Einzelleistungen im Gehirn

Die Wissenschaft hat bisher anscheinend die Rolle einzelner Gehirnzellen unterschätzt: die Leistungsfähigkeit des Denkorgans ergibt sich nicht nur aus den darin ausgebildeten Querverbindungen, sondern auch aus Individual-Leistungen spezifischer Zellen

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Bis zu rund 1600 Gramm Gehirnmasse schleppen wir unser Leben lang mit uns herum, die sich aus, so genau hat man da noch nicht nachgezählt, rund 20 Milliarden Nervenzellen zusammensetzen. Auch wenn die Stammtischweisheit, jeglicher Rausch (oder wahlweise jeder Orgasmus) töte einen beträchtlichen Teil davon, nicht stimmt - für all unser Wissen, jedes Detail unserer Erinnerungen ist das eine recht geringe Zahl.

Wie wir all das Erlernte und Erlebte speichern, erklärte die Wissenschaft deshalb in der Regel über die exponentiell höhere Zahl möglicher Verknüpfungen. Je besser die Gehirnzellen untereinander vernetzt seien, desto besser könnten sie ihre Aufgaben erfüllen. Auf Größe und Masse komme es mal wieder nicht an. Allein die menschliche Alltagserfahrung gebietet eigentlich schon, bei solchen Sprüchen hellhörig zu werden. Und tatsächlich beschreiben nun auf der Website des Wissenschaftsmagazins Nature drei Forscherteams ganz neue Komplexitäts-Ebenen im Gehirn.

Die US-Wissenschaftler Christopher Harvey und Karel Svoboda haben sich zum Beispiel den Lernprozess sehr genau angesehen. Bisherige Experimente gingen dabei immer mit holzhammerähnlichen Methoden vor: Die Forscher platzierten irgendwo eine Elektrode und regten damit die Nervenzellen in der Umgebung an. Nur lässt sich auf diese Weise nur sehr ungenau messen, wann welche Zelle ihre Impulse abfeuert, mit welcher anderen Zelle sie in Verbindung steht und so weiter. Harvey und Svoboda nutzten deshalb ein neues Instrument: Sie setzten mit Lichtimpulsen chemische Reaktionen von Glutamat in Gang, die wiederum ganz bestimmte Zellen anregen konnten.

Auf diese Weise kann man das Aktionspotenzial direkt an ganz bestimmte Fortsätze der Nervenzellen leiten. Die interessante Erkenntnis: zwar wurde durch die Glutamat-Zufuhr nur eines der Nervenenden aktiviert - bei anderen in der unmittelbaren Umgebung verringerte sich aber das zur Aktivierung nötige Potenzial. Das hatte man in Computersimulationen bereits vorhergesagt - in der Praxis bestätigt wurde es nun zum ersten Mal. Eine Folgerung daraus könnte darin bestehen, dass sich auf diese Weise eine Art neuronales Ablagesystem aufbaut: ähnliche Impulse werden auch in räumlicher Nähe gespeichert. Die Mechanismen dieses Übersprechens sind allerdings noch nicht bekannt.

Auch an einer zweiten jetzt veröffentlichten Arbeit war der oben schon genannte Karel Svoboda beteiligt. Das Team um den Forscher zeigt darin, wie leicht Nervenzellen das Lernen fällt. Die Wissenschaftler trainierten Mäuse darauf, kürzeste Folgen von je fünf Lichtimpulsen à eine Millisekunde zu erkennen. Danach reichte es, wenn der von der Impulsfolge ausgelöste Stimulus ganze 300 Nervenzellen zum Feuern brachte. Wenn die Impulse länger waren, wurde die Aufgabe sogar schon von einem Komplex aus 60 Nervenzellen mit Bravour erledigt.

Die Forscher bemerken in ihrer Arbeit zudem, dass ihre Zahlen offenbar das Maximum darstellen, eine Schätzung auf der sicheren Seite - womöglich feuern also noch weniger Nervenzellen als gedacht. Darauf weist jedenfalls eine Arbeit von Arthur Houweling und Michael Brecht hin, die Ratten auf Erkennungsaufgaben trainierten. Während der Versuche regten die Wissenschaftler einzelne Gehirnzellen an - und prompt änderten sich die Erkennungsergebnisse. Dabei erreichten die Forscher ein deutlicheres Ergebnis, wenn sie hemmende Nervenzellen aktivierten - bei der Anregung von anregenden Zellen hingegen waren die Resultate nicht so eindeutig. Alle drei jetzt veröffentlichten Arbeiten zeigen, dass das Gehirn mit dem einfachen Modell größtmöglicher Vernetzung noch nicht ausreichend beschrieben ist - Komplexität entsteht hier offenbar sowohl auf lokaler als auch auf dislokaler Ebene.