"Eiserne Lady" in Trouble: Finanzmarkt-Turbulenzen zwingen Truss in den Rückwartsgang

Bild: Prime Minister's Office/ Open Government Licence v3.0

Panik am Markt; Finanzstabilität war bedroht, britische Notenbank musste massiv intervenieren; Regierungschefin und Thatcher-Nacheiferin vollzieht spektakuläre Kehrtwende bei den Steuersenkungsplänen für Großverdiener.

Man ist von neoliberalen Konservativen nichts anderes gewohnt. Ihr Mantra heißt Steuererleichterungen. Gemeint sind damit vor allem die Steuern derjenigen, die eigentlich mehr Steuern zahlen können: Spitzenverdiener. So war es kein Wunder, dass auch die selbsternannte neue britische "eiserne Lady" Liz Truss solche "Rezepte für ein Desaster" nach ihrer Wahl durch die Tory-Mitglieder im Gepäck hatte.

Diese Rezepte kennt man auch von Donald Trump. Auch die Konservativen in Spanien schaffen derzeit die Vermögenssteuer in den Regionen ab, in denen sie regieren. So etwa gerade in Andalusien, das nun mit Madrid gleichgezogen hat.

Wie absurd es ist, just auf Einnahmen von Spitzenverdienern und Reichen zu verzichten, die sich höhere Steuerausgaben leicht leisten können, zeigt sich in Andalusien bereits. Man verzichtet auf Millionen aus der Vermögenssteuer, aber schon eine Woche später fordert die Regionalregierung von der Zentralregierung viel Geld, um Infrastruktur auszubauen und etwas gegen den Wassermangel wegen des Klimawandels zu unternehmen.

"Gebt uns das Geld, wir verdursten!", brachte der andalusische Präsident Juan Manuel Moreno den neoliberalen Wahnsinn auf den Punkt.

Üblicherweise dauert es einige Jahre oder sogar Legislaturperioden, bis diese Rezepte für ein Desaster durch Wahlen beendet werden. Im Fall der britischen Regierung dauerte es nun nicht einmal einen Monat, bis der Versuch der britischen Premierministerin und ihres Finanzministers Kwasi Kwarteng wieder gekippt werden musste.

"Wir haben es verstanden, wir haben zugehört"

Truss, die nicht durch Wahlen an die Macht kam, wollte ebenfalls sofort die eigene Klientel mit Steuererleichterungen bedienen. Es war eine der ersten Entscheidungen von ihr - die allerdings ihre Unbeliebtheit nur noch deutlich weiter gesteigert hat -, den Spitzensteuersatz von 45 Prozent auf 40 Prozent zu senken. Fortan sollten Großverdiener mit Einkünften über 150.000 Pfund also deutlich weniger Steuern bezahlen.

Doch dieses Vorhaben musste gerade gestrichen werden. "Wir haben es verstanden, wir haben zugehört", twitterte Schatzkanzler Kwarteng am Montag. In einem angehängten Text teilte er mit, dass die Senkung des Höchststeuersatzes für Topverdiener von den übrigen Elementen seines Pakets abgelenkt habe.

Es habe sich um den "vorrangigen Auftrag" gehandelt, die "Herausforderungen, vor denen unser Land steht, zu bewältigen", begründete er nun plötzlich seinen Schwenk um 180 Grad. An den übrigen Vorhaben seines Wirtschaftsplans, die auch in den eigenen Reihen sehr umstritten sind, will der Tory-Politiker allerdings festhalten. Man wird sehen, was davon real übrigbleibt.

Wirtschaftswachstum ankurbeln

Die Steuersenkung war Teil eines Maßnahmenpakets im Umfang von 45 Milliarden Pfund, mit dem die neue Regierung das Wirtschaftswachstum ankurbeln will. Am 23. September hatte der Finanzminister seinen "Growth Plan 2022" vorgestellt, der auch dazu geeignet sein sollte, die hohe Inflation in Großbritannien zu senken.

