Es droht die totale Kommerzialisierung des Internet

Bürgernetze: Ein Gewebe von nachhaltigen Gemeinschaften

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Douglas Schuler aus Seattle, Washington, ist gemeinde- und netzpolitisch aktiv. Er ist Mitbegründer des Seattle Community Network und hat viel über Bürgernetze geschrieben. John Horvath hat während der Tagung "Internet & Politik" mit ihm ein Gespräch geführt.

Würden Sie sagen, daß Computernetze in irgendeiner Weise das Fundament einer nachhaltigen Kommune sein können, oder sind sie nur ein Aspekt unter vielen anderen?

DOUGLAS SCHULER: Computernetze sind nur ein Aspekt unter vielen anderen, auch wenn ich mir keine starke demokratische Kommune vorstellen kann, die keinen freien (oder fast freien) Zugang zu einem Bürgernetz hat. Kommunikation ist die Grundlage für nahezu alles, was Menschen machen, und wir müssen die neue Technologie so gestalten, daß sie demokratische Kommunikation unterstützt. In meinem Buch habe ich übrigens sechs zentrale Werte (Kultur und Gemeinschaftlichkeit; Ausbildung; starke Demokratie; Gesundheit und Wohlergehen; wirtschaftliche Möglichkeiten, Gleichheit und Nachhaltigkeit; Information und Kommunikation) entwickelt, die für alle Gemeinschaften notwendig sind, wobei verschiedene Gemeinschaften sich in unterschiedlicher Weise an diesen zentralen Werten orientieren können.
In Seattle gibt es eine Organisation, die sich Sustainable Seattle nennt. Sie wurde vor fünf Jahren geschaffen und begann mit der Frage; "Wie können wir wissen, ob Seattle mehr oder weniger nachhaltig wird?" Und die Antwort lautete: "Wir benötigen Indikatoren, die es uns ermöglichen, über die Zeit hinweg Momentaufnahmen von der Nachhaltigkeit zu erhalten." Die erste Stufe des Projekts bestand in der Entwicklung dieser Indikatoren. Nach zwei oder drei Jahren wurde eine Liste von Indikatoren für Nachhaltigkeit festiggestelt. Die Mitglieder der Organisation suchten nach Kriterien, die für die ganze Region symptomatisch waren. Zuerst formulierten sie etwa 40, jetzt haben sie bereits über 100 Kriterien. Das waren Indikatoren wie die Anzahl der wilden Lachse, die zum Laichen zurückkehren, die Teilnahme an Künsten oder Gartenpflege. Sie stellten die Beschreibungen dieser Indikatoren und die Daten in das Seattle Community Network. Mir erschien das sehr richtig. Sie konzentrierten sich auf die Region um Seattle, und wir hatten ein Netzwerk. Anstatt also ihr eigenes Netzwerk zu schaffen, sagten sie: "Oh, das ist ein kommunales Medium." So veröffentlichten sie ihre Informationen in unserem System als einer anderen Möglichkeit, wie Menschen die Indikatoren kennenlernen können.
Sustainable Seattle will das Thema der Nachhaltigkeit in Seattle bekanntmachen. Man hat die Indikatoren formuliert, und der nächste Schritt ist, durch diese ein Bewußtsein für Nachhaltigkeit zu entwickeln und schließlich eine Veränderung herbeizuführen. Sie wollen nicht, daß die Menschen nur müßig zuschauen: "Oh, das also machen sie in Seattle. Wir können einige Ideen übernehmen. Wir müssen nicht alles übernehmen, aber wir müssen auch nicht das Rad neu erfinden, weil sie ein paar gute Ideen haben, die wir gebrauchen können." Daher können andere nachhaltige Kommunen Teil eines größeren Netzwerkes von Menschen werden, indem sie Informationen über Nachhaltigkeit weitergeben."
Entscheidend bei Seattle Sustainable war, daß eigene Indikatoren entwickelt wurden. Man rief nicht bei der Regierung oder der Universität an und fragte nach Indikatoren, weil diese Indikatoren für sie nicht zu gebrauchen wären. In einer Kommune, die beispielsweise durch chemische Abfälle einer Fabrik belastet wird, kann die Gemeinschaft sagen: "OK, wir werden uns um die Gesundheit in einem weiten Sinn in unserer Kommune kümmern, und wir werden diese toxischen Stoffe als Indikatoren verwenden." Wenn sie die Daten erhalten und veröffentlichen, wird es für jeden offenkundig, daß sie sich damit befassen. Daher ist die Idee zwingend, auf eigene Faust wissenschaftlich zu arbeiten oder zu forschen. Als ich beobachtete, wie dies die Leute von Sustainable Seattle machten, dachte ich, das ist genau das, was SCN unterstützen sollte. Wenn man es nicht selbst macht, wartet man vielleicht darauf, daß es ein anderer macht. Und selbst wenn die Menschen es machen sollten, tun sie es vielleicht nicht. Daher können kommunale Netze die Möglichkeit für politisch aktive Menschen schaffen, als Wissenschaftler zu arbeiten und wichtige kommunale Daten veröffentlichen, an deren Sammlung oder Veröffentlichung andere Menschen oder Institutionen kein Interesse haben. Sie ermöglichen den politisch Aktiven auch, mit anderen Menschen zu kommunizieren, die ihnen helfen können. Wenn man beispielsweise die Wasserqualität in einem Fluß messen will, wird man mit Menschen sprechen, die dafür Experten sind. Experten spielen eine Rolle, aber man will sie nicht während des gesamten Projekts auf dem Fahrersitz sehen.

