Disput um Ukraine-Thesen von Günter Verheugen: Die "Zeitenwende" zerreißt die SPD

Ehemaliger EU-Kommissar hatte Umdenken in der Ukraine-Politik gefordert. SPD-Genossen und Transatlantiker sahen Aussagen "im Sinne Putins". Was es mit dem Streit auf sich hat.

Ein Interview des SPD-Außenpolitikers und ehemaligen EU-Kommissars Günter Verheugen zum Ukraine-Krieg hat in den sozialen Netzwerken und in der SPD heftige Debatten ausgelöst. Verheugen hatte in dem Interview mit dem Weser-Kurier dazu aufgerufen, den Krieg Russlands gegen die Ukraine diplomatisch zu lösen und auf eine bedingungslose Unterstützung Kiews zu verzichten. "Das Gemetzel muss beendet werden", sagte der 79-Jährige der Zeitung.

Vor allem auf dem Kurznachrichtendienst X, ehemals Twitter, wurden die Äußerungen Verheugens heftig kritisiert, einige Nutzer forderten die SPD zu politischen Konsequenzen auf. Als einer der prominentesten Politiker meldete sich der SPD-Außenpolitiker und Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Michael Roth, zu Wort. Er schrieb

Was mich wieder fassungslos macht, sind 0,0 vorhandene Empathie gegenüber den angegriffenen, ermordeten, entführten, vertriebenen, vergewaltigten Menschen der Ukraine. Und dann die Anmaßung, die Entspannungspolitik im Sinne Putins diabolisch umzudeuten.

Michael Roth (SPD) über Günter Verheugen (SPD)

Verheugen hatte sich in dem Interview überzeugt gezeigt, dass angesichts der aktuellen globalen Herausforderungen Krieg das Letzte sei, was die Welt brauche. Die Welt müsse sich auf lebensbedrohliche Krisen konzentrieren, statt ganze Staaten auszugrenzen, nur, weil einem die Verhältnisse dort nicht passten.

Die westliche Darstellung des Konflikts in der Ukraine vernachlässige oft die Vorgeschichte. Es sei daher wichtig, die Ursachen des Konflikts zu verstehen, um Fehler der Vergangenheit zu vermeiden. Der Konflikt sei nicht plötzlich aus dem Nichts entstanden, sondern habe eine lange Vorgeschichte, für die auch die Ukraine verantwortlich sei.

Neben der Forderung nach einem diplomatischen Ausweg aus dem Krieg stieß vor allem dieser Punkt in den sozialen Netzwerken auf Kritik. Die These von einem Staatsstreich in der Ukraine wird von EU und Nato vehement zurückgewiesen und als russische Propaganda bezeichnet.

Angriffe auf Verheugen und Weser-Kurier

Der 79-jährige Sozialdemokrat, der in dem Interview auch auf seine Rolle in der damaligen Entspannungspolitik der Bundesrepublik im Osten verwies, erhielt für seine Thesen auf Twitter durchaus Zustimmung. Kritik kam neben Roth hingegen auch von prominenten Befürwortern der Ukraine- und Nato-Politik.

Der Münchner Professor für Internationale Politik, Carlo Masala, wies auf X vor allem Verheugens Forderung nach einem Dialog mit der russischen Regierung und Präsident Wladimir Putin zurück. Verheugen hatte dies damit begründet, dass auch Deutschland nach dem Sieg über den Nationalsozialismus 1945 wieder die Hand gereicht worden sei.

"Vorher hat sich aber jemand in seinem Bunker erschossen und andere saßen in Nürnberg auf der Bank", schrieb Masala unter Anspielung auf den Suizid Adolf Hitlers und die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse: "Besetzt war das Land auch und die wichtigsten Entscheidungen bis 1949 (55) wurden nicht von deutschen Politikern getroffen", fügte er an.

1949 wurde aus der damaligen Sowjetischen Besatzungszone die DDR, sechs Jahre später, 1955, erlangte die Bundesrepublik die volle staatliche Souveränität und wurde Mitglied der Nato.

Auch der Weser-Kurier geriet in die Kritik. Der Journalist und Mitbegründer der Plattform Salonkolumnisten, Jan-Philipp Hein, kritisierte auf X, "wie Günter Verheugen hier mit freundlicher Unterstützung der Chefredakteurin des Weser-Kuriers, Silke Hellwig, gegen die Ukraine hetzen und Russland verharmlosen darf".

Die Debatte, in deren Verlauf Verheugen wiederholt persönlich angegriffen und die SPD zu seinem Ausschluss aufgefordert wurde, wurde aus der Partei aber auch kritisch kommentiert. Der SPD-Abgeordnete Ralf Stegner warf seinem Parteifreund Roth mangelndes Demokratieverständnis vor:

Man muss gewiss nicht alles am Interview teilen (gilt für alle Beteiligten) – aber sozialdemokratischer Dialog über unterschiedliche Auffassungen darf auch bei dem Thema schon mit wechselseitigem Respekt geführt werden. Gut, wenn zumindest in SPD um den richtigen Weg gerungen wird.

Ralf Stegner

SPD-Papier: "Diplomatische Gespräche müssen möglich bleiben"

Ja, seit Beginn des Krieges am 24. Februar 2022 ist vor allem die SPD in der Russland- und Ukraine-Frage gespalten. Im Januar dieses Jahres hatte Telepolis exklusiv über ein Positionspapier der SPD-Fraktion im Bundestag berichtet, das für interne Kontroversen und Widerspruch von transatlantischen Akteuren gesorgt hat.

Damals sträubte sich die Bundestagsfraktion der SPD gegen den Druck ihrer Koalitionspartner, möglichst auch Leopard-2-Kampfpanzer an die Ukraine zu liefern, gab dieser Forderung der Ukraine und der Nato später aber nach.

Bei einer damaligen Klausurtagung hatten SPD-Abgeordnete noch versucht, andere Akzente zu setzen: Im Entwurf für das Positionspapier, das Telepolis damals exklusiv dokumentierte, tauchte das Wort "Panzer" nicht auf. Stattdessen geht es um Diplomatie:

"Denn wir wissen: Kriege werden in der Regel nicht auf dem Schlachtfeld beendet", heißt es in dem Entwurf der größten Regierungsfraktion. "Auch wenn es aus nachvollziehbaren Gründen keinerlei Vertrauen mehr zur gegenwärtigen russischen Führung gibt, müssen diplomatische Gespräche möglich bleiben." Deshalb seien auch die Telefonate von Kanzler Olaf Scholz mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin richtig und notwendig.

Zwar hieß es in dem Entwurf, dass Russland als Aggressor auftrete, dem mit konsequenter Abschreckung zu begegnen sei. Allerdings werde Russland auch in Zukunft ein Land mit erheblicher Fläche, Bevölkerung und militärischer Stärke auf dem europäischen Kontinent sein – und damit "für die Gestaltung der europäischen Sicherheitsarchitektur relevant".

Die Auseinandersetzung zwischen dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag und seinem SPD-Genossen Verheugen zeigt, dass die SPD in der Frage nach wie vor gespalten ist. Auch das ist eine Konsequenz der sogenannten Zeitenwende von Bundeskanzler Olaf Scholz.

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