Die Inflation hatte im Juli offiziell schon die Marke von zehn Prozent überschritten. Sie ist zuletzt im August wegen sinkender Ölpreise wieder leicht auf 9,9 Prozent gesunken. Die Erwartungen haben sich also schon früher als erwartet bestätigt. Die Inflation für die einfachen Menschen liegt ohnehin weit darüber, wie Telepolis aufgezeigt hatte.

Unterstützen wollte der Schatzmeister nach eigenen Angaben aber auch Unternehmen. Die auf Wirtschaft spezialisierte Nachrichtenagentur Bloomberg bemerkte dazu, dass es sich bei den Vorhaben in Großbritannien um die "umfangreichsten Steuersenkungen seit 1972" handele, wobei vor allem die "Steuern für reiche Haushalte und Unternehmen gesenkt" würden.

Dass sich der Finanzminister auf dem Tory-Parteitag in seiner Rede vor den Parteigängern nun plötzlich an die kleinen Leute wandte, dürfte ein Ablenkungsversuch sein. "Diese Regierung wird immer auf der Seite jener stehen, die am meisten Hilfe brauchen", erklärte Kwarteng nun.

Reaktion der deutschen Medien

Im deutschsprachigen Raum geht wegen seiner Steuerpläne und deren Rücknahme auch die liberale und konservative Presse hart mit dem Schatzmeister und der Regierung ins Gericht. Die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) meint, dass sogar schon "Wetten laufen", wie lange sich der Finanzminister noch im Amt wird halten können.

Die FAZ schreibt zur "peinlichen Kehrtwende", die sie auch Truss anlastet: Die Premierministerin und Kwarteng würden nicht wie Reformer im Stile der "eisernen Lady" Margaret Thatcher wirken, "sondern wie Tollpatsche". Ausgeführt wird:

"Mit bemerkenswerter politischer Instinktlosigkeit hat er (Kwasi Kwarteng; Einf. d. A) einen Steuersenkungsplan vorgelegt, der in der öffentlichen Wahrnehmung nun geradezu toxisch erscheint."

Man könnte sich angesichts der vorherrschenden Linie der Zeitung fragen: Stört sich die FAZ nur, dass es für die Labour-Partei ein Leichtes war, "die Tories als Kumpane der Reichen darzustellen, die Steuergeschenke für Spitzenverdiener verteilen, während einfache Bürger unter Kürzungen und Reallohnverlusten leiden". Dabei ist das doch der Kern der neoliberalen Politik. Stört es die FAZ, dass Truss diese Politik unverblümt auf den Tisch gelegt hat?

Der Spiegel schreibt über eine der "demütigsten Entscheidungen einer britischen Regierung seit Jahrzehnten", schließlich hatte Truss angekündigt, sie werde auch unpopuläre Entscheidungen treffen. Unpopulär sind vor allem nun sie und ihr Finanzminister. Der Spiegel meint, dass sie eigentlich zurücktreten müsste, doch die Tories fürchten sich vor Neuwahlen.

In andere Zeitungen ist von einer "ebenso schmerzhaften wie symbolisch bedeutenden Kehrtwende" zu lesen. "Die Kehrtwende wirkt umso peinlicher, als sie überhastet erfolgte", berichtet die Neue Zürcher Zeitung (NZZ).

Da kann man nur zustimmen, schließlich hatte noch am Sonntag die Premierministerin im Interview mit der BBC an den Plänen zur Steuersenkung für Großverdiener festgehalten. Allseits wird davon ausgegangen, dass nun auch andere Maßnahmen fallen werden.

Dass der Rückzug viel zu spät kam, kritisierte auch die ehemalige Notenbank-Ökonomin Rachel Reeves. Die Labour-Abgeordnete betonte per Twitter, dass die viele Familien wegen der erratischen Politik "nun jahrelang höhere Hypotheken und höhere Preise zahlen werden".

Sie ist davon überzeugt, dass die Tories nicht nur ihre "Glaubwürdigkeit" zerstört hätten, sondern auch das "Vertrauen in die britische Wirtschaft". Es gebe keinen Plan, um das in Ordnung zu bringen, was in zwölf Jahren konservativer Regierung angerichtet worden sei.

