EU-UK-Deal: Gelingt beim Brexit doch die Quadratur des Kreises?

Seite 2: Die rote und die grüne Linie

An dieser Stelle kann sich das Publikum naturgemäß vor überschäumender Wissbegier kaum mehr am Sitzrand halten. Aber gemach, gemach, der Deal ist etwas kompliziert und soll auch erst gründlich von den betroffenen Parteien studiert und erörtert werden. Sunak betont während der Pressekonferenz mehrmals, dass die Einigung gut für "Familien und Unternehmen" in Nordirland sei, allen Beteiligten nun aber zunächst Zeit eingeräumt werden soll, die Einigung zu überprüfen und zu verdauen.

Wichtig ist laut britischem Premierminister zunächst festzuhalten: In der Irischen See wird es keine Grenze geben. Im Kern sieht die Übereinkunft von Sunak und von der Leyen vor, dass es in Zukunft eine "grüne Linie" für Güter vom Vereinigten Königreich nach Nordirland geben soll, die nur ganz minimalen Checks unterliegt. Während eine "rote Linie" genauer und eingehender jene Waren überprüft, die weiter in die irische Republik und damit in die EU wandern. Diese erhalten die vollen Checks und brauchen damit quasi die EU-Siegel.

Wie nun aber die sichere Zuordnung auf grüne und rote Linien gelingen soll, wäre eine durchaus faszinierende Frage, die in Schloss Windsor unmöglich geklärt werden konnte, denn das hätte die historische Stunde etwas zu sehr in die Länge gezogen.

Eine delikate Balance will man gefunden haben, die tatsächlich historisch ist, wenn auch in einem anderen Sinne, als dies Sunak wahrhaben will. Dank dem Brexit geben erstmal die Iren den Engländern den Ton vor. Nordirland genießt eine ganz einzigartige Sonderstellung, weil es sowohl am europäischen Binnenmarkt partizipieren kann, als auch freien Zugang ins Vereinigte Königreich hat.

Nirgendwo wuchs die Wirtschaft Großbritanniens so gut wie in Nordirland – abgesehen vom unverwüstlichen London, das tatsächlich dank seines Status als Weltfinanzort von den Brexit-Liberalisierungen profitiert. Die Nordiren haben einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Teilen des Königreichs, weil ihre Unternehmen weniger Bürokratie zu bewältigen haben.

Menschen mit gutem Erinnerungsvermögen erinnern sich, dass der Brexit ursprünglich propagiert wurde, um die Bürokratie zu mindern. De facto hat er sie verstärkt. So sehr, dass viele englische und schottische Unternehmen in die EU umgezogen sind oder ihren Handel mit der EU einschränkten, beziehungsweise sogar aufgegeben haben.

Das sind Beobachtungen, die Rishi Sunak gerne unter den Tisch kehrt, denn die Erkenntnis, dass der Handel durch den Brexit schlechter und nicht besser wurde – außer in Nordirland –, würde sofort die alten Kämpfe aufflammen lassen. Das Remain-Lager sähe sich bestätigt, die Brexit-Befürworter würden dem "unzureichenden" Brexit und dem noch immer vorhanden Diktat Brüssels die Schuld geben.

Sunak und von der Leyen ist es nun zumindest gelungen, den sich abzeichnenden Handelskrieg zwischen der EU und Großbritannien abzuwenden. Die EU ist hier erkennbar über ihren Schatten gesprungen. Anscheinend will man in Rishi Sunak einen verlässlichen Partner sehen und es ist anzunehmen, dass auch in Brüssel die Brexit-Verhandlungs-Ermüdung bereits groß war.

Nun kann aber die EU, wie Ursula von der Leyen betont, sich nicht selbst aufgeben. Der Europäische Gerichtshof muss der Schiedsrichter des geordneten Handels bleiben. Wer, wie Nordirland, weiter im Markt mitmischt, muss dies auch akzeptieren. Allerdings erhält Nordirland die "Stormont Brake". Das nordirische Parlament kann mit diesem Mechanismus die Einführung neuer EU-Gesetze blockieren. Damit wäre endgültig der ganz einzigartige Sonderstatus Nordirlands belegt und aus dieser Stellung werden sich viele Vorteile ziehen lassen.

Kommt Sunak mit dem Deal durch?

Die günstigen Auswirkungen auf Nordirland sind es letztlich, die den Premier retten könnten. Der DUP dürfte es nämlich ein wenig schwerfallen, gegen eine Einigung zu wettern, die solch ausgesprochene Vorteile für Land und Bevölkerung bringt.

Der Oppositionsführer der Labour-Partei, Keir Starmer, erinnerte daran, dass Wirtschaftsprognosen bald ein höheres Pro-Kopf-Einkommen in Polen prognostizieren als in Großbritannien. Die aktuell leeren Gemüseregale auf der britischen Insel tun das ihre, um einen Eindruck davon zu vermitteln, dass vieles gerade nicht sehr gut läuft. Brexit bringt niemand mehr mit Begeisterung in Verbindung.

Wenn die Nordiren nun Rosinen picken dürfen und sich von der EU und dem Vereinigten Königreich das jeweils Vorteilshafte aussuchen können, dann ist dies eigentlich der bestmögliche Deal.

Der DUP läuft auch die Zeit davon. Ihre kriegsgehärtete Klientel ist überaltert und junge Nordiren sind weniger auf Konflikt geeicht. Viele von ihnen erwarten ohnehin eine baldige Vereinigung mit der Republik Irland. Dies wäre auch für die Protestanten kaum mehr ein Schreckgespenst.

Der aus Belfast stammende Kenneth Branagh war, als Mann von Anfang 60, zu Tränen gerührt, wenn er sich an die Spaltung seiner Kindheit erinnerte. Damals, als plötzlich von den Eltern innige Freundschaften aufgekündigt und der Kontakt zu den Kindern von der "anderen Seite" verboten wurde.

Es scheint, so einen Quatsch tut sich heute in Irland niemand mehr an. Insbesondere nachdem die Religion und der berüchtigte irische Glaubenseifer erfreulich zurechtgestutzt wurden. Das kann durchaus europäischer Fortschritt genannt werden.

Vielleicht kommt deshalb der Deal irgendwie durchs Parlament. Sunak könnte kurz aufatmen, bis die traurige Gewissheit wieder aufflammt, wie verkorkst der ganze Brexit war und ist. Die geleistete Verbeugung vor den letztlich rationaleren Argumenten der EU werden ihn in den Augen der Hardliner allerdings als "schwach" erscheinen lassen.

Wenn Sunak hingegen doch wieder einknickt – wie alle Premierminister vor ihm – und auch er wieder den Brexiteers folgt, dann könnte dies sein politisches Schicksal besiegeln. Vermutlich übernimmt dann wieder Boris Johnson. Wer sonst? Der wollte zunächst die Einigung einmal gründlich studieren, bevor er sie kommentiert. Sein Urteil darf also mit Spannung erwartet werden.