Erfolgreiche Ungleichheitsbekämpfung an der Wiege der westlichen Kultur?

Seite 2: Solons "Lastenabschüttelung" in Athen

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Um die Wende vom siebten zum sechsten vorchristlichen Jahrhundert, rund hundert Jahre nach Lykurg, hatten sich auch in Athen bzw. der "Attika"3 die Ungleichheit verschärft. Die Macht lag in Händen einer kleinen Oligarchie - und wie Sparta hatte Athen jahrelang schwache Regierungen gehabt, die von der Oligarchie kontrolliert wurde. An Regierung und Rechtssprechung durfte nur teilnehmen, wer einen berittenen Soldaten ausrüsten und die passende Abstammung vorweisen konnte. Diesen "Hippeis" ("Ritter") waren alle höheren Ämter vorbehalten - und nach ordnungsgemäßer Amtsführung gebührte ihnen ein Sitz im "Senat", einem Rat von 401 Männern, der alle Ämter vergab, alle politischen Entscheidungen fällte und die Einhaltung der Gesetze überwachte.4

Die oberste Schicht lebte in den Städten, verachtete körperliche Arbeit und ließ ihre Güter von Knechten und Sklaven bewirtschaften. Am unteren Ende der sozialen Schichtung fanden sich kleine Bauern, die als Folge der Erbteilung über immer weniger Land verfügten und den kargen agrarischen Verhältnissen zunehmend ohne Reserven ausgeliefert waren. Folglich mussten sie sich nach jeder Missernte verschulden, galten dank ihres verbliebenen Landbesitzes aber noch immer als freie Bürger, die jedoch zu manueller Arbeit gezwungen waren, da es in Attika noch kaum Sklaven gab. Mit der Einführung der Geldwirtschaft und dem Aufblühen von Handel und Handwerk war mit den "Demiurgoi" zudem eine Mittelschicht aus Industriellen und Kaufleuten entstanden, die zunehmend mehr zum Staatshaushalt beitrug und auch entsprechenden Einfluss verlangte.

Jedoch waren die einfachen Bürger Attikas völlig von den Regierungsgeschäften ausgeschlossen (wobei es nicht einmal eine Volksversammlung gab, bei der sich das Volk zu wesentlichen politischen Fragen hätte äußern können). Seit etwa 30 Jahren galten zudem die Gesetze Drakons, nach denen heute noch besonders harte, "drakonische" Strafen benannt werden, weil sie auch für geringere Verbrechen oft nur den Tod als Strafe kannten. Allerdings konnten die einfachen Bürger bei Streitigkeiten mit einem Reichen die Gerichte ohnehin nicht anrufen (wobei laut Aristoteles diese Demütigung auch zuvor schon häufig zu Unruhen geführt hatte, als die Ungleichheit noch nicht solche Ausmaße angenommen hatte). Nun war die Situation allerdings "höchst kritisch" geworden, weil "die Ungleichheit zwischen Reich und Arm ihren Höhepunkt erreichte […] und das ganze niedere Volk bei den Reichen verschuldet war".

Damals entstand übrigens die heute noch übliche Bezeichnung eines mit Grund und Boden besicherten Kredits als "Hypothek". Denn die Gläubiger galten - bis die Schulden abgetragen waren - als "hypothetische Besitzer" des Landes, die anstelle des heute üblichen Eintrags in ein Grundbuch Marksteine einpflanzten. Wie Plutarch schreibt: "Entweder bearbeiteten (die Armen) das Land für sie und lieferten den Sechsten ab, oder wenn sie unter Verpfändung ihres Leibes Schulden aufgenommen hatten, wurden sie von den Gläubigern abgeführt, und dienten teils im Land als Sklaven, teils wurden sie in die Fremde verkauft. Viele waren auch genötigt, ihre Kinder zu verkaufen - denn kein Gesetz verbot das - und [wegen] der Hartherzigkeit der Gläubiger das Land zu verlassen".

Die dadurch verursachte "Solonische Revolution" bietet einen der wenigen Momente in der Geschichte, in dem große soziale Lösungen nicht von massenhaftem Blutvergießen begleitet waren, sondern planvoll und friedlich am Verhandlungsweg gefunden wurden.

Dabei konnte sich der Reformer Solon (anders als Lykurg) nicht auf eine besondere Abstammung stützen. Er gehörte zwar zur Oberschicht, zählte aber nicht zu den besonders Reichen, was Plutarch mit der übermäßigen Freigiebigkeit seines Vaters erklärt. Im Gegensatz zu den meisten seiner Standesgenossen hatte er sich jedoch im Seehandel engagierte und kam schon in jungen Jahren weit herum. Wenn Plutarch von Solons Vermögenslosigkeit spricht, ist das wohl in Relation zu den damaligen Reichtümern der Oberschicht zu sehen, die in dieser Zeit gerade enorm angewachsen waren. Weil das mit normalen landwirtschaftlichen Erträgen aber kaum möglich gewesen wäre und dem Adel die aktive Handelstätigkeit als unschicklich galt, dürfte der Zuwachs der großen Vermögen vor allem aus Finanzgeschäften, gestammt haben: also aus dem Geldverleih.

