Evolution ohne Sex

Ohne geschlechtliche Fortpflanzung ist den meisten Organismen kein langes Leben beschieden - evolutionstheoretisch gesehen. Forscher zeigen jetzt, warum das bei manchen Rädertierchen anders ist.

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Sex ist eigentlich ziemlich unpraktisch: Die sexuelle Fortpflanzung ist einerseits für alle Beteiligten kostspielig - und damit ist nicht nur der bei den Menschen anfallende Unterhalt gemeint. Andererseits ist sie sehr fehlerträchtig, viel zu oft passiert es, dass die Nachkommen mit Gendefekten auf die Welt kommen. Doch trotzdem vermehrt sich eine weit überwiegende Zahl aller Tier- und Pflanzenarten auf genau diese Weise. Und wenn man sich das Paarungsverhalten mancher Arten ansieht, kann der Grund dafür auch nicht in Lust und Spaß liegen.

Eiweiße (rot gefärbt) und Zellkerne (blau) in einem Rädertierchen der Art Adineta ricciae. Bild: Science

Tatsächlich ist es so, dass die vermeintliche Schwäche der sexuellen Reproduktion ihre Stärke ist: die Fehler, die bei der Kombination von Samen- und Eizelle manchmal passieren, sind die Grundlage dafür, dass Spezies sich über längere Zeit an veränderte Umweltbedingungen anpassen können. Mutationen passieren zwar auch bei eingeschlechtlicher Vermehrung - allerdings mit deutlich drastischeren Folgen, weil sie sich grundsätzlich von der Mutter an die Tochter vererben. Fehler im Erbmaterial haben deshalb für die Spezies insgesamt viel stärkere Folgen. Den Organismen ist deshalb evolutionär in der Regel kein langes Leben beschieden. Tatsächlich bestätigte sich diese Erkenntnis für lange Zeit - Arten, die auf Sex verzichten, tun das entweder nur als zusätzliche Option, etwa zu bestimmten Zeiten, oder sie sind evolutionär noch sehr jung und damit wohl unvermeidlich in einer Sackgasse gelandet.

Bei Vertretern einer weit verbreiteten Spezies, Rädertierchen aus der Gruppe der Bdelloidae, suchten Wissenschaftler denn auch lange nach dem Geheimtrick, mit dem sich die Mehrzeller den für ihr evolutionäres Überleben nötigen Sex verschaffen. Erst vor drei Jahren konnten zwei Forscherteams unabhängig voneinander zeigen, dass die Suche nach versteckten Männchen oder gar Hermaphroditen der Bdelloiden zwecklos ist: Die millimetergroßen Tierchen existieren offenbar schon seit mindestens 80 Millionen Jahren ohne Sex. Und das durchaus erfolgreich - von den im Meereswasser vorkommenden Rotiferen kennt man inzwischen fast 400 Arten. Wie ihnen das gelungen ist, hat jetzt ein europäisches Forscherteam mittels Gendiagnose herausbekommen - und im Wissenschaftsmagazin Science veröffentlicht.

Das Geheimnis, warum die Bdelloiden zwar undersexed sind, aber trotzdem genügend Variabilität zur Anpassung an verschiedene Umweltbedingungen mitbringen, identifizieren die Wissenschaftler im Meselson-Effekt. Dieses Phänomen besagt, dass sich identische Genabschnitte (so genannte Allelen) mit zunehmender Mutationshäufigkeit auseinander entwickeln. Dabei übernehmen sie auch neue Funktionen. Genau das konnten die Forscher an zwei Genabschnitten der Bdeloidae-Art Adineta ricciae zeigen: Während die eine Allele mittlerweile für die Bildung von so genannten LEA-Proteinen zuständig ist, die andere Eiweiße der Zelle bei Trockenheit vor dem Verklumpen schützt, hat ihr vormaliger Zwilling die Aufgabe übernommen, ein die Zellmembran schützendes Eiweiß zu kodieren. Prinzipiell, das geben die Wissenschaftler in ihrer Arbeit zu, könnte die beobachtete Genstruktur auch das Ergebnis einer Hybridisierung zweier Bdelloidae-Spezies mit ungewöhnlich ähnlichen LEA-Genen vor uralter Zeit gewesen sein - die einfachere (und zum aktuellen Wissensstand über die Struktur der Rädertierchen besser passende) Erklärung ist aber, dass sich hier zwei ehemalige Allelen differenziert haben.