Ein virtuelles Atlantis und seine Wiedergeburt in der Denkmalpflege

Als Tourist in digitalen Städten IV

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Es war ein einmal eine Märchenstadt, so schön, dass viele Menschen darinnen leben wollten. Zwar herrschte in ihr immer finstere Nacht, aber die Häuser waren so schön bunt anzuschauen. Zwar waren diese Häuser simple Vierkantblöcke, aber sie leuchteten von selbst in kräftigen Farben. Zwar waren die Straßen um die Häuser bloße Rechteckverbindungen, aber man konnte gemütlich in diagonaler Obersicht über sie hinweg ruckeln, als ob man ein fahrradgetriebenes Kleinflugzeug steure. Zwar war das Gelände flach, aber dafür konnte man ja mit dem Flieger höher oder niedriger gleiten, und für einen virtuellen Spaziergang ist ebenes Gelände ohnehin angenehmer. Die Ausdehnung der Stadt war groß genug für längere Wanderungen, und so war jeder erneute Besuch eine Freude.

Container-City hieß diese Stadt, die noch immer im Netz erreichbar ist. Doch hier beginnt das Problem: Sie ist wie viele digitale Städte in VRML programmiert, und davon gibt es inzwischen mehrere Versionen. Wer die zweite Seite der Container-City aufruft, wird aufgefordert, ein ganz bestimmtes Plug-In zu laden - und das ist im gesamten Internet nicht mehr verfügbar.1 Also bleibt der Blick auf das Fenster oberhalb des Steuerpults leer. Wo früher Erdbeben wüteten und Inseln versenkten, wirken heute Schwarze Löcher, verschlucken Bilddaten und jagen sie ins Speichernirvana. Wer den Katalog noch hat, kann sich die Container-City wenigstens im Druck anschauen; 1997 erhielt sie eine lobende Anerkennung im renommierten Prix Ars Electronica und ihr Autor die Möglichkeit zu einer Stellungnahme.2 Die Web-Site des Preises verweist jedoch ebenfalls nur auf die Container-City selbst und erneuert das bestehende Problem.

Markus A. Schulthess ist Architekt und lebt in Luzern. Die Container-City war ein von ihm geplantes Modell zur Urbanisierung des Internet. Er wollte in ihr Institute und Privatpersonen, Vereine und Initiativen ansiedeln, ein wenig wie im großen Vorbild des digitalen Amsterdam und mit ähnlich sozialer Intention. Einige Gruppen und Personen sind dort gelandet, sie boten beim Klick auf ihr jeweiliges Haus eine Homepage eigener Herstellung und Positionierung an. Schulthess mögen gute Gründe bewogen haben, die Stadt "nicht mehr weiter zu entwickeln"3 - ein Euphemismus für diese völlige Versenkung. Schade ist es alle Mal. Denn die Container City war weit von allen anderen digitalen Städten abgesetzt, was ihre ästhetische Qualität und ihre architekturtheoretische Dimension anging.

Stilistisch gab es nur ein reales Vorbild: die Container-Tore von Luc Deleu in Basel und an anderen Orten.4 Städtebaulich war das Vorbild in utopischen Stadtkonzeptionen zwischen Phalanstère und Broadacre City zu suchen, ein wenig Archigram schaute durch die Formen und etwas Pop war wohl auch dabei. Alles in allem eine sehr clevere Mischung aus dem guten Bestand geplanter Architekturen - das Modell einer digitalen Stadt schlechthin. Aber wie bei Deleus aktionistischen Arbeiten blieb es ein mediales Modell auf Zeit; nichts ist übrig als die Erinnerung derer, die da waren.

"Aber es gibt eine gute Nachricht", schrieb mir der Architekt, und auf der Web Site von Container City findet sich ein Schalter zum Hinüberklicken: Seit 1998 arbeitet Schulthess mit seinem Büro an einem digitalen Stadtmodell von Luzern. So wenig aufregend wie das städtische Vorbild heißt es Lucerne-by-byte, und die Eröffnungsseite der Unternehmung kommt daher wie die graublau abgetönte Homepage des Weißen Rössls. Das haben weder Luzern noch sein digitales Modell verdient. Wer sich also einschleicht, auch noch das nunmehr nötige Viscape-Plug-In auf die Festplatte packt, kann alsbald - das heißt einige Megabyte und damit Viertelstunden später - sich auf den Weg durch die Stadt machen.

Drei Plätze bietet das digitale Luzern derzeit zur Betrachtung feil, und es sind sicher die attraktivsten Teile der Stadt. Jeder Platz ist liebevoll aus sehr detailliert konstruierten Denkmalsbauten und einfach grauen Versatzstücken zusammen gesetzt, die Bodenflächen sind ebenfalls neutral und nicht so holprig wie das Pflaster in der realen Stadt. Die Programmierung ist perfekt; wer will, kann wie bei Schumacher senior in bester Go-Kart-Manier um die Hausecken flitzen und wird beim Aufprall auf Schaufensterscheiben nur sanft abgelenkt wie beim Bandenschuss à point. Bis in die Seitengassen hinein sind die jeweiligen Orte ausgearbeitet, was eine heftige Neugier weckt, die dann doch nur noch enttäuscht werden kann: Irgendwo ist immer Schluss.

Für den Gleitflug steht nun nicht mehr das bewährte Steuerpult eines Flugsimulators bereit, sondern der fliegende Teppich im sanft bewegten, persischen Muster - nett, aber auf Dauer etwas öde. Und das gilt letztlich für die ganze Unternehmung. Das Ensemble der realen Stadt für reale Touristen aufzubereiten, ist schon eine Arbeit nah an Enzensbergers definitorischem Diktum, dass der Tourismus zerstöre, was er suche.5 In der animierten Version computerisierter Visualisierung stösst die Verdoppelung einer solchen Realität bereits sauer auf: Es wird ein Bild beschworen, dessen Verwirklichung nur mehr im Kopf zu leisten ist. Das reale Luzern ist demnach hinter den Fassaden der aufbereiteten Stadtrekonstruktion verschwunden - man denke an die Debatten um den Wiederaufbau der abgebrannten Holzbrücke - und wird durch die elektronische Bereinigung ein weiteres Mal versenkt.

Mich hat nie gewundert, dass aus Luzern einige der aggressivsten Schweizer Künstler gekommen waren - Roman Signer zum Beispiel, dessen "schnell veränderbaren" (Explosions-)Skulpturen fester Bestandteil von Performance-Festivals in aller Welt waren. Auch gibt es gute Architekturbüros in der Stadt, die wenigstens im Modell Entwürfe von ähnlicher Sprengkraft entwickeln könnten. Spannend wäre es, diese Qualitäten in das virtuelle Stadtmodell Luzerns einzubauen und als interaktive Funktion zu verankern. Das gäbe 'Lucerne-by-Byte' wenigstens etwas von den Versprechen der Container-City zurück und beließe die Stadt nicht im schalen Geschmack einer denkmalpflegerischen Simulation ohne menschliche Eingriffsmöglichkeiten. Das bestehende Modell jedoch ist so vollendet, dass es traurig stimmt - sicher ganz im Gegenteil der Intention seiner Macher.

Die Serie Als Tourist in digitalen Städten erschien zuerst in der db. (deutsche bauzeitung) und wurde für Telepolis überarbeitet.