Erdogans Bauprojekte: Das neue Gesicht der Türkei

Seite 2: Taksim und Gezi: Erdogan gibt nicht nach

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Von Galata hoch bis nach Taksim, dem modernen Stadtzentrum, sind die Mietpreise in den letzten Jahren explodiert, je nach Lage haben sie sich verfünffacht, Wohnungen in Cihangir oder Gümüssuyu mit Meerblick können schnell mehrere Millionen Euro kosten. Wirklich radikal geht es in weniger populären Bezirken zu. Das alte Romaviertel Sulukule wurde mit Bulldozern planiert, die Bewohner vertrieben. Heute steht dort eine Neubausiedlung. Alle Proteste liefen ins Leere.

Der Dokumentarfilm "Ekümenopolis" zeigte 2012, wie der Bauboom vorangetrieben wird, der die ärmeren Schichten an die Stadtränder verdrängt. Den Investoren geht es um den schnellen Profit, der Regierung darum, die Wirtschaft zu befeuern. Dass das zu sozialen Zerwürfnissen führt und zur fortschreitenden Zerstörung der Natur, das interessiert die Akteure nicht.

Gezi Park. Bild: Gerrit Wustmann

Es war nicht zuletzt diese Entwicklung, die 2013 in den Gezi-Protesten mündete. Es ging dabei weniger darum, einen nicht sonderlich schönen Park zu retten. Gezi und Taksim haben Symbolcharakter, seit drei Jahren mehr denn je. Sie sind inoffizielle Wahrzeichen der Atatürk-Türkei. Am Kopf des Platzes thront das längst geschlossene Atatürk Kültür Merkezi (AKM). Auf der einen Seiten grenzt der Platz an das Künstler- und Ausgeviertel Cihangir (neben Besiktas sowie Kadiköy auf der asiatischen Seite das Zentrum des Widerstands gegen die AKP), auf der anderen an das Armenviertel Tarlabasi, das ebenfalls komplett abgerissen und durch ein schickes Touristenviertel ersetzt werden sollte. Hier ist kein Minarett zu sehen, weit und breit gibt es nichts, das an Erdogan denken lässt.

Und darum geht es. An der Stelle des heutigen Parks stand zuvor eine osmanische Kaserne. Atatürk ließ sie abreißen. Erdogan will sie wieder aufbauen, er will den Platz symbolisch erobern. Und diese Pläne liegen inzwischen wieder auf dem Tisch. Erst im Juni bekräftigte er: "Dort stand mal ein historisches Gebäude. Wir werden es wieder aufbauen!"

Aber das soll nicht alles sein. Das AKM soll abgerissen und durch ein neues Opernhaus ersetzt werden. Und am Taksim-Platz soll eine Moschee entstehen. Mit anderen Worten: Den Taksim-Platz und seine heutige Bedeutung will Erdogan ausradieren. Und wahrscheinlich wären ihm weitere Massendemos an Ort und Stelle ganz recht, sie wären die Vorlage für eine erneute Machtdemonstration. Aber, wie Ahmet Hakan in der Hürriyet kommentierte: "Die Menschen sollten ihm nicht geben, was er will."

Der Abriss des Gezi-Parks wurde damals vom zuständigen Gericht für unzulässig erklärt. Zwischenzeitlich wurden die Richter ausgetauscht und es erging ein neues Gutachten, das den Neubau der osmanischen Kaserne genehmigt. Und was da am Ende drin sein soll, ist bis heute nicht abschließend geklärt. Vielleicht ein Hotel, vielleicht ein Museum. Ein Einkaufszentrum, wie ursprünglich geplant, wird es wohl nicht werden. Anlässlich der Polizeigewalt vom Sommer 2013 hatten alle potentiellen Mieter ihre Interessensbekundungen widerrufen.

Hauptsache groß: Erdogans Megaprojekte

Obendrauf kommen Projekte, die zum Teil die Grenze zum Größenwahn längst überschritten haben. Tunnel unter dem Bosporus, höchste Brücke der Welt, größte und höchste Moschee der Welt, größter Flughafen der Welt und nichts weniger als ein zweiter Bosporus. Die Frage, wie sinnvoll diese Projekte im Einzelnen sind, wird schon gar nicht mehr gestellt, Kritik wird ignoriert.

