Europaweite Versorgungslücken bei der Kinderbetreuung

Die Europäische Kommission warnt vor einer deutlichen Verfehlung der "Barcelona-Ziele". Dadurch könnten sich nicht nur die Defizite im Bildungsbereich verschärfen. Auch die europäische Wachstums-, Beschäftigungs- und Gleichberechtigungsstrategie ist in Gefahr

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An Ehrgeiz und gutem Willen fehlte es dem Europäischen Rat nicht, als er im März 2002 seine Ziele auf dem Gebiet der Betreuungseinrichtungen für Kinder im Vorschulalter formulierte. Damals wurde in Barcelona beschlossen, einerseits die Hemmnisse zu beseitigen, die vor allem Frauen daran hindern, auch mit Kindern aktiv am Erwerbsleben teilzunehmen und von der oft beschworenen Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu profitieren. Bis 2010 sollten die EU-Staaten die Voraussetzungen schaffen, um für mindestens 90 Prozent der Kinder zwischen drei Jahren und dem Schulpflichtalter und für mindestens 33 Prozent aller Kinder unter drei Jahren qualitativ hochwertige, erreich- und bezahlbare Betreuungsplätze zur Verfügung zu stellen.

Ein Zwischenbericht der EU-Kommission offenbart auf diesem wichtigen Zukunftsfeld nun eklatante Defizite, welche die viel diskutierte deutsche Bildungsmisere noch einmal in neuem Licht erscheinen lassen. Die aktuellen Zahlen zeigen allerdings auch, dass viele andere Länder ebenfalls eklatante Versorgungslücken bei der Kinderbetreuung aufweisen.

Deutschland: Platz 4 bei Kindergärten und Platz 15 bei Kindertagesstätten

Wenn es um die Schaffung von Angeboten geht, mit deren Hilfe Unter-Dreijährige wenigstens ein paar Stunden in der Woche außerhalb des Elternhauses betreut werden können, haben die meisten europäischen Länder erheblichen Nachholbedarf. Nur 26 Prozent der Kinder unter drei Jahren verbringen einen Teil ihrer Zeit in einer Kindertagesstätte oder bei einer Tagesmutter, bis zum Barcelona-Ziel von 33 Prozent ist also noch ein weiter Weg zurückzulegen.

Einige Länder (allen voran Dänemark mit mehr als 70 Prozent) wie die Niederlande, Schweden, Belgien oder Spanien haben die Vorgabe zwar bereits übertroffen, doch viele EU-Staaten liegen weit unter dem Durchschnitt, so etwa Ungarn, Österreich, Tschechien oder Polen, wo nicht einmal 10 Prozent erreicht wurden. Deutschland gehört mit 18 Prozent ebenfalls zu den Problemfällen und kommt im Vergleich von 25 Staaten nicht über Platz 15 hinaus. Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen ist jedoch zuversichtlich, dass sich an dieser Situation in den nächsten Jahren Entscheidendes ändern wird. Mit der Verabschiedung des neuen Kinderförderungsgesetzes, dem der Bundesrat allerdings noch zustimmen muss, soll das Angebot bis zum Jahr 2013 deutlich verbessert und mit einem Rechtanspruch abgesichert werden.

2013 wird es bundesweit für jedes dritte Kind unter drei Jahren eine Betreuungsmöglichkeit geben, sei es in der Kita oder in der Tagespflege. Zum ersten Mal hat dann jedes Kind ab einem Jahr einen Rechtsanspruch auf diese frühe Förderung.

Ursula von der Leyen

Bei den Kindergartenplätzen sieht es schon jetzt deutlich besser aus. Acht Länder haben das Barcelona-Ziel von 90 Prozent bereits übertroffen, so auch Deutschland, das mit einer Versorgungsquote von 93 Prozent auf Rang 4 liegt. Die EU-Kommission mahnt gleichwohl eine differenzierte Betrachtungsweise an. Bei der Mehrheit der angerechneten Betreuungseinrichtungen handelt es sich augenscheinlich um Halbtagsangebote. Würde die Statistik nur Ganztagseinrichtungen berücksichtigen, käme über die Hälfte der EU-Mitgliedsstaaten auf einen Versorgungsgrad von unter 50 Prozent, in jedem dritten Land läge er bei weniger als 30 Prozent.