Die Armen ließen sich das aber ohnehin nicht auf Dauer gefallen und "die meisten und kräftigsten" schlossen sich zusammen, "um einen zuverlässigen Mann zum Führer zu wählen, die Ausgepfändeten aus der Schuldhaft zu befreien, das Land zu verteilen und überhaupt die Verfassung umzustürzen". Plutarch nennt die drei Gruppen, deren Interessen Solon unter einen Hut zu bringen hatte: "Die am Berg", die verarmten Besitzer winziger Landparzellen im kargen Bergland, "wollten die Demokratie. Die in der Ebene", denen das fruchtbare Land gehörte, "bevorzugten die Oligarchie. Und die am Meer", wo Handel, Finanzwesen und Industrie angesiedelt war, wollten "etwas von beidem, wodurch sie die beiden anderen Parteien daran hinderten, sich durchzusetzen".

Anscheinend wurde dieser zunehmend blutige Bürgerkrieg nur unterbrochen, wenn es äußere Gefahren zu bestehen gab, bei denen Solon erstmals als historische Figur in Erscheinung tritt und sich das persönliche Ansehen verschaffte, dass ihn später zum Reformator bestimmte. Zuvor hatte er sich bereits als Dichter, Sänger und Geschichtenerzähler hervorgetan und eine umfangreiche Reisetätigkeit entwickelt, wobei er Handels- und Bildungsreisen kombinierte.

Er hatte sich aber auch in zwei Angelegenheiten eingemischt, die wesentlich zum späteren Aufschwung Athens beitragen sollten. Eine davon war die Einnahme der Insel Salamis, die Athen dringend zur Errichtung eines leistungsstarken Seehafens benötigte, die zweite war die Befreiung des Orakels, das in die Hände des Volks der Kirrhäer gefallen war, welches hohe Abgaben für den Zugang verlangte. Beide Angelegenheiten konnte Solon in führender Position und unter Anwendung diverser Finten und Schmierenkomödien im Sinne Athens lösen, woraufhin sich die "einsichtvollsten Athener" an den Mann wandten, der mittlerweile als einer der "sieben Weisen" Griechenlands galt. Das taten sie mit der Begründung, dass er "allein oder doch am ehesten außerhalb des Streits stand, weil er weder Teil hatte an der Ungerechtigkeit der Reichen, noch von der Not der Armen mit ergriffen war".

Jedoch habe Solon erkannt, dass die "Schuld am Bürgerkrieg die Geldgier und Überheblichkeit der Reichen" trüge. Und nachdem das Orakel von Delphi Solon beauftragt habe, in Athen Frieden zu stiften, spielte er sein lyrisches Talent aus und versprach Armen wie Reichen in poetischer Form eine Rückkehr zu den "guten alten Verhältnissen". Dabei konnte er offenbar allen Seiten den Eindruck vermitteln, er würde ihre Interessen vertreten, weshalb auch erzählt wird, er habe beide Seiten "hinters Licht geführt und den Armen heimlich die Aufteilung des Landes und den Geldleuten die Aufrechterhaltung ihrer Forderungen versprochen.

Angeblich hatten sich die Führer beider Gruppen sogar darauf geeinigt, Solon "als dem Weisesten und Gerechtesten" die Tyrannis anzutragen, damit er seine Reformen ungehindert und wirkungsvoll durchführen könne, was Solon jedoch ablehnte. Aber wenn er auch auf die absolute Macht verzichtete, ging er doch nicht "allzu gelinde an seine Aufgabe heran und gab seine Gesetze weder mit schwächlicher Nachgiebigkeit gegen die Mächtigen noch zum Gefallen derer, die ihn gewählt hatten". Was er weder "durch gütliche Überredung", noch "durch einigen Zwang" durchzusetzen können glaubte, das setzte er seinen eigenen Worten nach um, indem er "Gewalt zugleich und Recht zusammenkoppel[te]".

Seine erste Aktion wurde als die "Lastenabschüttelung" bekannt, die laut Aristoteles so genannt wurde, weil man mit ihr tatsächlich eine drückende Last abschüttelte. Laut Plutarch wandte Solon hier erstmals einen Kunstgriff an, der den Athenern später generell nachgesagt wurde, "wenn sie etwa die Huren Freundinnen, die Tribute Beiträge, die Besatzungen der Städte Wachen und das Gefängnis Zelle nennen": Er versteckte "die hässlichen Dinge mit höflicher Umschreibung hinter hübschen und freundlich klingenden Worten".

