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Tanz der Gehirne: Teil 4
Innerhalb von Minuten wird bei Wikipedia der gleiche Artikel editiert von einem Studenten aus Tokyo, einer Einzelhändlerin aus Köln, einem Gärtner aus Essex. Würde man die Aktivitäten sichtbar machen, so sähe Wikipedia selbst aus wie ein gigantisches neuronales Netz, in dem ständig die Synapsen unter Feuer stehen. Dieses Phänomen ist so erstaunlich, dass die Selbstverständlichkeit, mit der es hingenommen wird, fast schon erschreckt. Doch die zugrundeliegende Idee ist älter, als man vielleicht zunächst annimmt. Die Entwicklung hin zu einer noch massiveren Gleichzeitigkeit, einer noch intensiveren Vernetzung unserer Kultur scheint unvermeidlich.
Es war nach dem Sieg der Alliierten gegen die Nazis und vor dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki.
Als Direktor des dem Weißen Haus unterstellten Office of Scientific Research and Development und führender wissenschaftlicher Berater des US-Präsidenten hatte sich Vannevar Bush für die Entwicklung von Nuklearwaffen eingesetzt, um Hitler zuvorzukommen und den Krieg zu einem schnellen Ende zu führen. Nach dem Tod von 55 Millionen Menschen durch Krieg und Holocaust und vor dem Abwurf von "Fat Man" und "Little Boy" machte sich Bush Gedanken darüber, womit sich Wissenschaftler beschäftigen könnten, wenn mit all dem kriegerischen Unsinn endlich Schluss sei. Obwohl er den bevorstehenden Kalten Krieg und das nukleare Wettrüsten vorausahnte, stand ihm der Sinn nach friedlicheren Visionen.
So veröffentlichte er im Juli 1945 im amerikanischen Monatsmagazin The Atlantic Monthly ein Essay mit dem Titel As We May Think ("Wie wir denken mögen"). Darin denkt Bush darüber nach, wie Wissenschaftler in Zukunft mit dem "wachsenden Berg an Forschung" umgehen können.
Der Forscher gerät ins Schwanken im Angesicht der Ergebnisse und Schlussfolgerungen von Tausenden anderer Arbeiter - Schlussfolgerungen, die er aus Zeitgründen nicht erfassen und sich noch weniger merken kann, während sie sich anhäufen. Trotzdem wird Spezialisierung immer notwendiger für den Fortschritt, und Bemühungen die Disziplinen zu überbrücken sind entsprechend oberflächlich.
Angesichts der Informationsexplosion würde es immer schwieriger, die Spreu vom Weizen zu trennen:
"Mendels Idee der Gesetze der Genetik war der Welt für eine Generation verloren gegangen, weil seine Veröffentlichung nicht die wenigen erreichte, die in der Lage gewesen wären, sie zu verstehen und zu erweitern; solche Katastrophen wiederholen sich zweifellos um uns herum, wenn wahrhaft wichtige Errungenschaften in der Masse des Folgenlosen verschütt gehen."
Und so spekulierte Bush über die zukünftigen Möglichkeiten vorhandener Technik. Besonders der Mikrofilm hatte es ihm angetan. Wenn man von bisherigen Entwicklungen extrapoliere, könne man davon ausgehen, dass sich das Wissen der Menschheit schon bald miniaturisieren ließe:
Die Encyclopaedia Britannica ließe sich auf die Größe einer Streichholzschachtel reduzieren. Eine Bibliothek mit einer Million Büchern könnte in einen Schreibtisch passen.
Weit von der Realität entfernt ist das nicht. Mikrofilme und Mikrofiches erlauben tatsächlich die hochkompakte Speicherung von Informationen - ein vollständiges Buch passt auf eine dünne Plastikfolie, in einem Schrank lassen sich Zehntausende Volumen speichern. Ohne Konkurrenz durch digitale Medien würde wohl jeder schon einmal Bekanntschaft mit den robusten, wenn auch etwas unhandlichen Betrachtungsgeräten gemacht haben. Diese Art der Konservierung wird auch heute noch für zahlreiche historische Sammlungen eingesetzt.
Vannevar Bush war sich durchaus der Entwicklung von Computern bewusst, hatte er doch schon 1927 einen Analogrechner auf der Basis von Charles Babbages Differenzmaschine konstruiert.
