"Es gibt nur eine begründete Angst: Todesangst"

Seite 2: "Wir brauchen eine internationale öko-soziale Marktwirtschaft"

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Die afrikanische Wirtschaft boomt, doch die Mehrheit der Bevölkerung spürt davon nichts. Täuschen die guten Zahlen über die Schattenseiten hinweg?

Heiner Geißler: Wir dürfen den afrikanischen Staaten nicht ökonomisch Konkurrenz machen. Wenn zum Beispiel auf den Wochenmärkten in Senegal, 70 Prozent der Tomaten aus Holland kommen und 80 Prozent der Gurken aus Belgien, dann haben die einheimischen Bauern keine Chance. Der Rübenzucker zum Beispiel ist in Europa jahrelang derart hoch subventioniert worden, dass der Rohrzucker aus Honduras oder den Philippinen auf dem Weltmarkt nicht mehr abgesetzt werden konnte. Das gleiche machen die Amerikaner mit der Baumwolle. Zum Teil leisten sie Entwicklungshilfe, indem sie Baumwolle exportieren. Sie tun also genau das Gegenteil vom dem, was sie eigentlich tun müssten, um nachhaltig zu handeln. Kurzum: Wir müssen auch unsere Handelspolitik ändern.

Sie gehören also auch zu denjenigen, die sagen, der Kapitalismus sei am Ende?

Heiner Geißler: Der Kapitalismus, der im wesentlichen so definiert werden kann, dass die Kapitalinteressen wichtiger sind als humane Lebensinteressen, muss ersetzt werden durch eine Weltwirtschaftsordnung, die sozial und ökonomisch Verantwortlichkeiten kennt. Wir brauchen eine internationale öko-soziale Marktwirtschaft. Derzeit fehlt das ethische Fundament. Das Flüchtlingsproblem in Afrika ist das Symptom einer Krankheit, durch die die Gier nach Geld die Hirne regelrecht zerfrisst.

Ihre Partei, die CDU, hat in ihrem EU-Wahlprogramm erneut betont, der Schengen-Raum sei an den Außengrenzen "durch illegale Zuwanderung bedroht" und die Überwachung der Grenzen müsse weiter verstärkt werden. Vermissen Sie im Programm der CDU den Blick nach vorn, den Mut zu neuen Ansätzen?

Heiner Geißler: Ich weiß, wie solche Programme zustande kommen. Derlei Passagen spiegeln die Befürchtung der Innenpolitiker wider, die wiederum nicht ganz unbegründet ist. Man sollte solche Sätze nicht isoliert betrachten.

Sind Sie - wie Ihre Partei - der Meinung, das Dublin-Verfahren habe sich bewährt (Flüchtlinge müssen dort Asyl beantragen, wo sie erstmals die EU betreten haben, Anm. d. Red.)?

Heiner Geißler: Die Regelung müsste überholt werden. Vor allem, wenn die EU erweitert würde, was aber in absehbarer Zukunft hoffentlich nicht der Fall sein wird.

SPD und FDP wollen die Drittstaaten-Regelung reformieren, Grüne wollen sie sogar ganz abschaffen, sie sagen, die Dublin-Verordnung müsse ersetzt werden durch ein System der freien Wahl im Rahmen eines gemeinsamen europäischen Solidarsystems. Ihre Meinung dazu?

Heiner Geißler: Das kommt darauf an, wie genau das System aussähe. Die freie Wahl alleine kann es ja nicht sein, denn so wären womöglich einige Länder besonders stark belastet. Eine Quotenregelung würde durchaus in die richtige Richtung gehen. Entgegen der weitläufigen Meinung, nehmen wir in Deutschland ja gar nicht so viele Flüchtlinge auf.

Fremdenangst ist eine der unnötigsten Ängste überhaupt

Apropos: Die Südländer fühlen sich allein gelassen und appellieren auch an Deutschland, doch bitte mehr Verantwortung zu tragen. Direkt gefragt: Sollte Deutschland mehr Flüchtlinge aufnehmen?

Heiner Geißler: Unbedingt. Wer um Leib und Leben fürchtet, wie beispielsweise viele Menschen in Syrien, braucht einen Ort der Zuflucht.

Bekanntlich sind Risiko und Chance zwei Seiten ein und derselben Medaille - sehen wir, wenn es um Flüchtlinge geht, meist nur die eine?

Heiner Geißler: Das ist auch eine Frage der Bildung. Es gibt begründete und unbegründete Ängste. Über Jahrzehnte hinweg gab es die Russenangst, die Raketenangst, die Atomangst. Alles Ängste, die zwar unbegründet sind, allerdings, wenn sie emotional ausgeschlachtet werden, politische Folgen haben. Das gleiche gilt für die Fremdenangst, die es leider schon immer gibt - mal mehr und mal weniger stark ausgeprägt.

Welche Angst ist aus Ihrer Sicht begründet?

Heiner Geißler: Es gibt nur eine begründete Angst: Todesangst. Von hundert Menschen sterben hundert - daran ist nichts zu ändern. Fremdenangst dagegen ist eine der unnötigsten Ängste überhaupt. In Deutschland gab es ein Asylproblem, weil wir die Unterbringung der Menschen falsch organisiert haben. Wer Hilfsbedürftige in Turnhallen und Riesengebäuden zusammenpfercht, darf sich nicht wundern, wenn Konflikte entstehen. Dezentralität ist wichtig. Wenn beispielsweise jede Gemeinde zwei oder drei Asylbewerber aufnähme, wäre das Flüchtlingsproblem gelöst.

Mit welchen Worten würden Sie den bekannten Satz "Das Boot ist voll" kommentieren?

Heiner Geißler: Der ist so intelligent wie "Ausländer raus" oder "Raketen sind Magneten", "lieber rot als tot".

Viele Bürger, die nahe eines Asylheimes wohnen, sorgen sich vor steigender Kriminalität. Wie sollte die Politik mit solchen Vorurteilen umgehen?

Heiner Geißler: Indem die politisch Verantwortlichen die Parolen nicht wiederholen. Es sind ja keine Banden aus Sri Lanka oder Namibia, die in die Häuser der Leute einbrechen. Sondern es sind Europäer, die ich jetzt im Einzelnen gar nicht benennen will. Die Polizeipräsenz muss in bestimmten Gebieten verstärkt werden, keine Frage. Dass es kriminelle Banden gibt, steht außer Frage. Aber das hat nichts mit dem Thema "Asylanten" zu tun.

Wer anderen Angst macht, sie mutlos hält, der erhöht die eigene Macht. Ist das ein Grund für die Haltung manch konservativer Politiker?

Heiner Geißler: Nicht nur konservativer. Sie wollen ihre Macht vergrößern, indem sie die Ängste der Bürger für sich nutzen. In der Politik gibt es seit jeher skrupellose Leute, die mit Ängsten politische Geschäfte machen. Das sind in der Regel die Rechtsradikalen.

Hat die Angstmacherei auch den Aufstieg der AfD begünstigt oder gar ermöglicht? Angst um Wohlstand, Angst um Geld, Angst um Traditionen...

Heiner Geißler: Das spielt dabei sicherlich eine Rolle. In jeder Gesellschaft gibt es einen Prozentsatz von Leuten, etwa 10-15 Prozent, der anfällig ist für simple Angst-Parolen. Fühlt man sich zusätzlich von der Bürokratie bevormundet, will man das auch zum Ausdruck bringen. Eine Europawahl bietet dafür eine gute Gelegenheit.