Es geht um die Bildungschancen der ganzen Gesellschaft

Torsten Bultmann, der Bundesgeschäftsführer des Bundes demokratischer Wissenschaftler über Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Aufhebung des Studiengebührenverbots

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Kam das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Aufhebung des Studiengebührenverbots überraschend?

Torsten Bultmann: Die politische Debatte der letzten Monate hat ein solches Urteil wahrscheinlich gemacht. In der Tendenz wurde es schon im letzten Jahr bei dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zu den Juniorenprofessuren vorweggenommen. Beiden Urteilen gemeinsam ist die Ablösung einer traditionellen Föderalismusvorstellung, welche soziale Gleichheitsvorstellungen zumindest als Anspruch vor sich hergetragen hat zugunsten eines reinen Wettbewerbsföderalismus.

Hätte ein solches Urteil von Seiten der Studiengebührengegner durch Gesetzesänderungen verhindert werden können?

Torsten Bultmann: Es fällt mir schwer, das Wort gesetzlich mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts in den Mund zu nehmen. Es war ein Gefälligkeitsurteil für die CDU/CSU und somit ein politisches Urteil. Nur ein anderes politisches Kräfteverhältnis hätte ein solches Urteil verhindern können.

Welche Folgen hat Urteil für die Bildungslandschaft in Deutschland?

Torsten Bultmann: Das BVG hat den Befürwortern von Studiengebühren eindeutig eine Steilvorlage geliefert. Doch formal hat das Gericht über den Föderalismus entschieden. Es war nicht Auftrag des Gerichts, die Studiengebühren inhaltlich zu bewerten. Daher besteht nach dem Urteil auch keine gesetzestechnische Zwangsläufigkeit, jetzt Studiengebühren einzuführen.

Nach jüngsten Pressemeldungen gibt es auch Streit unter den Gebührenbefürwortern. Gibt es dort keine einheitliche Linie?

Torsten Bultmann: Auch unter den Befürwortern von Studiengebühren hat es schon immer Auseinandersetzungen über die Lenkungsfunktionen und die Höhe der gegeben. Die Vorstellungen gehen dabei von den stark ausdifferenzierten, an den US-Eliteuniversitäten angelehnten Gebührenmodellen bis zu eher symbolischen Verwaltungsgebühren. Diese Differenzen werden in den nächsten Monaten vermutlich an Schärfe zunehmen. Hinzu kommt, dass die SPD in den kommenden Wahlkämpfen Bildung als wichtige Thema besetzen wird. Dazu gehört auch die begrenzte Gebührenfreiheit. Einen glatten Durchmarsch der Gebührenbefürworter wird also nicht geben.

Schon vor mehr als zwei Jahren hat der Berliner Kultursenator Thomas Flierl (PDS) sein auch innerparteilich umstrittenes Studienkontenmodell vorgelegt. Wäre das eine Kompromisslinie?

Torsten Bultmann: Herr Flierl hat dieses Modell ehrlich als einen Kompromiss gesehen, um Schlimmeres zu verhindern. Doch in der Praxis haben alle diese Modelle eher den Weg zu den Studiengebühren gepflastert und das unentgeltliche Studium immer mehr erschwert. Ich erinnere daran, dass auf einer Konferenz der Kultusministerkonferenz im Jahr 2000 in Meiningen die Gebührenfreiheit des Erststudiums einstimmig beschlossen wurde. Auch die jetzigen Kläger haben damals zugestimmt. An der Entwicklung der letzten Jahre zeigt sich, dass die Politik des kleineren Übels das größere auf den Weg gebracht hat.

Sehen Sie Möglichkeiten, die flächendeckende Einführung von Studiengebühren noch zu verhindern?

Torsten Bultmann: Da sind auch die Gewerkschaften gefragt. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hat sich eindeutig gegen die Studiengebühren positioniert. Doch in den großen Industriegewerkschaften wird oft noch zu wenig gesehen, dass Studiengebühren das Eintrittsbillet für den marktgerechten Umbau des gesamten Ausbildungssektors fungiert. Eine kluge Bündnispolitik muss die Studiengebühren aus der Ecke der reinen Studentenpolitik herauszuholen und statt dessen zur Frage über die Bildungschancen der gesamten Bevölkerung zu machen.

Torsten Bultmann ist der Bundesgeschäftsführer des Bundes demokratischer Wissenschaftler und beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Fragen der Hochschulpolitik.