Druck von allen Seiten
Zukunft des Internet: Die "UN Working Group on Internet Governance" (WGIG) vor ihrer letzten Sitzung
Noch einmal stellt sich die "UN Working Group on Internet Governance" (WGIG) am Dienstag in Genf einer öffentlichen Konsultationsrunde. Dann zieht sie sich auf ein kleines Schloss außerhalb Genfs zu ihrer letzten Sitzung zurück. Bis Samstag früh muss der Schlussbericht fertig sein. Danach haben die Regierungen das finale Wort über die Zukunft des Internet.
Acht Monate haben die 40 Mitglieder der von UN-Generalsekretär Kofi Annan berufenen Working Group on Internet Governance (WGIG) nahezu pausenlos online und offline über die Zukunft des Internet diskutiert. Neben ihrem Zwischenbericht vom Februar 2005 hat die Gruppe rund 25 Einzelstudien veröffentlicht. In mehr als 200 Beiträgen von Regierungen und Beobachtern erhielt die WGIG gute Ratschläge und Empfehlungen. Alles zusammen macht das mehrere tausend Seiten eng beschriebenes Papier. Neben den sechs vollen Tagen "offener Konsultationen" mit Regierungen, der Privatwirtschaft und der Zivilgesellschaft im Genfer "Palais des Nations" saßen die 40 WGIG Mitglieder insgesamt knapp 100 Stunden in geschlossenen Sitzungen zusammen, um dem auf ihr lastenden Erwartungsdruck gerecht zu werden. UN-Generalsekretär Kofi Annan hatte die Gruppe im März 2004 aufgefordert (Positionskämpfe, aber wenig Bewegung), bei der Erarbeitung ihrer Vorschläge zur Zukunft von "Internet Governance" so kreativ zu sein wie es die Väter des Internet waren, als sie die Architektur des Netzes der Netzwerke entwarfen.
Dabei wuchs, je näher der Abgabetermin für den Abschlussbericht heranrückte, der Druck von allen Seiten. Anfang Mai 2005 saßen in Kairo die afrikanischen und arabischen Informationsminister zusammen und positionierten sich für das "Endspiel". Vorige Woche stritten die lateinamerikanischen Minister im brasilianischen Rio de Janeiro drei Tage lang bis früh um 4.00 Uhr über das kontroverse Thema. Die asiatischen Kollegen hatten im Mai gleich zweimal Gelegenheit: erst in Tokio und drei Woche später noch einmal in Teheran. Anfang Mai reiste eine hochrangige EU-Delegation in die USA, um sich mit dem State Department abzustimmen.
Was, so könnte sich da der außen stehende Beobachter fragen, gibt es denn da pausenlos zu erörtern? Ist das ganze nicht ein Sturm im Wasserglas? Das Internet funktioniert doch. Wer eine Email Adresse braucht, kriegt sie. Wer eine Website online stellen will, kann das. Warum also das ganze Getue?
Das Problem ist jedoch, dass die materiell-technische Seite eine politisch-diplomatische Komponente hat, die tief in die Zukunft von globaler Politik und Wirtschaft und damit in die Interessen einzelner Länder eingreift. .
Das materielle Problem liegt im wesentlich darin, dass das enorme Wachstum des Internet - binnen 15 Jahren von einer Million zu einer Milliarde Nutzer - zwar bislang technisch bewältigt wurde, es aber keine Garantie gibt, dass die bisherigen Institutionen weiterhin so problemlos funktionieren, wenn die Nutzerzahl auf drei oder vier Milliarden natürlicher Personen anwächst und es dazu eine wachsende Zahl von Objekten gibt, die Internet-kompatibel sind. Einige Prognosen gehen davon aus, dass ein qualifizierter Internetnutzer im Jahr 2015 mit rund 25 Objekten umgeben ist, die alle ihre eigene IP-Adresse haben. Eine Email an die häusliche Heizungsanlage oder vom intelligenten Kühlschrank an die im Büro sitzende Hausfrau: mit IPv6 grundsätzlich kein Problem.
Shared Ressource, Shared Responsibility, Shared Sovereignty?
Wenn das Internet also tatsächlich immer mehr zu der primären Infrastruktur des Informationszeitalters wird, ohne deren Funktionieren nichts mehr funktioniert, dann lässt sich natürlich die Frage, wer wie diese Ressourcen managt, nicht als eine rein technische Frage abtun. Dabei geht es noch nicht einmal vordergründig darum, ob die konkrete Verwaltung der Kernressourcen - Root Server, Domainnamen, IP-Adressen - besser von Regierungen oder von der Wirtschaft, von ICANN oder ITU, von der amerikanischen oder der chinesischen Regierung gemanagt werden können, sondern die entscheidende Frage ist, wer letztendlich die Gesamtverantwortung für das Funktionieren des Gesamtsystems übernimmt.
Und hier wächst, zwar langsam aber eindeutig, die Ansicht, dass dies für eine Regierung oder eine Institution einfach zu viel und nicht machbar ist. Dies kann nur die gemeinsame Sache aller Betroffenen und Beteiligten sein. Die Internetressourcen sind Gemeinschaftsressourcen und können daher eigentlich auch nur gemeinschaftlich verwaltet werden. Verantwortlich sind alle, die involviert sind. "Shared Responsibility" wird mehr und mehr zum Schlüsselwort der von der WGIG vorangetriebenen globalen Internet Governance-Debatte.