Auswirkungen auf Beschäftigung und Wachstum

Die Umsetzung der Barcelona-Ziele sollte nach dem Willen des Europäischen Rates nicht allein die Bildungssituation verbessern. Das Gremium verstand die Vorgaben vor sechs Jahren vielmehr als „integralen Bestandteil der europäischen Wachstums- und Beschäftigungsstrategie“. Nicht ganz zu Unrecht vermutete man auf höchster politischer Ebene einen „direkten Zusammenhang“ zwischen der Verfügbarkeit von Kinderbetreuungseinrichtungen und den beruflichen Perspektiven beider Elternteile. In der gesellschaftlichen Praxis der meisten Mitgliedsländer sind immer noch vorwiegend Frauen von den entsprechenden Defiziten betroffen.

EU-weit erklären mehr als sechs Millionen Frauen (im Alter von 25 bis 49 Jahren), aufgrund ihrer familiären Pflichten zu Erwerbslosigkeit oder Teilzeitarbeit gezwungen zu sein. Mehr als ein Viertel von ihnen nennt den Mangel an Kinderbetreuungseinrichtungen oder deren Kosten als Ursache ihrer Situation. Durch eine Deckung dieses Bedarfs würde die globale Frauenbeschäftigungsquote um mindestens einen Prozentpunkt steigen.

EU-Kommission

Vorausgesetzt, es stehen ausreichend Arbeitsplätze zur Verfügung …

Unabhängig davon stellt die Kommission in ihrem Zwischenbericht fest, dass die derzeitige Aufgabenverteilung immer wieder zu Lasten der Frauen geht, die sehr viel häufiger gezwungen sind, sich mit „flexiblen Formen der Arbeitsorganisation“ auseinanderzusetzen oder auf Angebote „außerhalb des regulären Arbeitsmarkts“ zurückzugreifen. Vier Kennzahlen illustrieren das Problem in wünschenswerter Deutlichkeit: Lediglich 65,5 Prozent der Mütter in EU-Staaten gehen einer Erwerbstätigkeit nach, die Väter kommen dagegen auf 91,7 Prozent. Außerdem sinkt bei Frauen die Beschäftigungsquote um 12,4 Prozentpunkte, wenn sie Kinder unter zwölf Jahren betreuen - bei den Männern steigt sie um 7,3 Prozent.

Auch die Lohnspreizung zwischen den Geschlechtern spielt in diesem Zusammenhang eine kaum zu unterschätzende Rolle. Nach Angaben des deutschen Familienministeriums verdienen Frauen hierzulande im Durchschnitt etwa 24 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen.

Das liegt vor allem daran, dass Frauen ihren Beruf häufig länger unterbrechen müssen, wenn Kinder kommen. Die Rückkehr in den Beruf ist dann oft schwierig und viele Frauen arbeiten nur noch in Teilzeit.

Außerdem ist der Lohn in typischen Frauenberufen häufig geringer als in anderen Tätigkeiten. Experten fordern eine Erweiterung des Berufswahlverhaltens und mehr Frauen in zukunftsorientierten Berufen. Grundvoraussetzung ist hierbei aber eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Bundesfamilienministerium

Im August 2008 veröffentlichte das Institut der deutschen Wirtschaft eine Studie zum Thema Frühkindliche Förderung: Ein Beitrag zu mehr Wachstum und Gerechtigkeit. Nicht einmal hier gab es Zweifel am unmittelbaren Zusammenhang von Kinderbetreuung, Erwerbstätigkeit, Verdienstmöglichkeiten und sozialer Lage.

Eine verbesserte frühkindliche Förderung lohnt sich: Das Wachstumspotenzial der Volkswirtschaft kann gesteigert, das Ausmaß an Bildungsarmut reduziert, die Kinderarmut deutlich gesenkt und der Lohnabstand von Frauen gegenüber Männern deutlich reduziert werden. Die steigende Erwerbstätigkeit von Frauen senkt das Ausmaß an Kinderarmut sowie den Lohnabstand von Frauen.

Christina Anger/Axel Plünnecke

Soziale Aspekte

Dass durch die Qualität und den Umfang der elterlichen Erwerbsarbeit das Armutsrisiko sinken kann, bedarf keiner besonderen Erklärung. Doch auch für diesen Bereich gibt es aussagekräftige Zahlen. So sind europaweit alleinerziehende Eltern deutlich häufiger mit Armutsrisiken konfrontiert (32 Prozent) als die Gesamtheit der Elternhaushalte (17 Prozent).

Die Chancenungleichheit beginnt de facto weit vor dem Kindergarten. Wenn schon die Eltern von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen sind und ihnen der Zugang zu wichtigen Bildungsgütern versperrt ist, wird es für den Nachwuchs deutlicher schwieriger, ein positives Lebensgefühl zu entwickeln und eine erfolgversprechende Bildungs- und Erwerbsbiografie zu entwickeln. Das gilt umso mehr, als die (Un-)Möglichkeit, Angebote zur Kinderbetreuung wahrzunehmen, in vielen Fällen bereits die finanzielle Situation des jeweiligen Elternhauses spiegelt.