Während als gesichert gilt, dass Solon verbot, mit dem eigenen Körper für Darlehen zu haften, ist das tatsächliche Ausmaß des Schuldenerlasses strittig. Plutarch schildert beide Varianten, neigt aber zur Auffassung, dass eine "komplette" Schuldenstreichung erfolgt sei, während Aristoteles5 eher der zweiten Variante zuzuneigen scheint, die wie eine ausgesprochen moderne monetäre Lösung wirkt: Danach reduzierte Solon nur die Zinsen und ließ die Schulden nominell unverändert. In realiter verringerte er die Schuldenlast aber um rund ein Drittel, indem er das Talent (die höchste Währungseinheit in Athen) von 36 auf 26,2 Kilogramm Silber absenkte.

Plutarch dazu: "Er setzte die Mine, die bis dahin dreiundsiebzig Drachmen gegolten hatte, auf hundert Drachmen6, so dass zahlenmäßig bei gleicher, wertmäßig aber geringerer Rückzahlung die Zahlenden einen erheblichen Vorteil hatten, ohne dass die Empfangenden einen Schaden erlitten". Jedenfalls erreichte er mit seinen Reformen das, was laut Plutarch "für den Bestand und die Eintracht [im] Staat" ausgesprochen förderlich war: "dass es keinen Armen und keinen Reichen unter den Bürgern gab".

Allerdings dürfte ihm in diesem Zusammenhang ein kleines Missgeschick passiert sein. Denn seine drei besten Freunde hatten mitbekommen, dass es zwar keine Neuverteilung des Landes, aber eine komplette Schuldenstreichung geben werde, woraufhin sie bei den Reichen Kredite aufnahmen und damit große Ländereien kauften. Solon wurde daraufhin vorgeworfen, er stecke mit ihnen im Bunde und habe sich gleichfalls auf diese Weise bereichert - dann aber wurde bekannt, dass Solon selbst fünf (nach anderen Quellen sogar 15) Minen verliehen hatte und der erste war, der diese nicht zurück verlangte.

Da er den Armen die erhoffte Neuverteilung des Landes verweigert hatte und die Reichen auf ihre Forderungen verzichten mussten, hatte er sich zwar auf beiden Seiten kurzfristig viele Feinde gemacht. Die Athener sollen jedoch den Nutzen seiner Maßnahmen bald erkannt haben, und sie "ließen von den gegenseitigen Beschimpfungen ab und feierten ein gemeinsames Opferfest, dass sie Lastenabschüttelungsfest nannten".

Anschließend gaben die Athener Solon noch weit umfassendere Vollmachten - und der machte sich damit an umfassende Reformen, schaffte die Gesetze Drakons ab und reformierte das Ehe- und das Erbrecht. Zwar etablierte Solon nun keine moderne Demokratie, sondern eine Art von ständischer Ordnung, bei der die politischen Einflussmöglichkeiten mit zunehmendem Vermögen anstiegen. Wesentliche Fragen wurden jedoch der Volksversammlungen zur Letztentscheidung überlassen, wo auch die ärmsten Bürger stimmberechtigt waren.

Der Einfluss dieser Versammlungen wurde zudem gesteigert - und das laut Aristoteles ganz bewusst - indem die Gesetze sehr unklar formuliert waren, so dass möglichst viele Streitfragen der Volksversammlung vorgelegt werden mussten. Erstmals konnte auch jeder die Gerichte anrufen, Klage erheben und Schadensersatz verlangen. Vor allem konnte nun jeder Bürger durch eigene Leistung (d.h. durch den Erwerb des Mindestvermögens) die Voraussetzung für den Eintritt in öffentliche Ämter schaffen und in der gesellschaftlichen Rangordnung nach oben kommen.

Obwohl die Einführung etwas holprig erfolgte (und später noch einige Tyrannen und Aufstände verzeichnet wurden), erhielt Athen von Solon ein Staatskonzept, dass sich Jahrhunderte lang halten und die Stadt zeitweise ökonomisch intellektuell und militärisch an die Spitze der antiken Welt bringen sollte. Er schwang sich, obwohl von Volk und Aristokratie anscheinend dazu aufgefordert, nach Vollendung des Reformwerkes auch nicht zum Tyrannen auf, sondern begab sich "auf zehn Jahre in die Fremde". Das tat er (wie uns der griechische Historiker Herodot überliefert) nicht "wie er vorgab, [um] sich in der Welt umzusehen, sondern, um nicht genötigt zu werden, irgend eines der Gesetze, die er gegeben hatte, wieder aufzuheben: Denn den Athenern selbst war es nicht möglich, dies zu tun, weil sie sich durch unverbrüchliche Eide gebunden hatten, zehn Jahre lang die Gesetze anzuwenden, die ihnen Solon gäbe" - was Solon mit "nichts als dem guten Willen und der guten Meinung des Volkes" geschafft hatte.

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