EU-Analysten intern: Sanktionen nur bei sozialen Unruhen in Russland effektiv
Themen des Tages: Die SPD verabschiedet sich von der Rente mit 63. Die Erneuerbaren sind auf dem Vormarsch. Und die EU hat einen doppelten Diskurs zu den Russland-Sanktionen.
Liebe Leserinnen und Leser,
1. Es gibt eine ganz große Koalition für längere Arbeit.
2. Die USA fördern die Energiewende – und die EU klagt dagegen.
3. EU-Geheimdienstler sind ehrlich, wenn es um Sanktionen geht.
Doch der Reihe nach.
Rente? Später!
Als Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) kürzlich erklärte, sein Ziel sei, dass die Menschen in Deutschland länger arbeiten, war eine Debatte vorprogrammiert, meint heute Telepolis-Autor Bernd Müller. Seitdem häuften sich in den bürgerlichen Zeitungen die Kommentare, in denen einer längeren Lebensarbeitszeit das Wort geredet wird.
Auch Politiker aus CDU und CSU zeigten sich erfreut über die Gelegenheit, ihre Ideen zur Rente kundzutun. Stefan Müller, Parlamentarischer Geschäftsführer der CSU im Bundestag, sagte der Bild-Zeitung: Die SPD starte damit, ihr Prestige-Objekt "Rente mit 63" abzuwickeln.
Erneuerbare: Deutschland fällt zurück
In Deutschland ist die Handbremse für die erneuerbaren Energieträger immer noch nicht vollständig gelöst, aber weltweit hat der Ausbau 2022 kräftig an Fahrt aufgenommen, berichtet Telepolis-Autor Wolfgang Pomrehn. Das gehe aus einem Bericht der Internationalen Energieagentur (IEA) in Paris hervor, die dort für die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die internationalen Energiemärkte beobachtet.
Demnach hätten Regierungen allein seit März 2022 eine halbe Billion US-Dollar für die Förderung der sauberen Stromlieferanten ausgegeben. Seit Beginn der Covid-19-Pandemie seien es damit schon 1,215 Billionen US-Dollar gewesen, die von den Staaten für Sonne, Wind & Co. locker gemacht wurden.
Klagen gegen Klimaschutz
Bisher ist in der Klimapolitik eine notwendige schnelle globale Wende nicht in Sicht, so Telepolis-Redakteur David Goeßmann. Die EU und die USA verfolgten einen Kurs, bei dem die fossile Verbrennung in den nächsten drei Jahrzehnten nur langsam ausgeschlichen werden solle: "Im Ergebnis bedeutet es, dass sich die Erde noch in diesem Jahrhundert auf rund drei Grad Celsius aufheizen wird. Sollten die Staaten ihre offiziellen Klimaziele nicht einhalten, landen wir nicht nur im Drei-Grad-Klimachaos, sondern in der Klimahölle."
Und was macht vor diesem Hintergrund die EU-27 unter Führung Frankreichs und Deutschlands? Sich bei der US-Regierung beschweren, mit einer Klage vor der Welthandelsorganisation (WTO) drohen und Strafmaßnahmen ankündigen, sollten die USA Unternehmen mit Sitz in der EU bei der Förderung ihrer inländischen Energiewende benachteiligen.
Interne Analyse: EU setzt auf Geldnot und soziale Unruhen in Russland
Das geheimdienstliche Lagezentrum des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) geht davon aus, dass die Sanktionen der EU und weiterer westlicher Staaten gegen Russland messbar negative Auswirkungen auf die dortige Wirtschaft haben. Die Regierung von Präsident Wladimir Putin werde mit einer andauernden Rezession zu kämpfen haben, so die Einschätzung des Intelligence Analysis Centre (Intcen), dem zivilen Nachrichtendienst des EAD.
Das Intcen geht davon aus, dass die russische Regierung den Rückgang der Energieexporte durch neue Abnehmer in Asien nicht vollständig kompensieren kann, heißt es in einer Zusammenfassung einer mündlichen Unterrichtung von EU-Ratsvertretern im November. Das Papier liegt Telepolis vor.
Brisant an der Intcen-Analyse ist die indirekte Zielvorgabe: Die EU-Sanktionen seien nur dann effektiv, wenn Moskau in Finanzschwierigkeiten komme "und soziale Unruhen entstünden". Geschehe dies nicht, werde die verschlechterte Wirtschaftslage keinen wesentlichen Einfluss auf die Politik der Putin-Führung haben.
Die EU hat seit dem Angriff der russischen Armee acht Sanktionspakete gegen Russland auf den Weg gebracht. Derzeit wird in Brüssel ein neunter Katalog von Strafmaßnahmen abgestimmt. Ziel ist offiziell, der Putin-Regierung die Mittel zur Kriegsführung zu nehmen.
Darstellungen, nach denen Zivilisten betroffen sind, tritt die EU öffentlich vehement entgegen – daher sind die internen Aussagen der EU-Geheimdienstexperten bemerkenswert. Schon nach dem ersten Sanktionspaket hatte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis90/ Die Grünen) gesagt: „Das wird Russland ruinieren.“
Das Intcen geht davon aus, dass das Bruttoinlandsprodukt in Russland bis Ende des Jahres um vier Prozent zurückgeht. Zwar seien die Energieexporte im Vergleich zum Vorjahr um 30 Prozent gestiegen, so könne Moskau Wirtschaftseinbußen in anderen Bereichen noch ausgleichen. Für 2023 sei aber ein erneuter Rückgang der Einnahmen aus Energieexporten zu erwarten. Man prognostiziere auch weitere negative Auswirkungen durch die jüngsten Erdöl-Sanktionen.
Die EU-Analysten erkennen an, dass Russland die Verluste bislang durch mehr Handel mit China, Indien und der Türkei kompensieren konnte. Dennoch mache sich in der Industrie, im Transportwesen sowie der Luftfahrt ein Ersatzteilmangel bemerkbar.
Die Debatte in der EU zeigt ein grundlegendes Dilemma der Sanktionspolitik auf: Die Maßnahmen gegen die zentrale Öl- und Gaswirtschaft sollen die Regierung Putin schwächen, ohne die Zivilbevölkerung zu treffen. Allein die Darstellung der Inflationsrate steht dem entgegen.
Das will man sich in Brüssel aber nicht eingestehen. In der Debatte über eine EU-Stellungnahme zu den Auswirkungen der Russland-Sanktionen forderten Vertreter Portugals nach Informationen aus diplomatischen Kreisen, man müsse sich gegen Darstellungen wehren, die Sanktionen zielten auf die Lebensmittelsicherheit ab. Finnische EU-Diplomaten betonten, die Russland-Sanktionen hätten nie darauf abgezielt, zur Lebensmittelknappheit beizutragen.
Im Intcen-Bericht klang das offenbar anders. In dem Protokoll zum Briefing heißt es nüchtern, die Rezession werde in Russland anhalten und sinkenden Realeinkommen zur Folge haben:
RUS könne aber noch auf langjährig aufgebaute Reserven zurückgreifen. Solange das RUS Budget stabil bleibe und es keine sozialen Unruhen gebe, werde der ökonomische Faktor im Kreml als Anreiz für Verhandlungen keine wesentliche Rolle spielen.
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