Die Bauindustrie, teils türkische Großunternehmen, teils internationale Konsortien, scheffeln Milliarden, die türkische Regierung pumpt Unsummen aus der Steuerkasse in die private Bauwirtschaft. Wirtschaftlichkeit spielt keine Rolle. Nur groß muss es sein, größer als alles Bestehende. Am Ende wird Istanbul das stadtgewordene Mahnmal eines überbordenden Minderwertigkeitskomplexes.

Ende August wurde die dritte Brücke über den Bosporus eröffnet: die breiteste Brücke der Welt, und gemessen an der Spitze ihrer Pfeiler auch die höchste. Sie ist benannt nach Yavuz Sultan Selim (1470-1520), auch "der Grausame" genannt. Er führte Krieg gegen Persien, schickte Truppen nach Kairo und Aleppo, richtete unter Aleviten und Schiiten Blutbäder an. Die Brücke selbst sollte der AKP zufolge den Verkehr in Istanbul entlasten, was aber kaum gelingen dürfte, da sie zu weit abseits der Innenstadt liegt.

Aber das nächste Projekt ist schon unterwegs: Nachdem Ende 2013 der Marmaray-Tunnel eröffnet wurde, ein U-Bahn-Tunnel, der von der Altstadt in Europa nach Kadiköy in Asien führt, soll bis 2020 ein weiterer, mehrstöckiger Tunnel für Autos und Bahnen die Kontinente verbinden. Bereits beim Marmaray-Projekt hatte es Sicherheitsbedenken gegeben, die zum Teil bis heute nicht ausgeräumt sind.

Da die beiden Istanbuler Flughäfen Atatürk und Sabiha Gökcen heillos überlastet sind, entsteht auf der europäischen Seite in Arnavutköy ein dritter Flughafen mit geplanter Inbetriebnahme 2018. Es soll der größte Flughafen der Welt werden. Als großer Haken wird neben den Kosten (nach letzten Schätzungen mehr als 32 Milliarden Euro) die große Entfernung zur Innenstadt gesehen. Während der Atatürk-Airport relativ nah am Zentrum liegt, wird der neue Flughafen gut 35 Kilometer vom Stadtkern entfernt liegen, was ihn vor allem für Touristen eher uninteressant machen könnte.

Längst weithin sichtbar weil am höchsten Punkt der Stadt erbaut ist die Camlica-Moschee, die kurz vor der Eröffnung steht. Nicht nur die größte Moschee der Welt soll es sein, sondern mit sechs 107 Metern hohen Minaretten auch die höchste. Ein Herzensprojekt Erdogans, das nach drejähriger Bauphase nahezu abgeschlossen ist und der Skyline der Metropole einen erdoganschen Stempel aufdrückt.

Die Spitze dieser Megaprojekte ist allerdings der Kanal Istanbul: Nichts weniger als ein zweiter Bosporus auf der europäischen Seite soll es werden, und die vorgeschobenen Argumente klingen auch schlüssig: Der Schiffsverkehr durch den Bosporus mit über 250 Schiffen täglich ist eine Belastung für die Stadt und die Natur geworden, der neue Kanal könnte Entlastung bringen - und weiteren Schiffsverkehr. Bei der Umsetzung soll Panama helfen.

Dass der Bau unter Umweltschützern höchst umstritten ist, ist klar. Ein besonderes Augenmerk gilt aber auch hier wieder der symbolischen Bedeutung: Die ersten Ideen für solch einen Kanal sind mehrere hundert Jahre alt und stammen von osmanischen Sultanen, an deren Ideen Erdogan bewusst anknüpft - und auch der angedachte Fertigstellungstermin ist kein Zufall: 2023. Das hundertste Jubiläum der Republikgründung. Ende 2016 sollen die Arbeiten laut Ministerpräsident Binali Yildirim beginnen.