Die letzte Schmach

Im Kosovo droht eine humanitäres Desaster

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Beim Krieg in Bosnien hat man zwar nicht eine präventive Konfliktlösung gelernt, wohl aber, daß Konflikte Flüchtlingsströme auslösen. Die sind heute im Konflikt im Kosovo unerwünscht, weswegen der deutsche Innenminister Kanther bereits einen Aktionsplan für die Schengen-Staaten vorgeschlagen hat, um die Festung Europa gegenüber "illegalen Einwanderern" noch sicherer zu machen. Auch ein österreichischer Vorschlag für die EU will die Festung, wie John Horvath berichtet, weiter ausbauen und untergräbt damit möglicherweise die Genfer Flüchtlingskonvention.

Während der Winter sich nähert, leben im Kosovo Tausende von Menschen, die von den Kämpfen vertrieben wurden, im Freien und unter den vielfältigen Bedrohungen, die ein solches Leben mit sich bringt. Inzwischen werden in den Mauern der Festung Europa Maßnahmen eingeleitet, um durch einen österreichischen Vorschlag zur "Harmonisierung" der Einwanderung in die EU und der Flüchtlingspolitik die Hindernisse für Flüchtlinge zu verstärken. Diese Pläne würde es den Menschen nicht nur schwieriger machen, um Asyl zu bitten, sondern sie bringen auch die Gefahr mit sich, einen Präzedenzfall für andere Länder außerhalb der EU zu schaffen und sogar zu einer Neudefinition der Genfer Konvention über Menschenrechte zu führen, wodurch die Rechte der Flüchtlinge und Asylbewerber weltweit durch eine Begrenzung der Definition geschmälert werden, wer als "wirklicher" Flüchtling gelten kann.

Österreich, das die halbjährlich wechselnde Präsidentschaft der EU bis Ende 98 innehat, verlor keine Zeit, um sein Anti-Einwanderungsprogramm voranzutreiben. Es formulierte im Juli, bereits besorgt über die EU-Erweiterung, ein Positionspapier zu diesem Thema. Dieser Vorschlag, der von einer Arbeitsgruppe der Innenminister Ende September diskutiert wird, will die bestehenden Gesetze verändern und in der Gemeinschaft einen Lastenausgleich einführen.

Die in Frage stehenden Gesetze basieren auf der Genfer Flüchtlingskonvention. Diese 1951 gebilligte und 1967 durch ein Protokoll erweiterte Konvention garantiert Menschen Schutz, die beweisen können, daß sie wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugungen oder Mitgliedschaft in einer sozialen Gruppe verfolgt werden oder Verfolgung befürchten müssen. Ist eine Verfolgung eingetreten, kann ein Antrag auf Anerkennung als Flüchtling oder Asylant gestellt werden.

Nach dem österreichischen Innenministerium betrifft die Genfer Konvention für Flüchtlinge aber nur einen kleinen Teil der Menschen, die gegenwärtig als Flüchtlinge nach Europa kommen. Aus diesem Grund sei eine umfassende Strategie und ein größerer Maßnahmenkatalog nötig, um mit dieser Situation zurechtzukommen.

Der erwünschte Maßnahmenkatalog würde die Migranten in zwei Gruppen unterscheiden: es gäbe erstens die "wirklichen" Flüchtlinge, also die Asylbewerber im engeren Sinne, und zweitens die Menschen, die unter eine allgemeinere Kategorie fallen und "andere Schutzmaßnahmen für andere Personengruppen" erfordern. Letztere fallen unter eine Gesetzgebung, die einen "vorübergehenden Schutz" gewährt. Nach fünf Jahren müßten die Staaten entscheiden, ob sie diesen zeitlich beschränkten Status beenden oder Möglichkeiten für eine dauerhafte Integration anbieten wollen.

Der Vorschlag fordert die Einrichtung einer zeitlich befristeten Klassifikation von Flüchtlingen, was bedeutet, daß dieser "zeitlich befristete" Status rückgängig gemacht werden kann, falls sich die Situation "normalisiert". Österreich behauptet, daß ein solches System nicht die auf den einzelnen ausgerichtete Antragstellung auf Anerkennung als Flüchtling verändern würde.

Kritiker sind sich da nicht so sicher. Sie räumen ein, daß dieser Vorschlag durch die neue Klassifizierung zu weniger Flüchtlingen und zu noch geringeren Asylbewerbungen führen würde. Doch wenn individuelle Rechte durch allgemeine ersetzt würden, wäre die Gewährung von Asyl überdies keine humanitäre, sondern eine politische Entscheidung. "Wenn ein Asylbewerber kommt", wie ein Beamter der UNHCR in Wien sagte, "gibt es eine Verpflichtung für den Staat, den individuellen Fall zu untersuchen - und jeder Fall ist verschieden. Natürlich gibt es Ähnlichkeiten, beispielsweise wenn man den Fall der Albaner aus dem Kosovo heute nimmt. Doch jeder Antrag verdient eine ins Detail gehende Aufmerksamkeit."