Dies wird zusätzlich gepusht durch die mehr inhaltlichen Aspekte, die mit der Nutzung dieser Ressourcen im grenzenlosen Cyberspace zusammenhängen. Ein Internet für ein einzelnes Land gibt es nicht. Natürlich kann ein Land innerhalb seines Territoriums Internetgesetze erlassen und sie auch exekutieren. Eine Regierung kann die Tätigkeit von ccTLD Registries und ISPs regeln, sie kann die Verbreitung illegaler Inhalte unter Strafe stellen und Spam kriminalisieren. Dazu bedarf es häufig nicht einmal neuer Gesetze, denn was offline rechtswidrig ist, ist es auch online. Kein Nutzer verlässt seine Rechtsordnung, wenn er online geht.
Aber auch hier sprengt die neue Dimension des endlosen Cyberspace das bisherige System nationalstaatlicher Hoheitsrechte. Am deutlichsten wird das beim Thema Spam. Das CAN-SPAM Gesetz in den USA hat nicht zu weniger, sondern zu mehr Spam geführt. Spammer lernen Gesetze zu umgehen. Und mehr und mehr Spam kommt von Territorien irgendwo im Pazifik oder in der Karibik, in denen sich Regierungen keine Gedanken um Spam machen. Auch der Versuch, über die ".kids.us"-Domain Kindern in den USA einen geschützten Raum im Internet zu sichern (Virtueller Grünlichtbezirk für Kinder), ist zwei Jahre nach seinem Beginn selbst in den Augen von US-Kongressabgeordneten, die das damals beschlossen haben, ein Flop.
Regelungen, die im Internet effektiv sein sollen, geben nur Sinn, wenn sie wirklich global angelegt sind und alle Aspekte, regulatorische wie technische und wirtschaftliche sowie Fragen der Bildung, einbeziehen. Ohne eine neue Form internationaler Kooperation bleiben nationale Alleingänge Aktionismus. Regierungen müssen lernen, ob sie es wollen oder nicht, ihre Souveränität im Cyberspace mit anderen zu teilen, und zwar nicht nur mit anderen Regierungen, sondern auch mit anderen Stakeholdern. Bloße Gesetze sind nicht hinreichend, es bedarf ebenso des Engagements der Techniker, der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft, will man tatsächlich Probleme in den Griff bekommen.
Dabei funktioniert der Cyberspace nicht nach den Regeln der Nullsummenspiele, bei denen der Verlust des Einen der Gewinn des Anderen ist. Wenn das Internet für den Einen nicht funktioniert, funktioniert es auch nicht für den Anderen. Klappt es bei Dir, klappt es auch bei mir. Es ist ja gerade diese "Win-Win-Situation", die auf dem End-zu-End (P2P)-Prinzip des Internet basiert und die Entscheidungsmacht aus dem Zentrum an die Peripherie verlagert, die den enormen Erfolg des Internet und seine weltweite Ausbreitung ermöglicht haben.
Modell WGIG
Vor diesem Hintergrund ist die WGIG an sich bereits eine interessante Innovation für eine neue Diplomatie, die die Herausforderungen des Informationszeitalters in neuer Art abbildet. Zusammengesetzt aus Vertretern unterschiedlicher Gruppen - von Diplomaten bis zu Technikern, von Wirtschaftsvertretern bis zur Zivilgesellschaft - hat die WGIG nicht nur einen interessanten neuen Diskussionsstil hervorgebracht, der über das traditionelle diplomatische Verhandeln hinausgeht, sie hat auch eine neue Dynamik in den inhaltlichen Prozess gebracht. Wortführer, vor allem der Online-Diskussionen, waren nicht die, die mit Amt und Würden daher kamen, sondern die, die mit Kompetenz und klaren Sachvorstellungen argumentierten. Wenn das Modell WGIG Schule macht, wird sich die aus dem 20. Jahrhundert stammende Diplomatie bald verändern.
Noch ist der Entwurf des Berichts - rund 80 Seiten - in einem embryonalen Stadium und die scharfen Konturen, die auch den eigentlichen innovativen Erkenntniszuwachs enthalten, werden wie immer bei solchen Prozessen erst in letzter Minute, d.h. in den kommenden Nächten im Genfer Schloss gezogen. Wenn es jedoch der WGIG gelingen sollte, die sichtbar gewordenen Tendenzen der Diskussion in klare Empfehlungen zu übersetzen und diesen neuen globalen Multistakeholderismus als die notwendige Regierungsform für die Verwaltung des Internet vorzuschlagen, dann wäre zumindest ein Teil der von Kofi Annan formulierten Aufforderung nach einem innovativen Modell erfüllt. Ob die Regierungen dann, wenn sie am 18. Juli den Staffelstab wieder übernehmen, in der Lage sein werden, über ihren Souveränitätsschatten zu springen, steht jedoch auf einem anderen Blatt Papier.