Eine langweilige Rede ist gestohlene Zeit

In der weltweiten Organisation "Toastmasters" haben sich Menschen organisiert, die ihre Fähigkeiten im Halten von Vorträgen verbessern wollen

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Über 10.000 Toastmasters-Clubs gibt es weltweit, davon etwa 50 in Deutschland. Sie alle veranstalten regelmäßige Treffen, bei denen die Mitglieder Vorträge halten und sich gegenseitig bewerten.

Die 38-jährige Anke referiert über Einkaufswagen. Wer denkt, dass es sich dabei um eine eher trockene Materie handelt, sieht sich schnell getäuscht, denn Einkaufswagen gibt es – so erfährt man im Laufe des sechsminütigen Vortrags – unter anderem als Hitech-Gefährte mit Wegfahrsperre. Bis zu 15 Jahre halten die aus Stahl oder Kunststoff gefertigten Mini-Fahrzeuge, und einige wenige landen nach Ende ihrer Zeit im Supermarkt in den Händen eines Künstlers, der sie zu Skulpturen verarbeitet. Nach Anke kommt Thorsten (32) an die Reihe. Er erklärt mit Hilfe von Powerpoint-Folien, warum die Staatsverschuldung in Deutschland erschreckende Ausmaße angenommen hat und was man dagegen tun kann. Am Ende des jeweiligen Vortrags nehmen die Leute im Publikum einen Stift zur Hand und notieren auf kleinen Zetteln Tipps für den Redner – beispielsweise: „Mimik und Gestik waren gut, dafür war Deine Einleitung etwas zu lang“. Später bewertet eine zuvor festgelegte Person die jeweilige Rede ausführlicher.

Gutes Reden will gelernt sein. Die Toastmasters gehen die Sache systematisch an. Bilder: ust

Anke und Thorsten sind Mitglieder des Düsseldorfer Toastmasters-Clubs. Die Toastmasters sind eine weltweite Organisation, in der sich Menschen zusammenfinden, die Ihre Fähigkeiten im öffentlichen Reden verbessern wollen. Über 10.000 Clubs gibt es derzeit weltweit, davon etwa 50 in Deutschland. Am stärksten vertreten sind unter den Mitgliedern Akademiker zwischen 30 und 50, die das Gelernte beruflich nutzen wollen. „Eine langweilige Rede ist gestohlene Zeit“, erklärt Dirk Löffelbein, Vorsitzender der Düsseldorfer Toastmasters, „und das kann sich gerade im Beruf kaum jemand leisten.“ Auch Studenten trifft man in Toastmasters-Kreisen, daneben gehört für manche Rentner das organisierte Reden zur sinnvollen Freizeitgestaltung.

Viele Mitglieder sind Anfänger, die Ihre Scheu vor dem Reden vor Publikum ablegen wollen. „Wir haben jedoch auch Profis, denen es darum geht, ihre Fähigkeiten zu perfektionieren“, berichtet Dirk Löffelbein. Für die meisten Mitglieder sind die Toastmasters eine kostengünstige Alternative zu Rhetorikkursen. Da es sich dabei um eine gemeinnützige Organisation handelt, entstehen den Teilnehmern neben einem erschwinglichen Mitgliedsbeitrag keine Kosten. Dafür muss sich jedes Mitglied einbringen und beispielsweise die Reden anderer bewerten. Anfänger sollen so von fortgeschrittenen Rednern profitieren.