Das österreichische Innenministerium sieht das anders. Nach seiner Erfahrung mit bosnischen Flüchtlingen wäre es konfrontiert mit einer Gruppe, die nicht um Asyl, sondern um einen zeitlich befristeten Aufenthalt und Schutz bittet. Daher wolle es nur diese Unterscheidung zwischen jenen, die individuell durch Verfolgung bedroht sind, und den Gruppen der "anderen Personen", die Teil einer Massenmigration wegen eines Konfliktes sind, formalisieren.

Obgleich dieses Argument vernünftig zu sein scheint, ist es ganz deutlich falsch. Der Fall der bosnischen Flüchtlinge ist nicht so einfach, wie es die Österreicher sehen. Auch wenn es zutrifft, daß nur sehr wenige Asyl beantragt haben, so lag der Grund dafür vor allem darin, daß ihnen bereits andere Optionen offenstanden, insbesondere ein zeitlich befristeter Schutz. Die UNHCR hatte seinerzeit einzig wegen der großen Zahl der Flüchtlinge darum gebeten. Es ging nicht um die Anerkennung einer anderen Flüchtlingskategorie, sondern um eine schnelle und direkte Lösung der humanitären Krise.

Trotzdem steht Österreich entschlossen zu seinem Vorschlag. Um die Bedenken über die Unterscheidung in wirkliche Flüchtlinge und jene Personen, denen nur ein zeitlich befristeter Schutz gewährt wird, zu mindern, haben alle Dokumente, die bislang in der EU über dieses Thema veröffentlicht wurden, hervorgehoben, daß die Genfer Konvention nicht verletzt werden dürfe und das Leitprinzip bleiben werde. Befürworter des Vorschlags weisen darauf hin, daß bereits "komplementäre Maßnahmen" zur Flüchtlingskonvention wie im Fall von Lateinamerika oder bei der OAU-Konvention in Afrika eingeführt worden seien. Daher sei das, was Europa vorhabe, nichts Ungewöhnliches und stehe auch nicht im Konflikt mit der Genfer Konvention.

Für die UNHCR scheinen solchen Beruhigungen auszureichen. Solange das Prinzip, daß jeder das Recht auf Asyl hat, der Eckstein aller "komplementären Maßnahmen" bleibt, wäre jeder von der EU unterbreitete Vorschlag akzeptabel.

Eine solche doppelzüngige Rede stellt gegenwärtig für die Flüchtlinge die größte Bedrohung dar, da sie viele glauben läßt, daß der österreichische Vorschlag in Wirklichkeit zwei komplementäre Elemente eines einzigen Systems bildet. Die wirkliche Absicht des Vorschlags aber ist tief unter einer Schicht von Trivialitäten über Konfliktreduzierung und Migrationskontrollen begraben.

Während der letzten 48 Jahre hat sich die Genfer Konvention als wirksames Mittel für einen internationalen Schutz erwiesen. Diese Wirksamkeit sollte man nicht mindern. Zweifellos wird man sagen, daß sich die Welt verändert hat, seitdem die Konvention verabschiedet wurde. Und insbesondere sei durch regionale Konflikte verursachte Massenmigration ein Phänomen, mit dem wir konstruktiv umzugehen lernen müssen, während wir auf das nächste Jahrtausend zugehen.

Aber eine durch regionale Konflikte verursachte Massenmigration ist nichts Neues. Ironischerweise wird der EU-Vorschlag eben von jenem Land vorgebracht, das seine Grenzen während der Massenmigration geöffnet hatte, die 1956 auf den Aufstand in Ungarn folgte. Damals hatte Österreich, fünf Jahre nach der Verabschiedung der Genfer Flüchtlingskonvention, 200000 Ungarn über die Grenzen eingelassen, die vor der sowjetischen Niederschlagung des Aufstands geflohen sind. Bis heute erzählen ungarische Flüchtlinge rührende Geschichten über die österreichische Großzügigkeit und Gastfreundschaft.

Wichtig an dem jetzigen österreichischen Vorschlag für die Behandlung von Flüchtlingen ist nicht, daß er die veränderte Situation reflektiert, die sich in einem Land durchgesetzt hat, sondern daß er ein viel größeres Dilemma zum Ausdruck bringt, das die ganze Festung Europa betrifft und sogar über diese hinausgeht.

Die EU muß mit ihrer politischen Ohnmacht zurechtkommen. Bei zwei aufeinanderfolgenden Gelegenheiten - zuerst in Bosnien und jetzt im Kosovo - erwies sie sich als gelähmt, wenn es um die Reaktion auf einen nationalistischen Konflikt ging, der vor ihrer Haustür stattfand. Folglich sollte man sich eher um die Konfliktlösung als um die Errichtung von Mauern kümmern, um den Strom an Flüchtlingen, die vor nationalistischen Kriegen flüchten, abzuwehren. Die Prävention eines Problems ist ein weitaus besserer Schutz als dessen Behandlung. In den meisten Fällen ist die Behandlung eines Problems, nachdem es eingetreten ist, unwirksam, weil dann jedes vorgeschlagene Mittel bereits zu spät kommt.

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer