Einsatz von Uranwaffen: Welche Schäden sind nachgewiesen?

Seite 4: Ergebnisse eines Review-Artikels aus 2017

In diesem Jahr wurde mit dem Review-Artikel "Depleted Uranium and Human Health" (Deutsch: "Abgereichertes Uran und menschliche Gesundheit") eine systematische Übersichtsarbeit aus den Universitäten in Cagliari (Italien) und Leuven (Niederlande) veröffentlicht.13

Grundlagen dieser Arbeit waren 101 wissenschaftliche Untersuchungen über verschiedene Aspekte dieses Themas, davon auch eine ganze Reihe von Untersuchungen aus den letzten Jahren.

Da ich die Ergebnisse dieses aktuellen Artikels einem größeren Leserkreis möglichst authentisch bekannt machen möchte, habe ich die Zusammenfassung ("Abstract") und die Schlussfolgerungen ("Conclusion") der Autoren aus der englischen Originalfassung ins Deutsche übersetzt.

Zusammenfassung

Abgereichertes Uran (DU) wird im Allgemeinen als ein neuer Schadstoff angesehen, der zum ersten Mal in den frühen 1990er-Jahren im Irak während der Militäroperation "Desert Storm" in die Umwelt eingebracht worden ist. Man vermutete, dass DU ein gefährliches Element sowohl für exponierte Soldaten als auch für Einwohner der belasteten Gebiete in den Kriegszonen ist.

In diesem Review-Artikel werden die möglichen Auswirkungen von DU, das in die Umwelt eingebracht wurde, kritisch analysiert. Im ersten Teil werden die chemischen Eigenschaften und die möglichen zivilen und militärischen Anwendungen von DU zusammengefasst.

Eine präzise Analyse der Mechanismen, die der Absorption, dem Transport im Blut, der Gewebsverteilung und der Ausscheidung von DU im menschlichen Körper zu Grund liegen, ist Gegenstand des zweiten Teils. Der darauf folgende Abschnitt behandelt die pathologischen Zustände, die vermutlich mit der Überexposition von DU einhergehen.

Die Entwicklung von angeborenen Fehlbildungen, das Golfkriegs-Syndrom und Nierenerkrankungen, die mit DU in Verbindung gebracht werden, sollen im dritten Abschnitt behandelt werden.

Schließlich sollen die Daten kritisch analysiert werden, die eine Exposition von DU in Zusammenhang bringen mit dem Auftreten von Krebserkrankungen, insbesondere Leukämie und Lymphomen, Lungenkrebs, Gebärmutterhalskrebs, Brustkrebs, Harnblasenkrebs und Hodenkrebs.

Das Ziel der Autoren ist, einen Beitrag zu der Debatte über DU und dessen Effekte auf menschliche Gesundheit und Krankheit zu leisten.

Schlussfolgerungen

Die Debatte über den Zusammenhang zwischen der Exposition mit DU und dem Auftreten zahlreicher Krankheitserscheinungen, das Golfkriegssyndrom und viele Tumore eingeschlossen, scheint charakterisiert zu sein durch das Vorliegen von vielen offenen und unbeantworteten Fragen.

Die schädigenden Effekte auf den Gesundheitsstatus bei Veteranen des Golf-Krieges 1991, der Kriege im Kosovo, in Kroatien und in Afghanistan und des zweiten Irak-Krieges bleiben ungeklärt. Die Effekte einer DU-Kontamination des Wassers und der Böden in der Umgebung der Kriegsschauplätze, auf denen riesige Mengen von DU und andere chemische Schadstoffe freigesetzt wurden, sind nur teilweise bekannt.

Die Zahl der Personen, die das Risiko für schwere Gesundheitsprobleme aufgrund einer Überexposition mit DU tragen, ist eindrucksvoll: Die Zahl der Golfkriegsveteranen, die das Golfkriegssyndrom nach einer Exposition mit großen Mengen DU entwickelten, ist angestiegen auf ein Drittel der 800.000 US-Soldaten, die zum Einsatz kamen. Aber die wichtigsten Konsequenzen der Exposition gegenüber DU betreffen sicherlich die Menschen, die in der Region leben.

Besondere Befunde dieses Reviews sind:

  • Die 3,5-fache Erhöhung der Inzidenz von Hodentumoren bei Kroaten nach dem Krieg im Vergleich zu der Zeit vor dem Krieg (Ergänzung von KDK: Inzidenz bedeutet Häufigkeit bezogen auf die Zeit)
  • Die 5-fache Erhöhung der Inzidenz von Harnblasentumoren bei norwegischen Soldaten, die im Kosovo dienten
  • Der Anstieg der Inzidenzrate von Brustkrebs bei irakischen Frauen von 26,6 in der Vorkriegszeit auf 31,5 pro 100.000 Personen im Jahr 2009, wobei 33,8 Prozent aller Brustkrebse bei jungen Mädchen unter 15 Jahren diagnostiziert wurden
  • Lungenkrebs war statistisch signifikant häufiger bei Golfkriegs-Veteranen als bei Nicht-Golfkriegs-Veteranen.
  • Golfkriegs-Veteranen, die DU ausgesetzt waren, zeigten höhere renale Ausscheidungen von Beta-2-Microglobulin und Retinol-bindendem Protein, Befunde, die auf eine verschlechterte (renal-tubuläre) Nierenfunktion hinweisen.
  • Die Überwachung von Veteranen des ersten Golfkriegs, die mit DU in Feuergefechten verwundet worden waren, zeigt auch 20 Jahre nach dem ersten Kontakt mit DU weiterhin erhöhte Uranspiegel im Urin. Irakische Patienten, die eine Leukämie nach dem Golfkrieg entwickelten, wiesen höhere Serumspiegel von Uran auf im Vergleich zu gesunden Personen aus dem Irak.
  • Unter den mehreren hunderttausend Veteranen, die im Irakkrieg 1991 eingesetzt waren, entwickelten 15- 20 Prozent ein Golfkriegssyndrom und etwa 25.000 starben (siehe Teil 3 dieser Abhandlung).

Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass die angeführten Befunde zwar erschütternd sind, jedoch nicht genügend Informationen dafür vorliegen, inwiefern tatsächlich der Einsatz von Uranmunition ursächlich für die erhöhten Schädigungen ist, da eine Reihe zusätzlicher Faktoren mit schädigender Wirkung im Kontext der Kriege bestehen.

Zudem weisen die Autoren der Studie darauf hin, dass trotz potenziell genschädigender und krebserregender Effekte von abgereichertem Uran auf menschliche Zellen eine große Anzahl von Studien, die aufgeführt werden, behaupten, dass die gesundheitsschädigenden Effekte durch abgereichertes Uran nur gering oder nicht vorhanden sind.

Resümee der Autoren des Review-Artikels

Unserer Meinung nach ist der wichtigste Aspekt, der sich aus dem Studium der Literatur der letzten 20 Jahre ergibt, der einer kompletten Nicht-Übereinstimmung der Studienergebnisse bezüglich DU, die charakterisiert sind durch in hohem Maße konträre Ergebnisse.

Eine Frage ergibt sich aus diesen Befunden bezüglich DU: Wie war es möglich, DU, ein radioaktives Element, in Kriegszonen einzusetzen, ohne dass experimentelle und/oder klinische Beweise für den sicheren Einsatz bei Soldaten und der Bevölkerung, die den Bomben ausgesetzt werden sollte, vorhanden waren?

Da diese und viele andere Fragen nach unserem besten Wissen unbeantwortet bleiben müssen, und ausgehend von der Erkenntnis, dass die bisher durchgeführten Studien keinen umfassenden Überblick über die potentiellen Auswirkungen von DU-Munition auf die menschliche Gesundheit erlauben, sind weitere Studien notwendig, die alle Aspekte der Wechselwirkungen zwischen den großen Mengen an DU, die freigesetzt wurden in den jüngsten Kriegen, und der Gesundheit beleuchten, mit einer besonderen Betonung der Konsequenzen für die Zivilbevölkerung, die um die Kriegsschauplätze herum lebt, und mit dem Ziel, überall auf der Welt Uranwaffen zu ächten.

Nach meinem Urteil stehen die Ergebnisse dieses Review-Artikels aus 2017 in grundsätzlicher Übereinstimmung mit dem oben geschilderten Report von IPPNW und ICBUW aus dem Jahre 2012.14 Im Hinblick auf mögliche krebserregende Folgen des Einsatzes von DU-Waffen bedeuten sie neue Erkenntnisse beziehungsweise Präzisierungen der bisherigen besorgniserregenden Befunde.

Die vielen offenen Fragen und widersprüchlichen Ergebnisse, die von den Autoren festgestellt werden, hängen vermutlich auch damit zusammen, dass die Staaten, die DU-Munition in ihren Krieg angewendet haben, und das sind vor allem die USA und Großbritannien, leider weiterhin alles tun, um eine systematische Bearbeitung dieses Bereichs zu behindern.

Dazu gehören das Nicht-Zur-Verfügung-Stellen von vorliegenden Daten und Forschungsergebnissen, die Verweigerung finanzieller Unterstützung von unabhängigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern für solche Arbeiten und durch Ignoranz und gezielte Desinformation in der Öffentlichkeit.

Folgen des vermuteten Einsatzes von Uranwaffen in Falludscha

Besonders herausheben möchte ich aber noch eine epidemiologische Studie, über die in diesem Review-Artikel15 ausführlich berichtet wird und in der im Gegensatz zu anderen Studien Daten über Zusammenhänge zwischen dem wahrscheinlichen Einsatz von Uranwaffen und später auftretenden Gesundheitsschäden erhoben werden konnten.

Es handelt es sich um eine Untersuchung, die im Jahre 2010 in der in Basel herausgegebenen wissenschaftlichen Zeitschrift "International Journal of Environmental Research and Public Health" erschienen ist. In dieser Arbeit wird über die Häufigkeit von Krebs, Geburtsfehlern und die Veränderung des Geschlechterverhältnisses bei Neugeborenen und Kleinkindern berichtet.16

Diese Studie wurde in Falludscha im Irak durchgeführt, das 2004 stark umkämpft gewesen ist und in der wahrscheinlich auch eine große Menge Uranwaffen vom US-Militär eingesetzt worden ist.

In dieser Stadt wurden mit einer Fragebogenaktion 4.843 Personen nach Geburtsfehlern, Kindersterblichkeit, Krebserkrankungen und dem Geschlechterverhältnis bei der Geburt in der Zeitspanne zwischen 2005 und 2010 befragt.

Die Kindersterblichkeit in der Altersgruppe 0 bis 1 Jahr lag vier- bis achtmal so hoch wie in einer Vergleichsgruppe in Ägypten, Jordanien oder Kuwait.

Die mittlere Geschlechterrate bei der Geburt im ersten Jahr nach Ende der Kampfhandlungen war stark abweichend. Während normalerweise auf 1.000 Mädchengeburten 1.050 Knabengeburten registriert werden, waren es in der Falludscha-Kohorte bei den Neugeborenen bis Vierjährigen nur 860 Knabengeburten. Die Veränderung des Geschlechterverhältnisses von Neugeborenen ist ein wichtiges Kennzeichen dafür, dass mindestens ein Elternteil vor der Zeugung erheblichem genetischen Stress, zum Beispiel durch radioaktive Strahlenbelastung, ausgesetzt gewesen ist.

Eine ähnliche Verschiebung des Geschlechterverhältnisses bei Geburten war auch in Hiroshima nach dem US-Atombombenangriff ab 1945 zu beobachten.

Auch die Inzidenz von Krebserkrankungen im Kindesalter, vor allem Leukämien, Lymphome, Brustkrebs und Hirntumore, waren im Vergleich zu den Inzidenzraten in den oben genannten Nachbarländern signifikant erhöht.

Folgen des Einsatzes von Uranwaffen in Mitrovica

Zum Schluss dieses Kapitels soll noch auf eine Untersuchung aus dem Krankenhaus in Mitrovica/ Kosovo aufmerksam gemacht werden.17 Diese Studie untersuchte die Häufigkeit des Auftretens von malignen (bösartigen) Erkrankungen im Zeitraum von 1997 bis 2000 in diesem Krankenhaus.

Dieser Zeitraum wurde ausgewählt, weil er im Hinblick auf den Kosovo-Krieg 1999, in dem im großen Umfang von den Nato-Staaten auch Uranmunition eingesetzt worden ist, den Vergleich von zwei Vorkriegsjahren (1997 bis 1998) mit zwei Nachkriegsjahren (1999 bis 2000) erlaubt.

In der Vorkriegszeit belief sich die Zahl der malignen Erkrankungen auf 1,98 Prozent der Patientenaufnahmen, während in der Nachkriegszeit diese auf 5,45 Prozent angestiegen war.

Der größte Anstieg war bei den malignen Lungenerkrankungen (von 1,7 auf 22 Prozent der malignen Erkrankungen) und Nierenerkrankungen (von 1,6 auf 16 Prozent) zu verzeichnen. Die Hauptgründe dieses Anstiegs werden von den Autoren in der erhöhten radioaktiven Strahlung auf dem Territorium des ganzen Kosovo durch abgereichertes Uran nach dem Bombenkrieg der Nato gesehen.

Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhinderung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de