Europas Wohlstand: EZB in der Sackgasse, Zinswende stockt

Das Skyturm-Gebäude, Sitz der Europäischen Zentralbank (EZB), mit einer Schleuse am Main und den Wolkenkratzern des Finanzviertels in der Ferne

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Inflationsrate bleibt hartnäckig. Die EZB muss einen Weg finden, die Inflation zu bekämpfen und gleichzeitig die stagnierende Wirtschaft zu beleben. Gastbeitrag.

Als die Inflationsrate in der Eurozone nach ihrem Höchststand von 10,6 Prozent im Oktober 2022 zügig gesunken war, jedoch Ende 2023 noch immer deutlich über drei Prozent lag, stellte EZB-Präsidentin Christine Lagarde in Aussicht, dass die Zinsen schon in den nächsten Monaten gesenkt würden.

Dazu müsse man in der EZB jedoch überzeugt sein, dass das Inflationsziel von zwei Prozent im Jahr 2025 erreicht werden könne und die "Daten das in den kommenden Monaten bestätigen".

Zinswende trotz Inflationsprognose

Nachdem die Inflationsrate im Verlauf des Jahres auf unter drei Prozent zurückgegangen war, die EZB sich jedoch bereits zu diesem Zeitpunkt gezwungen sah, ihre vorangegangene und zu optimistische Inflationsprognose zu revidieren, wurde dennoch im Juni dieses Jahres die Zinswende eingeleitet.

Die EZB kappte den Leitzins um 0,25 Prozentpunkte auf 4,25 Prozent, was zahlreiche Experten begrüßten, wie auch der Chefvolkswirt der Dekabank, Ulrich Kater. Dieser mahnte dennoch, der Zinsschritt sei "ein Wechsel auf die Zukunft".

Woher die Inflation nun kommt

Nun steckt die EZB jedoch fest. Seit ihrer ersten Leitzinssenkung musste sie auf weitere Zinsschritte verzichten. Denn entgegen der Erwartung geht die Inflation nicht weiter zurück, stattdessen verharrt sie – mit zuletzt sogar leicht steigender Tendenz – bei derzeit 2,6 Prozent.

In Deutschland hält sich die Inflationsrate trotz sinkender Energiepreise und der zudem seit einem Jahr sinkenden Erzeugerpreise bei 2,3 Prozent. Energie war im Juni 2024 um 5,9 Prozent günstiger als im Juni des Vorjahres, die Erzeugerpreise lagen um 1,6 Prozent niedriger.

In Deutschland zeigt sich, dass die Inflation jetzt nicht mehr wie in den vergangenen Jahren vor allem von steigenden Energiepreisen ausgeht, sondern dass der dadurch ausgelöste Verteilungskampf darum, wer die von Energiekostensteigerungen ausgehenden Wohlstandsverluste trägt, bisher nicht zur Ruhe gekommen ist.

Denn seit einigen Monaten heben vor allem Unternehmen in den Dienstleistungsbereichen die Preise an, um ihrerseits Energiekosten, gestiegene Preise für Vorleistungsgüter und steigende Lohnkosten zu überwälzen. Daher verharrt die Kerninflationsrate, die den Preisanstieg ohne Nahrungsmittel und Energie misst, auch im Juli bei voraussichtlich bei 2,9 Prozent, wie das Statistische Bundesamt vorab meldet.

Obendrein wollen in Deutschland wieder mehr Unternehmen die Preise erhöhen.

Geldwertstabilität zweitrangig

Da die Inflation noch immer nicht unter Kontrolle ist, gerät die EZB unter zunehmenden Druck. Denn schon seit Jahrzehnten sind die EU-Staaten zunehmend darauf angewiesen, dass sie die expansive Geldpolitik immer weiter ausweitet und für niedrige Zinsen sorgt, um die realwirtschaftliche Schwäche zu übertünchen, die sich in der EU seit der Finanzkrise 2008 zu einer wirtschaftlichen Depression ausgeweitet hat.

Noch bevor die EZB ihre Zinswende eingeleitet hatte, drängte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) daher auf rasche Zinssenkungen. Da sich die Inflation dem EZB-Ziel von zwei Prozent annähere, könne die Zentralbank den Leitzins zeitnah senken, so Habeck "und hoffentlich" würden in Anbetracht der stagnierenden Wirtschaft "noch weitere Zinsschritte (…) folgen".

Minimales und zudem fragiles Wachstum

Trotz immer umfangreicherer geldpolitischer und fiskalischer Stimulierung gelingt in der EU seit der Finanzkrise jedoch nur noch ein minimales und zudem fragiles Wachstum. Die Wirtschaft droht immer wieder in Rezessionen abzugleiten und phasenweise stagniert die Wirtschaftsleistung.

