Eine Berichterstattung, die ausblendet und Nebelkerzen wirft
Seite 4: Die Arbeitsgefängnisse der Industriegesellschaft müssen sich öffnen
- Eine Berichterstattung, die ausblendet und Nebelkerzen wirft
- Technik wird wie eine Naturgewalt beschrieben
- Primat wirtschaftlicher Effizienz
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Wie wird sich denn die Arbeitswelt in den nächsten 20, 30 Jahren entwickeln?
Hans-Jürgen Arlt: Jetzt verlassen wir das Feld der Wahrheitsfähigkeit und der Nachprüfbarkeit endgültig. Ich habe die Hoffnung, dass die Entscheidungen darüber, wie es mit der Arbeit weitergeht, noch nicht gefallen sind, obwohl der Pfad, der seit den 1980er Jahren eingeschlagen wurde, eindeutig in eine Richtung weist.
Nämlich?
Hans-Jürgen Arlt: Das Horrorszenario ist, dass die Herrschaft der Wirtschaft über die Arbeit durch Privatisierungen ausgeweitet wird, die individualisierte Leistungsideologie sich noch stärker ausbreitet und der sozial gesteuerte Zugang zu den Früchten der Arbeit weiter abgebaut wird. Die Folge wäre eine noch tiefere Spaltung der Gesellschaft in Gewinner und Verlierer. Allerdings dürfte es auf Dauer nicht so einfach sein, das Kommunikations- und Arbeitspotential, das die Digitalisierung eröffnet, in eine wirtschaftliche Zwangsjacke zu stecken und ihren sozialen Grundcharakter zu konterkarieren. Wo es keine Knappheit gibt, braucht nicht gewirtschaftet zu werden. Jeremy Rifkin hat darauf hingewiesen, dass es zunehmend schwieriger wird, Knappheitskonstruktionen im Überfluss aufrecht zu erhalten. Dass Begriffe wie Netzwerk, Collaboration und Enthierarchisierung in aller Munde sind, ist kein Zufall, das hat etwas mit dem sozialen Potential der Leitmedien Computer und Internet zu tun.
Wo liegen die Chancen?
Hans-Jürgen Arlt: Die Chancen liegen darin, dass sich die Arbeitsgefängnisse der Industriegesellschaft öffnen müssen. Es entstehen neue Unternehmensmodelle, neue Arbeitsformen und andere Wertschöpfungsprozesse. Informations- und Wissensarbeit werden zentral. Peter Drucker hat gesagt: "Der Wissensarbeiter ist jemand, der mehr über seine Tätigkeit weiß, als jeder andere in der Organisation." Entscheidung und Ausführung zu trennen, eine elitäre Kaste von Entscheidern zu etablieren und auf der anderen Seite ein Heer von Befehlsempfängern, das jeden Raubbau an der Natur mitmacht und jedes überflüssige Zeug herstellt, solange es nur irgendeinen Käufer findet, dürfte schwieriger werden.
Vor welchen Aufgaben stehen Politik, Gesellschaft und Medien in Sachen "Zukunft der Arbeit"?
Hans-Jürgen Arlt: Vielleicht wäre das Wichtigste, einen Schritt zurück zu treten und sich klar zu machen, was der Sinn von Arbeit ist. Arbeit scheint mir eine Leistung zu sein, die auf einen Bedarf reagiert und in einen Gebrauch mündet. Arbeiten kann eine außerordentlich inspirierende und befriedigende Tätigkeit sein, wenn ich etwas leiste, das andere gut brauchen können; wenn ich zudem diese Leistung unter Bedingungen erbringe, die ich mitbestimmen kann, die mir nicht nur von außen aufgezwungen werden; und wenn diese Leistung dazu beiträgt, dass ich meinen eigenen Lebensunterhalt gut bestreiten, Produkte und Dienste kaufen kann, die andere erarbeitet haben.
Gegenwärtig haben wir die Situation, dass die Wirtschaft die Regie über die Arbeit übernommen hat ...
Hans-Jürgen Arlt: ...und das hat zu einer Leistungsexplosion geführt, die viele erfreuliche Seiten hat. Aber wenn die Arbeit dem Selbstlauf der Wirtschaft überlassen wird, sind Krisen und Katastrophen vorprogrammiert.
Arbeitende Menschen kämen niemals auf die Idee, mit ihrer Leistung ihre Umwelt so zu beschädigen, dass es sich nachteilig auf ihre Gesundheit auswirkt oder gar die natürlichen Existenzgrundlagen der Erdregion zerstört, in der sie leben und arbeiten. Arbeitenden Menschen käme es absurd vor, nichts zu leisten, wenn sie Bedarf haben, und lieber Not zu leiden. Und sie kämen wohl auch nicht auf den Gedanken, andere angenehme Tätigkeiten zurück zu stellen oder ihre Muße zu unterbrechen, um etwas zu leisten, wofür sie keinen Bedarf haben.
Alle diese Absurditäten entstehen erst, wenn über die Arbeit rein wirtschaftlich entschieden wird. Dann zählt nur zahlungsfähiger Bedarf, dann interessiert am Gebrauch nur der Verbrauch, dann darf die Leistung nur möglichst wenig kosten, Hungerlöhne und die Externalisierung von Kosten gehören dann zum normalen Geschäft, solange sich kein Widerstand dagegen erhebt.
Die Aufgabe ist also klar: Umzusteuern und möglichst demokratisch darüber zu entscheiden, wie viel wirtschaftlich beherrschte Arbeit, wie viel sozial benötigte Arbeit, wie viel bezahlte und unbezahlte Arbeit - letztere wird immer noch vor allem Frauen aufgehalst - und wie viele Tätigkeiten neben und außerhalb der Arbeit zu einem guten Leben gehören sollen.
Arlt, Hans-Jürgen/ Kempe, Martin/ Osterberg, Sven: Die Zukunft der Arbeit als öffentliches Thema. Presseberichterstattung zwischen Mainstream und blinden Flecken. OBS Arbeitsheft 90, Frankfurt/Main 2017, 110 Seiten. Kostenlos zu beziehen über www.otto-brenner-stiftung.de.