"Die fortgeschrittenen arithmetischen Maschinen werden elektrischer Natur sein und hundertmal so schnell wie derzeit, oder mehr. Sie werden weitaus vielseitiger sein als die derzeitigen kommerziellen Maschinen, so dass sie sich für eine weite Zahl von Operationen nutzen lassen. Sie werden mit Kontrollkarten oder Filmen gesteuert werden, sie werden ihre Daten selbst auswählen und gemäß der eingefügten Instruktionen manipulieren. Sie werden komplexe Berechnungen bei außerordentlicher Geschwindigkeit durchführen und ihre Ergebnisse in einer für Nachbearbeitung und Verbreitung geeigneten Form festhalten. ... Es wird immer einiges zu berechnen geben bei den einzelnen Angelegenheiten von Millionen Menschen, die komplizierte Dinge tun."
Filmforscher
Doch für den zukünftigen Forscher sollte nach Bushs Vision die Film- und Tontechnik im Vordergrund stehen. Mini-Kameras sollten alles festhalten, Maschinen sprachgesteuert werden, womöglich mit Hilfe einer speziellen mechanisierten Lautsprache. Das mag albern klingen, ist aber nicht so weit von den künstlichen Schreibarten entfernt, die manche stiftgesteuerte Rechner ihren Nutzern abverlangen. Doch gab es nicht schon genug Informationen? "Soweit sind wir schlechter dran als vorher", notierte Bush. Das Grundproblem sei das der Selektion von Informationen - aber auch hier ließe sich mit fortgeschrittener Technik einiges machen.
Er kritisierte die Ineffizienz klassischer Speichersysteme, die es erforderlich machten, numerische und alphabetische Indizes, Themenkatalogisierungen und dergleichen immer wieder aufs Neue zu durchsuchen.
Der menschliche Verstand funktioniert nicht auf diese Weise. Er operiert mit Assoziationen. Hat er einen Begriff erfasst, knipst er sofort zum nächsten, der durch die Assoziation der Gedanken nahe liegt, gemäß einem komplexen Gewebe von Pfaden, die durch die Gehirnzellen getragen werden. (...) Die Prozessgeschwindigkeit, die Komplexität der Pfade, die Detailgenauigkeit geistiger Bilder ist ehrfurchtgebietend vor allem anderen in der Natur.
Und so sollte schließlich die Synthese verschiedener Technologien - fortgeschrittener Mechanik und Steuersysteme, Mikrofilmspeicherung, Spracheingabe - zu einem assoziativ arbeitenden System führen, das Bush "Memex" nannte, eine Art Terminal, an dem der Nutzer jede beliebige von Millionen Buchseiten betrachten kann; zwei Seiten könnten über Codes miteinander verknüpft werden, und so könne der Nutzer Pfade von einer Seite zur nächsten weben. Mittels Fototechnik sollten die Seiten auch mit Bemerkungen versehbar sein. Einige Werke wie Enzyklopädien würden mit vorprogrammierten Pfaden ausgeliefert werden, so dass der Nutzer bestimmte zusammenhängende Themen problemlos erkunden kann. Aber Pfade würden auch unter den Nutzern ausgetauscht werden, und professionelle "Pfadfinder" würden sich im Informationsdickicht auf die Suche nach besonders wertvollen Seiten machen.
So erinnert Memex letztlich an Hypertext, doch wer das System schlicht als einen Vorläufer des Web betrachtet, denkt nicht weit genug. Denn das Web wird von den meisten Nutzern nur passiv konsumiert. Innerhalb von Memex sollte der Nutzer aber auch stets Inhalte schaffen - Bewertungen, Verknüpfungen, Kommentare.
Aber nicht den Mikrofilmen sollte die Zukunft gehören, sondern den Transistoren, Röhrenmonitoren und Festplatten. Mikrofilme und Fiches sind zwar wunderbar kompakt (so kompakt, dass sie leicht verloren gehen), aber es sind eben keine manipulierbaren Daten, und schon damals stand das Urheberrecht der Streichholz-Schachtel-Britannica im Wege. Computer wurden trotzdem lange nur als Rechenknechte angesehen - bis zur Universalmaschine und zum dadurch ermöglichten weltweiten Kommunikationsnetz war es noch ein weiter Weg.