Arbeitsproduktivität und Reallöhne steigen seit Jahrzehnten kaum noch und im Verhältnis zur Wertschöpfung der Unternehmen sacken ihre Investitionen immer weiter ab.

Diese wirtschaftliche Stagnation haben die EU-Staaten und die EZB jedoch selbst verursacht. Bereits seit den 1980er-Jahren betreiben die westlichen Zentralbanken eine asymmetrische Geldpolitik, indem sie zur Verhinderung wirtschaftlicher Krisen die Leitzinsen absenken, ohne sie in den anschließenden Erholungsphasen wieder auf das frühere Niveau anzuheben.

Zombiewirtschaft und Wertschöpfung

Wirtschaftliche Krisen, die zum Kollaps weniger produktiver und weniger wettbewerbsfähiger Unternehmen geführt hätten, wurden so verhindert. Durch die einseitig auf wirtschaftliche Stabilisierung ausgerichtete Geld- und Wirtschaftspolitik ist eine Zombiewirtschaft entstanden, in der immer mehr Unternehmen – unterstützt durch Subventionen, Marktregulierung und Protektionismus und vor allem durch niedrige Fremdkapitalzinsen – dauerhaft überleben können, obwohl ihre Wertschöpfung nicht oder kaum profitabel ist.

Da aufgrund dieser wirtschafts- und geldpolitischen Orientierung, die in einer Marktwirtschaft von Zeit zu Zeit erforderlichen wirtschaftlichen Restrukturierungen verhindern werden, die den Kollaps der vielen wettbewerbsschwachen Unternehmen zur Folge hätte und große Kapitalwerte vernichten würden, sinkt die Profitabilität der Unternehmen.

Produktivitätswachstum

Auch viele der besser aufgestellten Unternehmen erreichen dann keine ausreichende Profitabilität mehr, um riskante und extrem kostspielige Investitionen in neue Technologien zu stemmen. Sie sehen auch in Anbetracht der wettbewerblich stagnierenden Konkurrenz immer weniger die Notwendigkeit, in produktivitätssteigernde und kostensenkende Technologien zu investieren.

Infolgedessen kommt das Produktivitätswachstum zum Erliegen. Nach jahrzehntelang sinkendem Produktivitätswachstum in der EU ist die Arbeitsproduktivität pro Erwerbstätigenstunde in Deutschland inzwischen sogar rückläufig.

Um diese Abwärtsentwicklung zu kaschieren, werden immer ausuferndere geldpolitische und wirtschaftspolitische Stabilisierungsmaßnahmen erforderlich, die inzwischen dennoch nicht mehr in der Lage sind, einen von steigenden Investitionen getragenen langanhaltenden Aufschwung zu initiieren.

Wie sehr die Wirtschaft in der EU von extrem billigem Geld und der durch sinkende Zinslasten begünstigten Expansion der Staatsausgaben abhängig geworden ist, zeigt sich nach der weitgehenden Überwindung der wirtschaftlichen Belastungen durch Coronakrise und Ukrainekrieg.

Denn weil sich die wachstumsstimulierenden Effekte der Geldpolitik und staatlicher Krisenprogramme abgeschwächt haben, stagniert die Wirtschaft trotz der Überwindung dieser Krisen.

Die stimulierende Wirkung der Geldpolitik

Die stimulierende Wirkung der Geldpolitik ist derzeit limitiert, weil sich die EZB wegen der außer Kontrolle geratenen Inflation gezwungen sah, von ihrer extrem expansiven Geldpolitik Abstand zu nehmen.

Im Verlauf der letzten Jahre hatte sie bis Mitte 2023 eine restriktive Geldpolitik verhindern können, danach musste sie diese jedoch hinnehmen, sodass sich kurz- wie auch langfristige Realzinsen aus dem negativen Bereich herausbewegt haben.

Die kurzfristigen Realzinsen liegen derzeit bei einem Leitzins von 4,25 und einer Inflationsrate von 2,6 Prozent im Euroraum im Vergleich der letzten Jahrzehnte und im historischen Vergleich noch immer extrem niedrig. Noch niedriger sind die von der EZB kaum direkt beeinflussbaren langfristigen realen Zinsen.

Die 10-jährigen Staatsanleihen der meisten EU-Staaten rentieren zwischen 2,5 und 3,2 Prozent. Damit liegen sie in etwa auf dem Niveau der aktuellen Inflationsrate und nur wenig über dem langfristigen Inflationsziel der EZB von zwei Prozent. Die EU-Staaten können sich also noch immer zu einem realen Zinssatz von praktisch null verschulden.

Erschwert wird die Stimulierung jedoch nicht nur durch die nicht mehr ganz so günstigen Zinsen, sondern auch dadurch, dass die staatlichen Krisenprogramme der vergangenen Jahre ihre Wirkung inzwischen erschöpft haben.