Für den Ablauf eines Toastmasters-Abends gibt es Regeln, an die sich praktisch alle Clubs der Welt halten. Neben vorbereiteten Vorträgen stehen jeweils auch Stegreif-Reden, ein Witz des Abends und ein Tipp des Abends auf dem Programm. Jeder Vortrag wird bewertet, und per Abstimmung ermitteln die Anwesenden den besten Beitrag in jeder Kategorie. Jedes Mitglied kann selbst festlegen, wann, wie oft und zu welchem Thema es eine Rede hält. Die Toastmasters-Vorgaben sehen vor, dass Einsteiger zunächst ein Programm von zehn Vorträgen absolvieren, wobei jeweils ein anderer Aspekt (z. B. Körpersprache, Stimme oder das Verwenden geeigneter Visualisierungstechniken) im Vordergrund steht. Die meisten Mitglieder benötigen ein bis zwei Jahre für diesen Reden-Parcours. Wer ihn bewältigt hat, kann sich fortgeschrittenen Redeprojekten widmen, beispielsweise. „Unterhaltsames Reden“ oder „Humorvolles Reden“.

Powerpoint-Folien spielen bei den Toastmasters durchaus eine Rolle. Viele Mitglieder üben jedoch auch gezielt das Reden ohne solche Hilfsmittel.

Bereits seit zwei Jahren bei den Toastmasters in Düsseldorf aktiv ist die aus Spanien stammende Encarna Perez. „Ich halte beruflich manchmal Vorträge“, berichtet die Mitarbeiterin eines Chemieunternehmens. „Anfangs hatte ich damit Schwierigkeiten, zumal Deutsch nicht meine Muttersprache ist. Durch regelmäßiges Üben bei den Toastmasters-Abenden habe ich mich aber deutlich verbessert.“ Wie sie können die meisten Mitglieder schnell erste Erfolgserlebnisse verbuchen. „Selbst Anfänger werden bei uns innerhalb von einem Jahr zu veritablen Rednern“, berichtet Dirk Löffelbein, „auch wenn es zum Redeprofi trotz allem ein langer Weg ist.“ Selbst die relativ hohe Fluktuation, die es bei den Toastmasters gibt, sieht Löffelbein als gutes Zeichen, denn sie hat seiner Meinung nach einen einfachen Grund: „Nach ein bis zwei Jahren sagen viele: Ich habe genug gelernt und brauche keine regelmäßigen Redeabende mehr.“

Für viele Toastmasters-Mitglieder spielt neben dem öffentlichen Reden die Begegnung mit einer Fremdsprache eine wichtige Rolle. Bei den Düsseldorfern sind deshalb bei jedem zweiten Treffen auch englische Beiträge möglich. Wem dies nicht reicht, kann sich bei Gelegenheit auch im Ausland (Toastmasters Kontinentaleuropa) umsehen, denn zu den Regeln der Organisation gehört es, dass ein Mitglied jedes Treffen überall auf der Welt besuchen darf. „Es ist ein interessantes Erlebnis, wenn man sich irgendwo im Ausland aufhält und dort zu einem Toastmasters-Treffen geht“, berichtet Encarna Perez. „Die Treffen laufen überall ähnlich ab, und man trifft immer auf Gleichgesinnte. Da man fühlt man sich auch im Ausland sofort wie zuhause.“

Eine gute Stunde nach den Vorträgen von Anke und Thorsten geht das Treffen der Düsseldorfer Toastmasters zu Ende. Das letzte Wort hat der so genannte „allgemeine Bewerter“ – eine Rolle, die stets ein erfahrenes Mitglied übernehmen muss. Der allgemeine Bewerter fasst die wichtigsten Erkenntnisse des Abends zusammen, hebt positive Gesichtspunkte hervor und übt konstruktive Kritik an den Protagonisten des Abends. Seine letzte Amtshandlung ist besonders wichtig: Er gibt bekannt, in welcher Kneipe man sich anschließend trifft.

Klaus Schmeh ist freier Journalist und Buchautor (u. a. Link auf /tp/r4/buch/buch_36.html erschienen als Telepolis-Buch). Von ihm in der Telepolis ebenfalls erschienen sind unter anderem: Botschaften mit doppeltem Boden und Das Voynich-Manuskript: das Buch, das niemand lesen kann.
Seine persönliche Homepage: www.schmeh.org.