Gibt es hierbei eine Vernetzung von unterschiedlichen Interessen, beispielsweise mit denjenigen, die wie Ithaca Hours über alternative Währungen diskutieren, was auch eine Möglichkeit darstellen könnte, nachhaltige Kommunen zu stärken? Wenn so etwas geschieht, kann das angesichts der globalen Ökonomie überhaupt eine Bedeutung erlangen? Steht das Konzept von nachhaltigen Kommunen nicht im Gegensatz zur globalen Ökonomie, ist es also nicht ein Paradox?

DOUGLAS SCHULER: Zunächst muß man erkennen, daß die Welt voll von Paradoxa ist und daß dies auch so bleiben wird. Wir werden immer an einem lokalen Ort leben, was aber nicht heißt, daß wir mit Menschen an anderen Orten keine Beziehungen haben. Ich kann mir keine Zeit vorstellen, in der man alles in der eigenen Kommune hergestellt hat. Ich kann ganz gut mit Paradoxa leben. Menschen leben gleichzeitig in dreißig oder vierzig Gemeinschaften. Man lebt in seiner lokalen Gemeinschaft, aber hat Freunde in einer anderen, korrespondiert mit anderen im Cyberspace und besucht andere. Wenn man ein Bibliothekar ist, ist man Teil der Gemeinschaft der Bibliothekare, und wenn man englisch spricht, dann gibt es eine englische Gemeinschaft. Ich bin Amerikaner, obgleich mir nicht alles gefällt, was Amerikaner machen. Aber ich bin bestimmt ein Teil der amerikanischen Gemeinschaft.
Wenn ich den Begriff "globale Ökonomie" höre, werde ich ganz nervös. Die Welt wird eher zu einer Gemeinschaft der Unternehmen als zu einer globalen Gemeinschaft. Wenn man heute von global spricht, dann beschreibt man eine bestimmte Form der Globalisierung, die von Unternehmen ohne lokale Bindung dominiert wird. Ihr Existenzgrund besteht lediglich darin, Geld zu verdienen. Das ist so, als würden sie auf einem anderen Planeten sein und als wäre die Erde nur eine ihrer Kolonien.
Das ist eines der erstaunlichen Dinge über die Sprache als Kommunikationsmedium. Wir mögen glauben, daß wir uns genau mitteilen, aber wenn wir unsere unterschiedlichen Wege gehen, dann bleiben wir mit unseren eigenen Ansichten zurück, weil wir die Worte so interpretieren, daß sie für uns einen Sinn ergeben. Deswegen ist es oft notwendig, vor und zurück und wieder vor und zurück zu gehen, um sehen, ob man wirklich übereinstimmt.
Wenn man manches das erste Mal hört, dann klingt es wie das "globale Dorf" gut. Das macht einen netten, gemütlichen Eindruck, weswegen es auch so gut als Schlagwort dient, da nichts dahintersteckt außer der Tatsache, daß es gut klingt. Ich habe nicht viel über den Begriff des "globalen Dorfes" nachgedacht, aber ich bin seiner trotzdem überdrüssig, weil er so leer zu sein scheint. Er kann alles Mögliche bedeuten, weswegen er wahrscheinlich nichts bedeutet. Abgesehen von dieser Leerheit dieses Begriffs, ist es eine der wichtigsten Aufgaben für uns, die Bedeutung, die Möglichkeiten und die Implikationen der zunehmend weltweiten Kommunikation zu erforschen. Dazu braucht man auch weltweit Menschen, die Beiträge leisten, weswegen ich hoffe, daran mit anderen politisch Engagierten zu arbeiten.
Gemeinschaft ist ein weiteres dieser Worte, die sehr viele Bedeutungen haben. Die Leute sagen immer wieder: "Gib mir eine genaue Definition von Gemeinschaft." Na gut, es bedeutet alles, was es während der Geschichte bedeutet hat, weil dieses Wort aus der Geschichte entstanden ist, die Menschen es auf bestimmte Weise gebraucht haben und sie es weiterhin auf bestimmte Weise benutzen. Dann verwenden es Menschen in einer neuen Bedeutung, und so erhalten wir all diese Bedeutungen als Erbe. Wenn man den Menschen nicht kennt und nicht ständig vor und zurück geht, wird man nicht wissen, was die Menschen meinen, wenn sie so ein Wort wie "Gemeinschaft" verwenden.

Ist diese Konferenz (Internet & Politik) wirklich eine Möglichkeit, demokratische Projekte wie das Seattle Community Network zu fördern? Oder entspringt sie eher dem Vorhaben eines Unternehmens, das sich darüber stärken will?

DOUGLAS SCHULER: Meiner Ansicht nach versuchten die Organisatoren dieser Konferenz, viele zivile Stimmen zu integrieren, die nicht aus dem Umkreis von Unternehmen stammen. Ich denke dabei besonders an Herbert Schiller oder Benjamin Barber, die beide eine scharfe Kritik an der Macht der Unternehmen äußerten. Alle Projekte, die ich in meinem Vortrag erwähnte, sind lokale Projekte, die Bürgerinitiativen entstammen. Ich wollte damit zwei Dinge zur Geltung bringen: Die Regierung sollte sich erstens daran beteiligen, zivile Projekte zu initiieren, aber die Menschen sollten gleichwohl nicht auf die Regierung warten, und zweitens sollten sie darüber nachzudenken beginnen, wie sie autonomer, unabhängiger und einflußreicher werden können. Deswegen sprach ich davon, all diese Projekte zu etwas zu verbinden, was ich ein Gewebe demokratischer Technologie nenne. Wir wollen diese Experimente fördern, weil es desto wahrscheinlicher ist, daß es als Alternative zu einer totalen Kommerzialisierung einen öffentlichen Raum im Cyberspace geben wird, je mehr Leute sich an solchen Projekten wie der Digitalen Stadt vom Amsterdam oder der Art von Projekten beteiligen, die Menschen in Büchereien begonnen haben. Ich will, daß Menschen Erfahrungen machen, so daß sie Vertrauen und ein besseres Gefühl dafür gewinnen, was gemacht werden kann und sollte. Aktiv solche Systeme zu errichten, ist der beste Weg, um das zu erreichen.
Für uns ist es wichtig, darüber nachzudenken, was wir machen, aber ich will nicht, daß Menschen denken anstatt zu handeln, weil ich den Kampf für eine demokratische Technik als eine Schlacht betrachte, die von den Gemeinschaften verloren werden kann. Die Schlacht geht weiter und es sieht so aus, daß viele unserer Möchtegern-Generäle nur über die Natur dieses Kampfes, über die Theorie der Strategie oder andere Begriffe nachdenken, während die Schlacht verloren wird.
Man muß abwarten, ob Bürgernetze in sich selbst in irgendeiner Weise einen Gegenpart zur Kommerzialisierung der Welt spielen können. Es gibt genügend Gründe dafür, warum dies nicht so sein wird. Die Schubkraft hinter der allgemeinen Kommerzialisierung ist so groß, daß ich nicht weiß, was sie beiseite drängen könnte. Meine Hoffnung ist, daß es genug Menschen gibt, die nicht meinen, daß die Unternehmen die vollständige Macht über alles erlangen sollten, daß es andere Gesichtspunkte geben muß und daß die Menschen, die sie einnehmen, zusammen kommen, miteinander sprechen und arbeiten müssen, um Alternativen auszubauen.

