCCS unter der Leitung von Stuart Hall. Er wusste empirische Untersuchungen mit theoretischer Grundlagenarbeit zu verbinden.

Grundlegend war die Auseinandersetzung mit Marx, aber das konkrete Gespür für die Kulturforschung und übrigens auch ein Idealbild vom Kulturforscher als organischem Intellektuellen der Popularkultur entwickelte sich vor allem in Auseinandersetzung mit den "Gefängnisheften" von Antonio Gramsci. All das brachte mich in jener Zeit mit Hall zusammen zu gemeinsamen Projekten. Er schrieb ja auch das Vorwort zur englischen Ausgabe meiner "Kritik der Warenästhetik".

Welche Rolle spielen bei der modernen Kulturentwicklung Subkulturen aus der Arbeiterklasse?

Wolfgang Fritz Haug: Eine Entdeckung war die am CCCS entstandene Studie Spaß am Widerstand von Paul Willis, die 1976 auf deutsch herausgekommen ist. Sie gilt der Subkultur englischer Arbeiterjungs, der Lads, und dokumentiert den umwerfenden Witz, mit dem sie sich der schulischen Einwirkung entzogen. In diesem Material lässt sich schlagend beobachten, was aus der kulturellen Unterscheidung wird, wenn sie nicht zwischen ideologischer Unterwerfung und sachlicher Unterweisung in kultureller Handlungsfähigkeit unterscheiden lernt. Als die Lads sich in der aussichtslosen Lage unqualifizierter Hilfsarbeiter wiederfinden, ist den ehemaligen Schulverweigerern das Lachen vergangen. Der Argument-Verlag bringt übrigens Willis’ inzwischen weltberühmte und bei uns seit langem vergriffene Studie in verbesserter Übersetzung im Herbst 2011 neu heraus.

Der Siegeszug der Cultural Studies in den USA hat sie inzwischen freilich von ihrer, wie Hall sagt, "in Hörweite von Marx" ausgebildeten kapitalismuskritischen Rahmentheorie losgerissen. Anders als Hall hat Willis sich vom Erfolg ein Stück weit vereinnahmen lassen. Wie bei nicht wenigen anderen Vertretern der Cultural Studies der Gegenwart ist bei ihm der Anspruch verblasst, das kulturelle Moment der Umarmung durch Ideologie und Unterhaltungsgeschäft zu entwinden. Mit dieser affirmativen Wende setze ich mich in dem Kapitel über "Schicksale der kulturellen Unterscheidung — Aufbegehren im Konsumismus?" detailliert auseinander.

"Das Do-it-yourself der Ideologie"

Der Neoliberalismus ist nicht nur eine bestimmte ökonomische Theorie und Praxis, sondern auch ein Kulturkampf, bei dem ein bestimmtes Menschenbild auf dem Spiel steht. Inwiefern stärkt Ihr Buch die kritische Handlungsfähigkeit in diesem Kulturkampf?

Wolfgang Fritz Haug: In der Tat hat der Neoliberalismus die Menschen an ihrem Verlangen nach Selbsttätigkeit gepackt. Im Zeichen der Privat-Individualisierung spannt er das ein, was ich das Do-It-Yourself der Ideologie nenne. Das kommt im Extrem einer Entführung der kulturellen Unterscheidung in die Subjektform des permanenten Konkurrenten und Schnäppchenjägers gleich. Obwohl das eine Karikatur kultureller Selbsttätigkeit ist, ist es noch immer Selbsttätigkeit.

Sie verbinden in Ihrem Buch den grassierenden Fitnesskult mit dem Körperlichkeits- und Askese-Kultus, der in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg und besonders ausgeprägt im Faschismus zelebriert wurde. Können Sie uns mehr darüber erzählen?

Wolfgang Fritz Haug: Ich konnte dabei auf eine eigene historische Kulturforschung zurückgreifen, die 1986 unter dem Titel Die Faschisierung des bürgerlichen Subjekts erschienen ist. Was heute unter dem irreführenden Namen der Biopolitik beredet wird, die Bearbeitung des Volkskörpers zur Herrichtung eines Wirtschaftsvolks für die Volkswirtschaft, ist dort unter anderem anhand von Psychiatrie und Medizin, der Ratgeberliteratur zur Selbstperfektionierung, aber auch anhand der Vorbildproduktion seitens der bildenden Künste am historischen Material entwickelt. So fand ich mich gut vorbereitet, den in kürzester Zeit rasant sich ausbildenden Fitnessmarkt und den von diesem verstärkten Kult zu untersuchen.

Ich habe diese Erkundung unter die Überschrift "Entfremdete Handlungsfähigkeit" gestellt, weil ich darin eine ver- und entführte Form des Kulturellen sehe. Anders als oft gemeint wird, ist die Elementarform des Kulturellen, die ich "kulturelle Unterscheidung" nenne, nicht einfach der positive Held meines Buches. Mich interessieren gerade ihre Schicksale. Besonders interessieren mich die Verfolgungsjagden, die zwischen ausscherenden Subkulturen und der Industrie stattfinden. Denn sobald eine gesellschaftliche Gruppe ihre kulturelle Unterscheidung etwa durch schöpferische Abwandlungen modischer Kleidungscodes praktiziert und damit auszustrahlen beginnt, setzt die Industrie nach.

Dem gehe ich am Beispiel von Jugendkulturen nach, besonders der Jeanskultur. Dabei interessiert mich nicht, wie oft geargwöhnt wird, das Schlechtmachen des nun mal unvermeidlichen Warenkonsums als solchen, wohl aber um die unfreundliche Übernahme des Selbstverwirklichungsverlangens in der Maske seiner zuvorkommenden Bedienung.

"Unfreundliche Übernahme des Selbstverwirklichungsverlangens"

Wie wird die gegenwärtige Kulturentwicklung von den Massenmedien beeinflusst und ist diese Einwirkung nur negativ zu sehen?

Wolfgang Fritz Haug: Das epochal dominante Massenmedium, das Fernsehen, dessen Tage Siegfried Zielinski etwas vorschnell gezählt findet, ist in einer Hinsicht ambivalent, also nicht nur negativ. In einer anderen Hinsicht lähmt es. Und zwar überwältigt es bei vielen viele Formen möglicher Selbsttätigkeit. Insofern stimmt McLuhans These vom bloßen Medium, das the message ist. Das ist oft kritisiert worden. Aber auf der anderen Seite ist dieses Zirkulationsmittel genau so widersprüchlich, wie die in ihm zirkulierenden Gehalte es sind. Das Genre spielt keine Rolle. Das können Diskussionen oder Reportagen oder Filme sein.

Als die Herrschaft der SED gebrochen war, kam es zu einer hinreißenden Freisetzung der Möglichkeiten, die Fernsehen bietet. Mitzukriegen, wie die Menschen sich damals über ihre gesellschaftlichen Verhältnisse unterhielten, war auf überraschende Weise unterhaltend. Plötzlich wurde das Massenmedium zum Medium der Massen selbst. Als der Anschluss der DDR perfekt war, ging diese nur wenige Monate dauernde Freizeit zu Ende, und die kulturindustrielle Unterhaltung übernahm.

Stört Sie nicht der idealistische Ton, der bei Ihrer Bestimmung des Kulturen als Selbstzweckhandeln mitschwingt?

Wolfgang Fritz Haug: Im Gegenteil, der idealistische Gedanke von der Kunst als Selbstzweck geht bei mir an die geschichtsmaterialistische Basis. Jeder Mensch behandelt — wie immer marginalisiert oder kompromittiert, verschoben oder verschüttet — sich als Selbstzweck. Jeder verfolgt den Anspruch auf erfülltes Leben. Die Frage ist nur, in welche Gesellschaft er auf diesem Weg gerät und was dabei unversehens aus ihm wird. Mir schwebt Gramscis Aufnahme der uralten delphischen Maxime Erkenne dich selbst vor. Er lädt dazu ein, die Gesellschaft zu besichtigen, in die wir gleichsam hinterrücks geraten sind. Ohne ins Gesellschaftliche einzugreifen, finden wir keine Kohärenz. Oder um es noch einmal mit Herder zu sagen: "Sich allein kann kein Mensch leben, wenn er auch wollte".

Insgesamt versuche ich, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: den Ansatz einer geschichtsmaterialistischen Kulturtheorie zu umreißen und darin zugleich den Impuls des Idealismus, das Moment der Freiheit und damit des Subjekts aufzuheben, das darin verschlüsselte Gestaltungsverlangen zu beflügeln. Daher sind die in der Welt tätigen Individuen und Gruppen mein methodischer Ausgangspunkt. Sie sind vom Grundgedanken her als gegenständlich Tätige im Bild. Um ihre kulturelle Handlungsfähigkeit geht es. Eine Philosophie des Kulturellen in diesem Sinn kann nicht anders als kritisch sein.

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