Es wird geharzt und gehungert

Seite 3: Systemischer Fehler

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Dass hinter solchen Geschäftspraktiken systematisches knallhartes betriebswirtschaftliches Kalkül steckt, wird daran erkennbar, dass auch mehrere Kurierdienste ähnliche Vorgehensweisen bemühen. Zum Beispiel das Logistikunternehmen (Umsatz 2012 etwa 1,9 Milliarden Euro), das eine Tochter der Otto-Gruppe und einer der größten Anbieter im Logistikbereich ist.

Der Dokumentarfilm Das Hermes-Prinzip vom ARD Magazin Exclusiv, gesendet am 03. August 2011, prangerte die Arbeitskonditionen beim Kurierdienst Hermes an, genauso wie das WDR-Fernseh-Magazin Monitor in seiner Sendung vom 25. August 2011.

Demnach sieht es so aus: Wenn der Kurierfahrer dieses Dienstes an der Tür klingelt, ist er in der Regel gar nicht dort angestellt. Lediglich ein DIN-A4-großes Hermes-Schild hinter der Windschutzscheibe des privaten, nicht mehr ganz so frischen Kleinwagens weist auf die lose Geschäftsverbindung zwischen ihm und dem 1,9-Milliarden-im-Jahr-Umsatz-Unternehmen auf.

Das Unternehmen vergibt im Privatkundenbereich seine Zustellaufträge nämlich an sogenannte Satellitendepotbetreiber, die nach Einbehaltung einer Provision ihrerseits Aufträge an Subunternehmer weiterleiten. Hat der Subunternehmer nicht die nötige Kapazität für den Auftrag oder rechnet sich dieser Auftrag für ihn nicht, leitet er nach Einbehaltung einer Provision diese Aufträge an einen Sub-Subunternehmer weiter. Ist der Auftrag dort angekommen, wird er einem Kurierfahrer anvertraut.

Dieser arbeitet nicht selten als Selbständiger auf Werkvertrag-Basis, was nichts anderes bedeutet, als dass er nicht etwa pro Stunde für die Arbeit, sondern "pro Werk", sprich pro ausgeliefertes Paket bezahlt wird: etwa 60 Cent. Ist der Empfänger nicht da, fällt die Bezahlung noch magerer aus: 0 Cent.

Wer, in einem Altbaugebäude ab dem dritten Stock aufwärts wohnend, sich schon gefragt und womöglich geärgert hat, warum der Kurierfahrer den Namen auf dem Klingelschild leider schon wieder nicht gefunden hat, obwohl man am Auslieferungstag nachweislich die ganze Zeit zu Hause war, und warum er deshalb das heißersehnte Paket (mit allen anderen "Namenlosen" Paketen des Kiezes) unpraktischer Weise ganz weit weg beim Gemüseladen am Ende der Straße abgegeben hat, dürfte an der Stelle einen Erklärungs- und Entschuldigungsansatz erhalten haben.

"Nach einem zehn Stunden Tag hat der Fahrer etwa 60 Euro verdient. Fast die Hälfte davon geht für Sprit und Auto drauf", fasst die ARD die Ergebnisse der Recherchen bei Hermes zusammen. Es ist kein Lohnzettel, es ist ein Armutszeugnis.

Während das Unternehmen nach der Ausstrahlung der ARD-Dokumentation beteuerte, es seien lediglich Einzelfälle gewesen, legten die Recherchen von Monitor nahe, dass es sich um eine bewusst umgesetzte, flächendeckende Geschäftsstrategie zur Lohnkostenminimierung bzw. Gewinnmaximierung handelt, da die Preiskalkulation es den Subunternehmer bei der Erstauftragsaufgabe nicht ermöglicht, seinen Fahrern eine angemessene Vergütung zukommen zu lassen.

Bei den Konkurrenten GLS sieht die Situation laut einer Langzeit-Recherche von Günther Wallraff für den Fernsehsender RTL und der Zeit mindestens genauso schlimm aus. "Arbeitstage nicht unter 12 Stunden, ohne Pausen, unbezahlte Überstunden, körperliche Schwerstarbeit, ständiger Stress - und das alles zu Dumpinglöhnen von umgerechnet nur drei bis fünf Euro pro Stunde" - das sei "Menschenschinderei mit System", kommentierte die Süddeutsche Zeitung die Recherche.

Aber: "Nicht nur die Fahrer müssten ihren überdimensionierten Einsatz für den Paketdienst mit privaten Problemen psychischer und körperlicher Natur bezahlen. Ihre Vorgesetzten seien manchmal noch schlimmer dran, weil sie als Subunternehmer und Scheinselbständige persönlich haften und teilweise noch durch Strafenkataloge von GLS gezielt in die Insolvenz getrieben würden, sobald sie nicht mehr die gewünschten Gewinne brächten. Auf den Schuldenbergen blieben sie mit ihren Familien dann ewig sitzen, während der milliardenschwere europaweit agierende Konzern, dessen Geschäft auf dem für Privatkunden freien Versand basiert, auf ihrem Rücken Gewinne einfahre. Das unternehmerische Risiko werde von GLS auf die Subunternehmer ausgelagert", so beschrieb die Süddeutsche Zeitung im gleichen Artikel das Geschäftssystem von GLS.

Der Spiegel zitierte in einem Artikel vom Mai 2012 den Ver.di-Experte Wolfgang Abel zur der Situation in der Branche mit den zusammenfassenden Worten:

Von 50.000 Beschäftigten arbeiten 35.000 zu Sklavenbedingungen wie im Mittelalter.