In manchen Mitgliedstaaten ist die Belastung durch die Kinderbetreuung für ärmere Haushalte deutlich höher als für andere. Darüber hinaus ist eine zunehmende Zweiteilung zu beobachten: So gibt es einerseits erschwingliche Krippen, die vom öffentlichen Sektor bereitgestellt, aber schwer zugänglich sind (lange Wartelisten!), und andererseits private Angebote, die aber kaum finanziell tragbar sind.

EU-Kommission

Finanzielle, soziale und psychologische Aspekte verschränken sich zu einem Bündel an negativen Voraussetzungen, die den sozialen Status nicht selten von einer Generation zur nächsten „vererben“. Die Kommission betont deshalb noch einmal die Notwendigkeit, deutlich höhere Summen als bisher in die Vorschulbildung zu investieren, um hier die entscheidende Ausgangsbasis für mehr Bildungsgerechtigkeit zu schaffen, die auch zu einer Steigerung des allgemeinen Kompetenzniveaus führen soll. Doch damit nicht genug:

Nicht zuletzt erleichtert die Verfügbarkeit von Betreuungseinrichtungen auch die Familiengründung, was angesichts des Bevölkerungsrückgangs in Europa besonders wichtig ist. Tatsächlich ist in den Mitgliedstaaten, die zurzeit die höchste Fruchtbarkeitsrate aufweisen, die Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben einfach, und auch die Frauenbeschäftigungsquote ist hoch.

EU-Kommission

Vorschläge für die nahe Zukunft

Über die Auswege aus der Betreuungskrise sind sich Regierungen, Oppositionsparteien und Sozialpartner in den offiziellen Verlautbarungen weitgehend einig. Kaum jemand widerspricht der EU-Kommission, wenn sie für die Eröffnung neuer Betreuungseinrichtungen und eine Professionalisierung der informellen Betreuung durch eine erkennbare Aufstockung der Qualitätsnormen wirbt. Gleiches gilt für die Forderung nach verbesserten Standards bei den Arbeitsbedingungen, bei der Bezahlung und vor allem bei der Ausbildung des Personals.

Europaweit ist gerade der Sektor der Kinderbetreuung durch einen „Mangel an qualifizierten Arbeitskräften und sehr hohe Fluktuation“ gekennzeichnet. Obwohl in vielen Ländern mindestens eine Fachausbildung und mancherorts sogar ein Hochschuldiplom verlangt wird, liegt das Ausbildungsniveau des Personals in vielen Einrichtungen deutlich unter dieser Schwelle. Selbstständige Kinderpfleger, so der Bericht der Kommission, haben mitunter überhaupt keine einschlägige Ausbildung vorzuweisen.

Hier sind kreative Lösungen ebenso gefragt wie im Bereich der Finanzierung. Um die notwendigen Strukturveränderungen dauerhaft und effektiv umzusetzen, wären Mehrinvestitionen in Milliardenhöhe erforderlich – überdies müssten die verschiedenen politischen Ebenen möglichst ohne Reibungsverluste miteinander kooperieren.

Der Schwerpunkt liegt (…) auf der nationalen bzw. sogar regionalen oder lokalen Ebene. Es ist der Einsatz aller Beteiligten, insbesondere der nationalen und lokalen Behörden sowie der Sozialpartner gefordert, um ein leicht zugängliches, erschwingliches und hochwertiges Betreuungsangebot für Kleinkinder zu schaffen.

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Hier scheint es allerdings noch erheblichen Nachholbedarf zu geben. Ende September wurde bekannt, dass von den gut zwei Milliarden Euro, die der Bund aus seinem Sondervermögen für den Ausbau der Kinderbetreuung zur Verfügung stellen will, bislang lediglich 3,35 Millionen Euro ausgezahlt wurden. Das Saarland und Thüringen hatten demnach bis Mitte September überhaupt noch keine Förderung angemeldet, in anderen Bundesländern sollen formale Gründe ausschlaggebend sein. Auch mit diesem Befund steht Deutschland nicht alleine, wie der Zwischenbericht der EU-Kommission deutlich macht.

Obwohl sich viele Mitgliedstaaten zu einer Erhöhung des Kinderbetreuungsangebotes verpflichtet haben, bleiben die meisten von ihnen unter den Barcelona-Zielen oder nehmen in ihren nationalen Reformberichten nicht einmal Bezug darauf. Dies veranlasste den Rat, im Rahmen der Europäischen Beschäftigungsstrategie mehrere spezifische Empfehlungen an die Mitgliedstaaten zu richten.

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