Experiment Europa
Zwiespältige Gefühle begleiten den Big Bang, den Tag der Zusammenführung unterschiedlicher Kulturen
Schampuskorken knallen, Fanfaren erklingen, Sonntagsreden kursieren. All dies signalisiert: Es ist Party time. Europa jubelt. Gleich werden in Dublin feierlich die Urkunden überreicht. Landauf, landab ist in der Nacht bereits mit Raketen und Böllern, mit Lichterketten und Bengalischen Feuern der Tag seiner Wiedervereinigung gewürdigt worden. Fünfzehn Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zieht Europa einen Schlussstrich unter seine blutige Vergangenheit. Endlich fügt sich zusammen, was zusammengehört. Schlag Mitternacht ist der alte Kontinent um zehn Staaten "reicher" geworden, um fast 75 Millionen Menschen, die mit den anderen 375 Millionen Menschen den weltweit größten Binnenmarkt bilden und nahezu ein Viertel des gesamten Bruttosozialprodukts erwirtschaften.
Und all das ausgerechnet heute, am 1. Mai, dem Tag des Brauchtums und der Arbeit, einstmals Kampftag der Internationalen. Doch weniger sie, die Arbeiter und Bauern, Rentner und Sozialhilfeempfänger begrüßen das Ereignis mit "Freude schöner Götterfunken", als vielmehr "die Oberen" aus Politik, Wirtschaft und Kultur, die vom freien Verkehr von Waren, Menschen und Kapital am meisten profitieren.
Wir müssen aus der Europäischen Union ein Instrument der Macht und des Wohlstandes für die Nationen machen, die sie bilden.
Tony Blair
Kulissenfüller
Folgerichtig lud auch das ZDF, federführend für die EBU und unter Schirmherrschaft der EU, einige dieser "Gewinner" gestern zur Gala auf den Berliner Gendarmenmarkt, wo die stimmlich limitierte Bartoli und vermeintliche "Top Acts" aus den Beitrittsländern Zuschauer und Publikum bei Laune hielten. Dem gemeinen Volk blieb da, wie immer bei solchen Anlässen (siehe Maastricht und Euro-Einführung), nur die Rolle des Zaungastes: Es fungierte als Statist für dumme Reporterfragen wie: "Was erwarten sie sich persönlich vom Beitritt der neuen Ländern?", oder scharte sich um Großbildschirme, um als Kulisse für das Mainzer "Staatsfernsehen" zu dienen.
Während Punks, Autonome und Alternative (wie gewohnt) nebenan in Kreuzberg randalierten, die Dörfler in Bayern "ihren" Maibaum gegen Nachbardörfler verteidigten, gehört den Arbeitern, Angestellten und Beamten wenigstens heute die Straße, um an "ihrem" Feiertag in Berlin, Stuttgart oder Köln mit Trillerpfeifen, Transparenten und markigen Sprüchen gegen Lohndumping und längere Arbeitszeiten, Rentenkürzungen und Praxisgebühren loszuziehen.
Winner und Loser
Freilich erfolglos. Denn mittlerweile dürfte auch Gewerkschaftlern und Standesvertretern klar sein, dass mit der EU-Osterweiterung tarifliche Vereinbarungen und soziale Standards, die nach dem Krieg in langwierigen Auseinandersetzung erstreikt wurden, Schritt für Schritt nach unten korrigiert werden. Wohlstand und soziale Sicherheit, hohe Güter, an die sich vor allem Bürger des Westens im Windschatten des Posthistoire gewöhnt haben, sind so jedenfalls nicht mehr zu halten.
Auf Jahre, vielleicht sogar auf Jahrzehnte hin, wird sich die Mehrzahl der Bürger auf Ausgabensteigerungen und höhere Lebenshaltungskosten bei gleichzeitiger Reduzierung von Löhnen, Bezügen und sozialen Vergünstigungen einrichten müssen. Mit Sicherheit nicht die Wendigen und Mutigen, Gerissenen und Talentierten, die fremde Sprachen beherrschen, Auslandserfahrung haben und in Zeiten des beschleunigten sozialen Wandels ihren Ellbogen einzusetzen wissen, als vor allem jenige, die soziale Rundumversorgung gewöhnt sind, vom sozialen Uterus träumen und/oder dem mobilen und flexiblen Charakter nicht entsprechen wollen oder können, weil sie räumlich gebunden, traditionell veranlagt oder minder qualifiziert sind.
Friedrich Merz, Lautsprecher der CDU-Marktliberalen, hat das jüngst erfreulich offen und treffend formuliert:
Verlieren werden jene, die, salopp gesagt, lebenslänglich Deutschland gebucht haben, weil sie hier ihr kleines Häuschen haben und ihre Familie, weil sie nicht einfach heute in Deutschland, morgen in Polen und übermorgen in Amerika arbeiten können.
Umfragen bestätigen diesen Trend, die Sorgen und Ängste der Menschen. Laut einer Eurobarometer-Umfrage steht etwa die Hälfte der Ost- wie der Westbürger der Erweiterung eher skeptisch gegenüber. Gut zwei Drittel der Bundesbürger versprechen sich danach wenig Gutes von der Osterweiterung, den Verlust von Arbeitsplätzen, die Konkurrenz billiger Arbeitskräfte, die Zunahme von Kriminalität usw. Gar nur etwa jeder Siebte blickt laut Allensbach optimistisch auf das, was da auf sie zukommt. Rundum positiv schauen allenfalls die politischen und wirtschaftlichen Eliten der Erweiterung entgegen. Auf grenzenlose Zuversicht trifft man nur in Parteien, Unternehmen und Verbänden, wo die einhellige Meinung vorherrscht, dass die Chancen der EU-Erweiterung ihre Risiken bei weitem überträfen.
