Eine Berichterstattung, die ausblendet und Nebelkerzen wirft
Seite 3: Primat wirtschaftlicher Effizienz
Wie erklären Sie sich, dass Journalisten auf derartige zentrale Gesichtspunkte nicht oder nicht ausreichend genug eingehen?
Hans-Jürgen Arlt: Der Journalismus, den wir untersucht haben, basiert auf Erwerbsarbeit. Er muss, das ist eine Feststellung, kein Vorwurf, darauf achten, dass er sich verkauft, an sein Publikum und/ oder an die Werbung. Dadurch entstehen Engels- und Teufelskreise.
Die neuen sozialen Bewegungen, vor allem die Umwelt- und Frauenbewegung des 20. Jahrhunderts, hätten ohne die Massenmedien keine so große Verbreitung gefunden. Hier haben sich Basisentwicklungen und mediale Thematisierung gegenseitig vorangetrieben. Den sozialen Alternativen, die sich im Zusammenhang mit der Digitalisierung herausbilden, gelingt es bislang nicht, im Vergleich zu den fünf digitalen Kommerzriesen von A wie Amazon bis M wie Microsoft öffentliche Aufmerksamkeit zu erzeugen, so dass der Journalismus vermuten muss, sein Publikum würde sich nicht dafür interessieren. Aufmerksamkeit funktioniert wie Geld: Wer viel hat, bekommt mehr, wer wenig hat, verliert auch das noch.
Sie schreiben in Ihrer Analyse auch, dass die Berichterstattung von einem "Primat wirtschaftlicher Effizienz" ausgehe. Was meinen Sie damit?
Hans-Jürgen Arlt: In den zurückliegenden 250 Jahren hat sich die Wirtschaft im Grunde weltweit zum einflussreichsten Teil unserer Gesellschaft entwickelt. Die Ökonomisierung praktisch aller Lebensbereiche, auch wirtschaftsferner wie Sport, Kunst und Wissenschaft, hat zur Folge, dass wir heute fast nichts tun, ohne nach seinem Preis zu fragen und die wirtschaftliche Messlatte anzulegen; das heißt zu überlegen, wie mit geringstmöglichem Einsatz, will sagen: mit den niedrigsten Kosten, der höchstmögliche Ertrag zu erzielen ist. Dass an alles, was wir tun und lassen, auch andere sinnvolle Kriterien angelegt werden können, die für unsere Lebensqualität vielleicht sogar wichtiger sind als wirtschaftlicher Erfolg, ist eine Perspektive, die der Journalismus im Zusammenhang mit der Zukunft der Arbeit nicht mitzudenken vermag. Sein Maßstab ist sogar noch enger. Es geht ihm primär um den deutschen wirtschaftlichen Erfolg, Misserfolge und Scheitern mögen bitte im Ausland stattfinden.
Wie kommt es, dass Journalisten scheinbar nicht in der Lage sind, in ihrer Berichterstattung über das unternehmerische Dogma Effizienz hinauszublicken und zu erkennen, dass sich auch eine ganz andere Perspektive veranschlagen lässt?
Hans-Jürgen Arlt: Das scheint mir weniger ein journalistisches als ein gesellschaftliches Problem insgesamt zu sein. Auch die Politik, die Medizin, sogar die Ökologie haben inzwischen eine hohe Bereitschaft, Wirtschaftlichkeit als erstes Gebot anzuerkennen. Aus meiner Sicht hängt das sehr eng mit dieser Konstellation zusammen: Obwohl Arbeit ein kollektiver Prozess ist, in dem jede Person und jede Organisation von vielen anderen abhängig sind und ohne andere nichts zu Wege bringen würden, findet die Aneignung des Erarbeiteten singulär statt.
Und das heißt?
Hans-Jürgen Arlt: Wer die Macht dazu hat, definiert, welche individuelle Leistung welches Einkommen verdient.
Deshalb verdienen also Vorstände so viel mehr als kleine Leute?
Hans-Jürgen Arlt: Ja, und deshalb können auch unverschämter Luxus und verzweifelte Armut gleichzeitig entstehen.
Ohne individuelle Erwerbstätigkeit haben Normalbürger kein Einkommen, das ihnen ein Auskommen sichert. Sozialleistungen oder so etwas wie ein bedingungsloses Grundeinkommen gelten als schädlich, werden diskriminiert und abgewertet. In der reichsten Gesellschaft der Menschheitsgeschichte bleiben Jede und Jeder erst einmal auf Existenzsicherung durch Erwerbsarbeit zurückgeworfen.
Wer bietet Erwerbsarbeit, die sogenannte abhängige Beschäftigung, an oder auch nicht? Das sind in erster Linie Wirtschaftunternehmen. Wenn Unternehmen nicht genügend bezahlte Arbeitsleistungen anbieten, entstehen soziale Probleme. So wie die Arbeit in der Erwerbsgesellschaft organisiert ist, muss es den Wirtschaftsorganisationen gut gehen, damit keine sozialen Krisen entstehen. Deshalb stellt es sich als vernünftiges und verantwortliches Handeln dar, der Wirtschaft Vorrang einzuräumen und als erstes nach der wirtschaftlichen Effizienz von allem und jedem zu fragen. Aber damit überschreite ich unsere Studie jetzt weit.
Deshalb zurück zu Ihrer Studie. Wie sind Sie denn vorgegangen? Wie haben Sie die Ergebnisse zu Tage gefördert?
Hans-Jürgen Arlt: Wir waren natürlich nicht in der Lage, "die Medien" zu untersuchen. Wir haben uns weder mit den vielfältigen Bereichen der Unterhaltung, der Werbung und der Public Relations beschäftigt, sondern uns auf den Journalismus konzentriert. Noch haben wir die journalistische Berichterstattung umfassend analysiert, sondern elf führende Printmedien ausgewählt, sieben Tages- und vier Wochenzeitungen. Konkret haben wir 360 größere Artikel der beiden Jahrgänge 2014 und 2015 aus Publikationen wie FAZ, SZ, Handelsblatt, taz, Spiegel und Zeit untersucht. In Zeiten von Big Data gibt es Software, mit der sich sehr große Textmengen durchleuchten lassen. Wir hatten es mit der überschaubaren Menge von rund 350.000 Wörtern zu tun, die kann man gut selbst lesen, so dass sich quantitative und qualitative Analysen gegenseitig ergänzen konnten.
Was können Sie uns noch zum Methodenteil sagen?
Hans-Jürgen Arlt: Entscheidend ist, Vorverständnis und Vorgehen offen zu legen. Man kann seine Forschung mit einem weißen Blatt beginnen, aber nicht als weißes Blatt. Deshalb haben wir unser Verständnis von Journalismus und von Arbeit erläutert, die Auswahl des Untersuchungsmaterials, wie wir hoffen, ordentlich begründet und die einzelnen Analyseschritte so verständlich zu machen versucht, dass auch ein nichtwissenschaftliches Publikum kritisch nachfragen kann, ob das so in Ordnung ist.