Ist das Internet nicht ein passives Medium und eine mögliche Gefahr für das politische Engagement, weil die Menschen denken, daß es genügt, die Webseiten durchzuklicken, anstatt auf die Straße zu gehen, Forderungen aufzustellen und Unterschriften zu sammeln?

DOUGLAS SCHULER: Ich kenne Aktivisten, die das in er Tat bei manchen Gelegenheiten besser hätten machen sollen. Sie setzen sich hin, wollen irgend etwas vollenden und quatschen, quatschen und quatschen. Dann beschließen sie endlich, daß sie irgendeine Information ins Web stellen werden. Ich glaube, es ist wichtig, solche Informationen zu schaffen, aber wenn man nicht hinausgeht und den nächsten Schritt vollzieht, dann hat man nur einen Teil der Arbeit geleistet.

Dann hindert das Internet die Menschen also wirklich daran hinauszugehen, weil sie denken, daß sie aktiv sind, wenn sie Emails schreiben und sich um eine Web-Site kümmern, anstatt draußen im Regen oder in der Kälte zu stehen?

DOUGLAS SCHULER: Ich glaube nicht, daß das Internet selbst das bewirkt. Wenn wir das sagen, dann schreiben wir einer trägen Technik Neigungen zu. Wie wir das Instrument begreifen, bestimmt weitgehend, wie es sein wird. Wenn wir denken, es ist nur passiv, dann wird es dies sein. In den Vereinigten Staaten werden Videokameras bei Hochzeiten und Fußballspielen der Kinder benutzt. Sie werden nicht für politische Zwecke eingesetzt, selten für die Schaffung von Kunst und kaum für ein unabhängiges Kino. So haben wir den Gebrauch der Kamera konzeptualisiert. Das heißt nicht, daß man sie nicht für andere Zwecke verwenden könnte, aber unser Verständnis von einem Instrument trägt dazu bei, seine Verwendung vorzuschreiben.
Der Hauptgrund, warum ich umherfahre und über SNC und andere demokratische Technikprojekte spreche, ist mein Wunsch, daß das Internet auf gewisse Weise verwendet wird. Ich weiß, daß meine Vorstellungen nicht die Vorherrschaft erlangen werden, aber ich hoffe, daß sie so ansprechend sind und soviel Potential enthalten, daß einige Menschen sagen: "Ja, wir werden das beginnen" oder "Wir machen das bereits" oder "Wir sollten zusammen arbeiten". Auf einer der untersten Ebene ist das Internet nur ein Bündel von Kanälen, die mittels eines Protokolls kommunizieren. Das heißt, wir können Daten, Töne, Bilder und Texte senden. Das ist alles. Welche Information wir senden, für welche wir uns entscheiden und wie wir mit ihr umgehen - das sind die kritischen Themen.
Wenn alle Menschen sich mit Aufrufen in den Regen stellen und niemals Informationen sammeln oder theoretisch reflektieren, würden wir uns auch in einem großen Schlamassel befinden. Es muß eine Balance geben. Engagement heißt nicht, nur draußen im Regen zu stehen. Manchmal ist Engagement wirklich unmittelbare Aktion, indem man ein Haus besetzt oder sich einem Lastwagen entgegenstellt, aber manchmal besteht es nur darin, Briefe zu verschicken, also mit Informationen umzugehen. Ob man einen Senator oder Zeitungen mit Mails bombardiert, ob man sein Engagement als Mitteilung nützlicher Informationen versteht oder Korruption durch Information aufdeckt, so ist Information eine der potentiell mächtigsten Werkzeuge, die wir gebrauchen können. All das ist Teil des Spektrums des politischen Engagements, das wir vielleicht, wie ich hoffe, in einer ganzheitlicheren, systematischeren Weise verstehen werden.

Weitere Informationen:

Community Networking Movement

New Community Networks: Wired for Change. Reading, MA: Addison-Wesley. 1996.

Reinventing Technology, Rediscovering Community. Critical Explorations of Computing as a Social Practice, Norwood, NJ: Ablex. 1996. [should be "1997"]

Developing Community Networks, Workshop handouts, 1996.

Three Ways to Kill Community Networks, Conference proceedings, Taos, 1996.

Public Space in Cyberspace: The Rise of the New Community Networks (in Hungarian)

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer