"Es ging und geht um geostrategische Interessen"

Seite 3: "Die Realität in Ost-Aleppo stimmte ganz offensichtlich nicht mit dem überein, was westliche Medien über die Stadt berichtet hatten"

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Haben Sie eine Erklärung dafür, dass das Schicksal der Stadt Aleppo, welches zum Jahreswechsel 2016/2017 die Medienberichterstattung dominierte, aus den Schlagzeilen nahezu verschwunden ist?

Karin Leukefeld: Westliche Medien und Politiker haben das Geschehen in Aleppo Ende 2016 ja als "Niederlage" beschrieben. Es war die Rede vom "Fall" von Aleppo. In Aleppo aber feierten mehr als eine Million Menschen die Befreiung der Stadt. Zehntausende waren aus dem Osten der Stadt den syrischen Truppen und deren Verbündeten geradezu entgegengeflohen, um sich vor den bewaffneten Gruppen in Sicherheit zu bringen.

Etwa 35.000 Menschen, darunter tausende Kämpfer und mehr als 100 ausländische Offiziere, die den Kämpfern geholfen hatten, wurden nach Idlib evakuiert. Es war also ein verhandeltes Ende der bewaffneten Gruppen in Ost-Aleppo, sie wurden nicht abgeschlachtet. Dann wurden dort jede Menge Waffen, auch aus den USA und Deutschland, gefunden. Munition, Folterkeller, Tote, Sprengfallen, Minen - die Realität in Ost-Aleppo stimmte ganz offensichtlich nicht mit dem überein, was westliche Medien über die Stadt berichtet hatten. Da schwieg man lieber.

Die Befreiung der Stadt sei ein "positiver Schritt hin zu einer Lösung jenseits von militärischer Gewalt", erklärten Sie Ende des vergangenen Jahres bezüglich des Schicksals von Aleppo, nachdem die Regierungstruppen dort Einzug hielten. Gilt das auch noch heute, einige Monate später?

Der Abzug der Kampfgruppen bedeutet natürlich immer das Ende einer bewaffneten Konfrontation, das kann man aus Sicht der Bevölkerung nur positiv bewerten. Auch die syrische Armee und deren Verbündete haben ihre Präsenz in Aleppo verringert. Ich komme eben von einem längeren Aufenthalt aus Syrien zurück und war im April zwei Mal in Aleppo. Die Menschen kehren in ihre Stadtteile zurück, sehen nach ihren Wohnungen und Geschäften, räumen auf, reparieren.

Ich habe mit Männern gesprochen, die dazu den Sand aus den Sandsäcken des Sakaria-Krankenhauses - das die Kampfgruppen in "Al-Quds-Krankenhaus" umbenannt hatten - nehmen. Sie haben die Sandsäcke aufgeschnitten und reparieren mit dem Sand ihre zerstörten Balkone, Wände, Treppen. Es gibt wieder Wasser, die Stromversorgung wird repariert, vor allem müssen die Menschen keine Angst mehr haben, wenn sie durch die Straßen laufen.

Natürlich ist sehr viel zerstört, viele haben Schreckliches erlebt. Verschiedene Personen, die ich interviewt habe, begannen zu weinen, als ich nach ihren Erlebnissen fragte. Aber Aleppo atmet, die Menschen wollen ihr Leben wieder aufbauen.

Es gibt allerdings immer noch Angriffe mit Raketen und Granaten vom Westen her, aus Raschidien, das von der Nusra-Front, einem al-Qaida-Ableger, kontrolliert wird. Erst vor zwei Wochen kam es dort zu einem schrecklichen Anschlag, bei dem weit mehr als 100 Menschen ermordet wurden. Die meisten Toten waren Kinder!

Ziel des Anschlags waren Vertriebene aus den beiden Ortschaften Kefraya und al-Fouah, die zwei Jahre lang von der Nusra-Front und anderen Islamisten belagert und beschossen worden waren. Diese Menschen wurden im Rahmen eines "Vier-Städte-Abkommens" evakuiert, im Gegenzug wurden Kämpfer aus Zabadani und Madaya (im Umland von Damaskus) nach Idlib gebracht.

Fünf Busse der Vertriebenen aus Kefraya und al-Fouah brannten aus, es war eine Tragödie. Ein Bekennerschreiben der Armee des Islam tauchte auf deren Webseite auf. Darin hieß es, man werde die "Ungläubigen" angreifen, wo immer sich die Gelegenheit böte. Diese "Ungläubigen" sind schiitische Muslime. Das Schreiben wurde später von der Webseite wieder entfernt. Es bleibt also unklar, welche der islamistischen Kampfgruppen diese Menschen getötet hat.

Hier sei die Frage gestattet, warum das Entwicklungshilfeministerium in Berlin und andere europäische Regierungen Hilfe in Milliardenhöhe an eine syrische Opposition in Idlib, im Westen von Aleppo und nördlich von Hama bezahlen, die von der Nusra-Front und anderen islamistischen Gruppen kontrolliert wird.

Die Nusra-Front gilt international als "Terrorgruppe" und wird mit Waffen aus der Türkei versorgt, die von den Golfstaaten bezahlt und aus europäischen Rüstungsfirmen geliefert werden. Wohin geht wohl die "humanitäre Hilfe", die aus Europa über die Türkei nach Idlib geschickt wird? Die Menschen in Aleppo dagegen erhalten keine Hilfe aus Deutschland und Europa. Im Gegenteil, sie sind einem EU-Wirtschaftsembargo unterworfen, weil sie in dem Gebiet leben, das von der syrischen Regierung kontrolliert wird. In Deutschland und Europa wird diese Regierung dämonisiert.

Giftgas

Inwieweit haben die US-Angriffe von Anfang April die Verteidigungsfähigkeit der syrischen Armee massiv eingeschränkt und dem IS genutzt? Die erwähnten Angriffe wurden mit dem Einsatz von Giftgas begründet, das angeblich von der syrischen Armee verwendet worden sein soll. Dieser Tage ließ das französische Außenministerium verlautbaren: Der Sarin-Einsatz Anfang April trägt zweifellos "die Handschrift des Regimes" in Damaskus. Was halten Sie von solchen Verlautbarungen - und was für eine Strategie steckt Ihrer Meinung nach dahinter?

Karin Leukefeld: Syrien ist ein Entwicklungsland und die syrische Armee war ohnehin schwach und nicht auf einen solchen Krieg, einen Abnutzungskrieg, eingestellt. Die USA und deren Verbündete haben die syrische Armee von Anfang an bekämpft. Zu den ersten Opfern des Krieges gehörten syrische Soldaten, deren Bus im April 2011 bei Tartus angegriffen wurde. Und syrische Soldaten, die bei Jisr as-Shughour im Juni 2011 ermordet wurden.

Die Angriffe erfolgten zunächst indirekt und mit Waffen, die man den bewaffneten Gruppen lieferte. Mit Ausbildung, mit Logistik - von NATO-Schiffen im Mittelmeer, auch von einem deutschen Schiff - wurde der Funkverkehr der syrischen Armee abgehört und an die bewaffneten Gruppen weitergeleitet, bis Russland das mit eigener Technologie stoppte.

Die militärische Unterstützung der USA, der Türkei, des Westens und der Golfstaaten für die bewaffnete Opposition (Freie Syrische Armee) hat den so genannten "Islamischen Staat im Irak und in der Levante" erst stark gemacht, ebenso die Nusra-Front (al-Qaida), die daraus hervorgegangen ist. Ich habe zuvor den DIA-Bericht erwähnt, der im Herbst 2012 feststellte, dass "der Westen, die Türkei und die Golfstaaten" die Islamisten absichtlich stärkten - mit dem Ziel, den Einfluss des Iran in der Region zu brechen. Das sagt alles.

Der Angriff von Anfang April und die anhaltenden Beschuldigungen, die syrische Armee habe Giftgas eingesetzt, sind Teil dieser Strategie. Natürlich weiß man auch in Washington, dass die syrischen Chemiewaffen ab Ende 2013 unter internationaler Kontrolle registriert, aus dem Lande geschafft und vernichtet wurden. Die USA war mit einem riesigen Spezialschiff im Mittelmeer selber daran beteiligt. Syrien hat keine Chemiewaffen mehr. Und Syrien hat diese auch vor deren Vernichtung nie eingesetzt.

Die Kampfgruppen allerdings verfügen über chemische Kampfstoffe, die aus Libyen über die Türkei nach Syrien geschmuggelt wurden. Es gibt eine Fülle von Berichten darüber. Die syrische Regierung hat den UN-Sicherheitsrat viele Male darüber informiert. Aber die westlichen Politiker halten es aktuell mit dem Motto "Haltet den Dieb", um von der eigenen Verantwortung und den eigenen Plänen in Syrien abzulenken.

Dienlich bei den aktuellen Anschuldigungen gegen die syrische Regierung ist ein israelischer Militär, auf den sich kürzlich sogar der US-Verteidigungsminister James Mattis bezog. Der Israeli will herausgefunden haben, dass Syrien noch drei Tonnen chemische Waffen versteckt habe. Beweise liefert er nicht. Und wegen so einer windigen Aussage soll alles, was zuvor von der UNO - das heißt vom UN-Sicherheitsrat - mit Brief und Siegel bestätigt worden war, unwahr sein? Sicherlich nicht.

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