Die gesamte Trickle-Down-Strategie sei gescheitert, stellt sie fest. Tatsächlich gibt es nirgendwo seit Jahrzehnten einen Hinweis darauf, dass Steuererleichterungen für Reiche nach unten durchsickern und letztlich allen zugutekommen würden. "Wir warten auf diesen Trickle-down-Effekt nun seit 30 Jahren – vergeblich", erklärte der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman schon vor 14 Jahren im Interview.

Obszöne Politik

Seither kann man zusehen, wie richtig er mit der Aussage lag, dass "unsere Gesellschaft einen unglaublichen Abstand zwischen Arm und Reich entwickelt, die Mittelschichten sind immer kleiner geworden". Ein Gewinn für die Gesamtgesellschaft konnte auch Krugman nicht erkennen.

In den vergangenen 14 Jahren hat sich die Schere sogar noch viel weiter geöffnet. Genau deshalb ist die Politik der Konservativen so obszön und abstoßend, dass es sogar die FAZ empört.

Die Labour-Abgeordnete Reeves forderte deshalb, dass der "Kamikaze-Haushalt" sofort rückgängig gemacht werden müsse. Dass international Scherben zerschlagen wurde, darauf hatte Bloomberg schon nach den Vorstellungen des Maßnahmenpakets berichtet.

So rauschte das britische Pfund in den Keller und sank auf einem Tiefstand zum US-Dollar seit 1985. Zwischenzeitlich schmierte der Wechselkurs zum Dollar sogar auf 1,03 ab, das ist der tiefste Stand in der Geschichte.

Eine schwache Währung, das wurde hier im Rahmen der Euro-Schwäche schon diskutiert, ist aber alles andere als gut, um die Inflation zu bekämpfen, wie es die Truss-Regierung angeblich vorhat.

Ein wichtiger Inflationstreiber ist derzeit Energie. Öl und Gas werden aber in Dollar bezahlt, womit sich die Energie bei einer abstürzenden Währung sogar verteuern kann, wenn der Ölpreis wie in den letzten Wochen wieder deutlich sinkt.

Starker Verkauf von britischen Vermögenswerten, massive Verwerfungen an den Finanzmärkten

Doch damit nicht genug, kam es auch zu einem starken Verkauf von britischen Vermögenswerten. Das führte unter anderem dazu, dass die Zinsen für britische Staatsanleihen in die Höhe schnellten, zumal das Maßnahmenpaket über neue Schulden finanziert werden sollte.

Die Zinsen für Staatsbonds mit einer Laufzeit von 30 Jahren waren zum ersten Mal seit 2002 auf über fünf Prozent gestiegen. Die Renditen für zehnjährige Staatsanleihen waren auf knapp 4,6 Prozent angeschwollen.

Das rief natürlich auch Kritiker in den konservativen Reihen auf den Plan. Allein mit neuen Schulden finanzierte Steuersenkungen seien ebenso wenig konservativ wie Steuersenkungen, von denen Wohlhabende deutlich mehr profitierten als die breite Bevölkerung, hatten auch hochrangige Tory-Mitglieder wie Michael Gove kritisiert. Der blieb mit der Kritik aus den eigenen Reihen wahrlich nicht allein.

"Tories sind nicht dazu da, so zu regieren", schrieb zum Beispiel der frühere Transportminister Grant Shapps in der Times. Es sei nicht an der Zeit nun "jenen Geschenke zu machen, die sie am wenigsten brauchen".

Was tatsächlich dazu geführt haben dürfte, dass die Regierung den Rückwärtsgang eingelegt hat, hat weder mit einer realen Einsicht noch mit Kritik von Tories zu tun. Vielmehr sind dafür die massiven Verwerfungen an den Finanzmärkten verantwortlich. Die versucht man nun in London zu beruhigen.

Die politische Atempause, die man sich über den Rückzug beim Spitzensteuersatz verschafft hat, widmet sich nun dem mittelfristigen Finanzplan. Den will der Finanzminister Kwarteng nun nicht mehr am 23. November veröffentlichen, sondern schon einen Monat vorher.