Nach dem Auslaufen der vielen hunderten Milliarden Subventionen, die während dieser Krisen in die Wirtschaft und die Sozialsysteme gepumpt wurden, verfestigt sich daher nun die wirtschaftliche Stagnation und droht in eine langanhaltende Schrumpfung zu münden.

Denn trotz der weitgehenden Überwindung von Coronakrise und Ukrainekrieg liegt das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) der EU noch immer nur geringfügig über dem Vorkrisenniveau. In Deutschland ist es in den vergangenen mehr als fünf Jahren nicht mehr darüber hinausgekommen.

Seit dem vierten Quartal 2022 stagniert das Wirtschaftswachstum in der EU. Im Vergleich zum jeweiligen Vorquartal sinkt und steigt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) seitdem innerhalb einer Bandbreite von minus 0,1 und plus 0,3 Prozent. In Deutschland ist das BIP in diesem Zeitraum sogar geschrumpft, bei einer Wachstumsrate zwischen minus 0,5 und plus 0,2 Prozent pro Quartal.

Die Geister, die ich rief …

Während die EZB nun gefordert ist, schnellstmöglich zu einer noch expansiveren Geldpolitik als vor der Coronakrise zurückzukehren, um vor allem die vielen geschwächten Unternehmen zu stützen und den Staaten niedrige Zinslasten zu bescheren, ist sie mit einer hartnäckigen Inflation konfrontiert, die sie bisher nicht unter Kontrolle bringen konnte.

Denn durch die Geldpolitik der vergangenen Jahrzehnte hat sie nicht nur die geldpolitischen, sondern auch die realwirtschaften Inflationsbremsen zerstört. Seit Anfang der 2010er-Jahre haben die Zentralbanken in den entwickelten Volkswirtschaften enorme Geldmengen in die Märkte gepumpt, die sie nur sehr langsam wieder einsammeln können.

Das in großen Mengen in Geldhorten angesammelte Geld kann ohne Kontrolle der EZB in die Gütermärkte fließen und das Preisniveau anheben.

Für die Inflation der vergangenen Jahre und wohl auch in der näheren Zukunft wesentlich entscheidender ist jedoch die Zerstörung der realwirtschaftlichen Inflationsbremse. Denn mit ihrer Geldpolitik hat die EZB maßgeblich zur Schaffung einer Zombiewirtschaft beigetragen, in der es den Unternehmen infolge der Produktivitätsstagnation nicht mehr gelingt, Kostensteigerungen – die vor allem von zunehmender Bürokratie, Klima- und Umweltauflagen und steigenden Energiekosten ausgehen – selbst aufzufangen.

Die Unternehmen schaffen es nicht mehr, ihre eigenen Wertschöpfungsprozesse mithilfe von Investitionen produktiver und kostengünstiger zu gestalten und können daher Kostensteigerungen nicht mehr ausgleichen.

Da alle Unternehmen von der Produktivitätsstagnation betroffen sind, gelingt es daher den Unternehmen nicht mehr – wie in den vergangenen Jahrzehnten üblich – steigende Belastungen in den Lieferketten stromaufwärts an die jeweiligen Lieferanten weiterzugeben.

Sie wälzen sie stattdessen auf ihre jeweiligen Kunden ab. So frisst sich die Inflation – immer dann, wenn geringe, aber dennoch dauerhafte oder impulsartige Kostensteigerungen eintreten – auch in Zukunft wieder durch die Lieferketten und wirkt sich letztlich auf die Verbraucherpreise aus.

So ist es der großen Masse der Unternehmen seit der Coronakrise gut gelungen, die steigenden Kosten in den Lieferketten weiterzureichen und die eigene Profitabilität in der Regel zu erhalten oder sogar zu erhöhen.

Anderseits führen die Realeinkommensverluste vor Augen, dass die hauptsächlich von steigenden Energiekosten ausgehenden Wohlstandsverluste im Zeitraum von 2019 bis 2023 bei den Erwerbstätigen und Rentnern abgeladen wurden, denn in diesem Zeitraum sind die durchschnittlichen Reallöhne in Deutschland um mehr als fünf Prozent gesunken, die Renten real sogar noch stärker.

Und da die Energiepreise hauptsächlich als Folge der ökologischen Klimapolitik in Deutschland nicht wieder auf das Vorkrisenniveau zurückkehren werden, wird ein erheblicher Teil der energiekostengetriebenen Wohlstandverluste bei Erwerbstätigen und Rentnern hängenbleiben.

Da jedoch die Energiepreise und auch die sonstigen Energiekosten zur Vermeidung von CO2-Emissionen vor allem in Deutschland, aber auch in der EU insgesamt weiter steigen und insbesondere die bürokratischen Lasten zunehmen, denen die Unternehmen trotz anderslautender Beteuerungen kontinuierlich ausgeliefert sind, wird der Inflationsdruck in den nächsten Jahren eher noch zu- als abnehmen.