Ein Drittel der Deutschen glaubt, in Scheindemokratie zu leben
![](https://heise.cloudimg.io/width/700/q75.png-lossy-75.webp-lossy-75.foil1/_www-heise-de_/imgs/18/3/4/5/1/5/0/2/parlament_ho-eb42675e94f28307.jpeg)
Allensbach-Umfrage zeigt: Viele Deutsche sind nicht nur unzufrieden mit der Demokratie, sie fordern auch ein anderes politisches System. Linken-Politiker gibt Corona-Politik eine Mitschuld.
Viele Deutsche glaubt nicht mehr an das demokratische System in Deutschland. Eine aktuelle Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag des SWR ergab, dass ein Drittel der Bundesbürger davon ausgeht, in einer Scheindemokratie zu leben, "in der die Bürger nichts zu sagen haben".
Auffällig an den Ergebnissen ist der Ost-West-Unterschied. Während in Westdeutschland "nur" 28 Prozent diese Auffassung teilen, waren es in Ostdeutschland 45 Prozent. Rund 28 Prozent aller Befragten gab an, dass das demokratische System in Deutschland "grundlegend geändert" gehöre.
Für den ersten Parlamentarischen Geschäftsführer der Linken im Bundestag, Jan Korte, ist das Umfrageergebnis zwar besorgniserregend, aber nicht überraschend. Gegenüber Telepolis erklärte er, "dass auch bei uns französische Verhältnisse alles andere als undenkbar sind".
Der Neoliberalismus habe "über Jahrzehnte hier wie dort mit der Prekarisierung der Beschäftigung und seiner gnadenlosen Wettbewerbsideologie den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft nachhaltig zerstört", so Korte. Seit längerem sei gerade in den ärmsten Teilen der Bevölkerung eine rasante Entpolitisierung zu beobachten. Außerdem hätten viele kaum noch Hoffnung, die Lebensverhältnisse politisch verändern zu können; deshalb hätten sie "sich aus dieser Gesellschaft abgemeldet".
Das Allensbach-Institut hatte die Umfrage im Auftrag des SWR für die Dokumentation "Story im Ersten: Mord an der Tankstelle – Vom Protest zur Gewalt?" vorgenommen, die am Montag in der ARD ausgestrahlt werden sollte.
Der Sender hatte herausfinden wollen, inwieweit rechtsradikale Gesinnung, Verschwörungstheorien und demokratiegefährdende Meinungen im Zusammenhang mit dem Protest gegen die Corona- Maßnahmen verbreitet seien.
Im rheinland-pfälzischen Idar-Oberstein war im September ein Tankstellenmitarbeiter erschossen worden. Dieser Vorfall erregte bundesweite Aufmerksamkeit – und wird als bisher schwerste Straftat im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gesehen. Ein 50-Jähriger soll dabei sein 20-jähriges Opfer nach einem Streit um die Maskenpflicht erschossen haben.
Nach Bekanntwerden der Umfrageergebnisse äußerte sich auch der Deutsche Journalistenverband (DJV) besorgt über den Zustand der Demokratie. Wer der Meinung sei, lediglich in einer "Scheindemokratie" zu leben, der halte "auch das Grundrecht der Pressefreiheit für verzichtbaren Luxus", sagte der DJV-Bundeschef Frank Überall. Politiker müssten den Menschen Entscheidungsprozesse besser erklären.
Corona-Politik förderte Unzufriedenheit
Für die Krise der Demokratie weist Korte der Corona-Politik der Großen Koalition unter Angela Merkel (CDU) und der neuen Bundesregierung eine gewisse Mitschuld zu. Sie habe "zusätzlich für einen massivem Vertrauensverlust gesorgt", sagte Korte. Und sie habe aus der Corona-Krise eine Demokratie-Krise gemacht.
Missmanagement, Korruption, fehlende Nachvollziehbarkeit politischer Entscheidungen und vor allem aber eine Politik, die die Verantwortung für gesellschaftliche Probleme in die Sphäre der Einzelnen verschiebt, haben entscheidend zu dieser Entwicklung beigetragen. Wer die weitere Zerstörung des gesellschaftlichen Zusammenhalts verhindern und die Demokratie stärken will, muss eine Politik machen, die versucht die Menschen aufzuklären, zu überzeugen und mitzunehmen, statt einzig auf Verbote, Verpflichtungen und Repression zu setzen.
Jan Korte, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion DIE LINKE
Ein gesunkenes Vertrauen in die Fähigkeiten der Bundesregierung lässt das Risiko steigen, dass sich Menschen gegenüber Verschwörungserzählungen offener zeigen oder sich Rechtspopulisten zuwenden. Das hatten schon Untersuchungen im letzten Jahr gezeigt. In einer Studie hieß es:
Weniger die politische Verortung des Einzelnen zwischen "rechten" und "linken", "kosmopolitischen" und "ethnozentrischen" Positionen hat in der Pandemie also die Neigung zu einer verschwörungsmythisch aufgeladenen Corona-Kritik beeinflusst, sondern das Vertrauen gegenüber dem Wirken politischer Eliten und Institutionen, das Maß an Zutrauen in die eigene politische Selbstwirksamkeit sowie das Gefühl, gegenüber anderen zurückgesetzt zu sein und nicht gerecht behandelt zu werden.
Zu Beginn der Pandemie hatten sich noch drei von vier Bundesbürgern zufrieden mit der Corona- Politik von Bund und Ländern gezeigt. Innerhalb eines Jahres verkehrte sich das Ergebnis aber in sein Gegenteil: Plötzlich zeigten sich 79 Prozent "weniger zufrieden" oder "gar nicht zufrieden". Und mit dieser Unzufriedenheit sei auch die Zahl derer angestiegen, die offen waren für Verschwörungserzählungen aller Art.
In Kortes Augen hilft nur noch eine andere Politik, eine, die die gesellschaftlichen Probleme anpackt. Die gesellschaftlichen und ökonomischen Ursachen für Armut, Ungerechtigkeit, Klimawandel und Krieg müssten klar benannt werden, sagte er. Und darüber hinaus müsse "endlich eine gemeinwohlorientierte soziale Politik gemacht werden".
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.