Dann will er auch Pläne vorlegen, wie die Schuldenlast im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung reduziert werden kann, die sogenannte Schuldenquote. Das läuft gerade bei Konservativen gerne auf neue Einschnitte ins Sozialsystem und soziale Verwerfungen hinaus.

Kursänderung der Bank of England

Angesichts der Kamikaze-Politik der Regierung musste schließlich auch die britische Notenbank einen Schwenk hinlegen. Die Bank of England (BoE) hatte eigentlich angesichts der hohen Inflation zwar auch zu spät, aber vergleichsweise frühzeitig im Vergleich zu anderen Notenbanken mit der Inflationsbekämpfung begonnen.

Sie hatte die Geldschleusen geschlossen und die Leitzinsen längst deutlich erhöht. Eigentlich wollte die BoE nun in dieser Woche sogar damit beginnen, die Bilanzsumme zu verringern, indem sie ihren Anleihebestand reduziert.

Doch daraus wird nichts. Angesichts der Verwerfungen hat die BoE nun ihre Geldschleusen erneut geöffnet, bisher befristet sogar sehr weit. Die Lage hatte die Notenbank als sehr ernst eingeschätzt, nachdem Banken ankündigt hatten, ihre Kreditangebote für Immobilienkäufer vom Markt zu nehmen.

Deshalb schritt die BoE ein, da ein "erhebliches Risiko" für die Finanzstabilität bestehe. Wenn die Dysfunktion weiter anhalte, würde dies "zu einer ungerechtfertigten Verschärfung der Finanzierungsbedingungen und einer Verringerung des Kreditflusses an die Realwirtschaft führen", teilte die Notenbank mit.

Man werde zunächst, zumindest befristet bis Oktober, so viele langfristige britische Staatsanleihen wie nötig aufkaufen, um "geordnete Marktbedingungen wiederherzustellen". "Whatever scale is necessary", heißt es in der Pressemitteilung.

Das ist vergleichbar mit dem berühmten Satz des ehemaligen Chefs der Europäischen Zentralbank (EZB) Mario Draghi, der tief in der Eurokrise vor 10 Jahren erklärte, man werde alles tun - "whatever it takes", um den Euro über einen unbegrenzten Anleihekauf zu retten.

Dramatische Lage

Die Lage dürfte sogar noch dramatischer gewesen sein, als allgemein angenommen wird. Der Anleihe‑Crash in Großbritannien hatte offenbar auch einige Pensionsfonds an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. "Irgendwann am Mittwochvormittag stand für einen Augenblick die Altersvorsorge Hundearttausender Briten auf dem Spiel.

Wäre die Bank of England (BoE) nicht eingeschritten, hätten die Verwerfungen am britischen Kapitalmarkt womöglich systembedrohende Ausmaße angenommen", hatte die WirtschaftsWoche (WiWo) berichtet.

Die Notenbank hätte sogar "einen Lehman‑Moment verhindert", wird mit Blick auf den Zusammenbruch der US-Investitionsbank Lehman Brothers 2008 berichtet, der Schockwellen über die gesamte Welt jagte. Das markierte den offensichtlichen Ausbruch der Finanzkrise, in deren Verlängerung wir noch heute stecken.

Panik am Markt

Wiwo geht davon aus, dass die "Gefahr für das Finanzsystem noch nicht gebannt ist" und meint, dass die Verwerfungen am britischen Kapitalmarkt ohne das Einschreiten der BoE womöglich wieder einmal systembedrohende Ausmaße angenommen hätten.

Da Pensionsfonds gezwungen waren, sich frisches Geld zu besorgen, sie also versuchten Staatsanleihen zu verkaufen, war die "Panik am Markt" groß, da keiner die langlaufenden britische Anleihen habe kaufen wollen. Deshalb habe sogar die Insolvenz von Pensionsfonds gedroht, "mit mutmaßlich dramatischen Folgen für das britische Renten‑ und Finanzsystem".

Erst als die BoE als Käufer einsprang, entspannte sich die Lage wieder. Seither sind die Zinsen für Staatsanleihen wieder gesunken und auch das Pfund hat sich wieder stabilisiert. Der Vorgang zeigt allerdings, auf welch tönernen Füßen das gesamte Finanzsystem weiter steht.