Angleichung auf mittlerem Niveau
Wie immer man solche Erhebungen auch im Einzelnen beurteilen wird: Fakt ist, dass sich Normen und Standards trotz unzähliger Ausnahme- und Übergangsregelungen, die im Vorfeld in Sachen Steuer-, Arbeits- oder Umweltrecht in Brüssel ausgehandelt worden sind, im Laufe der Zeit einander angleichen werden. Zweifellos wird es in den nächsten Jahren deswegen zu großen Spannungen in der EU kommen. Verteilungskämpfe und Verdrängungswettbewerbe zwischen alten und neuen, reichen und armen Ländern sowie Konflikte, die sich aus dem Zusammenwachsen unterschiedlichster Kulturen, Mentalitäten und Traditionen ergeben, werden den neuen Koloss beuteln.
Schließlich handelt es sich bei der Erweiterung nicht nur um ein Projekt, sondern auch um ein Experiment, das Deutschland vor fünfzehn Jahren schon einmal erlebt hat. Völlig unterschiedliche Formen und Kulturen prallen nämlich aufeinander: hier reiche postmoderne Gesellschaften, die unter unbewältigten Strukturproblemen leiden; dort arme Länder, die sich gerade vom Joch des Totalitarismus befreit haben und teilweise noch eine agrarische Struktur aufweisen.
Dass diese Länder sich Westeuropa an die Brust werfen, hat gewiss weder mit den schönen Augen Europas noch mit jener "einzigen Alternative" zu tun, die der rührige Slavoj Zizek (SZ vom 15.04.2004) "zwischen einer Zivilisation amerikanischer Art oder der chinesischen, autoritär-kapitalistischen" für die Beitrittsländer halluziniert. Die Entscheidung der Neuen für Europa stellt keinen "Widerstand gegen die Ideologie des Amerikanischen Traums" dar, sondern hat mit der Angst vor dem russischen Bären und, mehr noch, mit gut gefüllten Fleischtöpfen zu tun, die in Brüssel für den Osten geöffnet werden. Selbstverständlich werden alle diejenigen, die bislang davon bedient worden sind und Gefahr laufen, deswegen künftig leer auszugehen, alle Hebel in Bewegung setzen, um einen allzu einseitigen Abfluss dorthin zu durchkreuzen. Und auch die fünf Nettozahler wie Deutschland und Österreich werden sich vehement gegen die zu erwartenden Anstiege ihrer EU-Jahresbeiträge in Milliardenhöhe stemmen, so dass die Kämpfe um Subventionsgelder für Bauern, krisengeschüttelte Industrien oder strukturschwache Gebiete weiter zunehmen werden.
Doch letztlich wird all dieses Gezerre und Gefeilsche nichts daran ändern, dass sich mit der Umdirigierung von Geldern und Zuflüssen die unterschiedlichen Volkswirtschaften einander angleichen werden. Wann das sein wird, in zwanzig oder vierzig Jahren, kann niemand genau voraussagen. Jedenfalls wird es nicht so sein, dass etwa Polen dann wirtschaftlich zum deutschen Nachbarn aufschließen wird, sondern eher so, dass, wie bei kommunizierenden Röhren üblich, sich schließlich beide auf einem mittleren Niveau treffen werden. Dass einzelne Regionen danach besser aufgestellt sein werden als andere und boomen, während andere zurückfallen, vergreisen oder verslumen, bleibt davon unberührt.
Keine Frage, bei diesen Austausch-, Angleichungs- und Nivellierungsprozessen sind die neuen Beitrittsländer gegenüber den alten Westländern eindeutig im Vorteil. Nicht nur weil sie, anders als die saturierten Weststaaten mit ihren kaufunwilligen Westbürgern, in dynamischen Gesellschaften mit boomenden Volkswirtschaften leben und einen unerhörten Nachholbedarf nach Konsum von Gütern, Marken und Produkten haben. Sondern vor allem auch, weil für sie die Aussicht besteht, dass es ihnen bald wirtschaftlich besser gehen wird und sie sich Dinge leisten werden können, die sie bislang nur vom Hörensagen oder vom Bildschirm her kennen. Die Bürger des Westens dagegen werden wohl oder übel Besitzstandsverluste hinzunehmen haben. Sie mental zu verarbeiten ist bekanntlich viel schwerer als für die Verbesserung der Lage zu schuften. Die älteren Bundesbürger wissen und kennen das noch.
Was bringt's?
Viel ist in den letzten Tagen und Wochen darum in den Medien die Frage behandelt worden, was denn der Big Bang für die Bürger bringen wird, wenn sie sich, wie im Osten, wegen der drastischen Anhebung der Mehrwertsteuer auf höhere Preise, oder sich, wie im Westen, auf mehr Selbstbeteiligung und Eigenvorsorge für Alter, Gesundheit, Weiterbildung usw. einstellen müssen. Je nach Verbandszugehörigkeit, Stimmung oder Einstellung konnte man darauf die unterschiedlichsten Antworten vernehmen.
Hörte man Gewerkschaftsvertretern oder Sozialpolitikern zu, dann überwog dort vor allem die Skepsis, die sogleich mit der Forderung an den Staat verbunden wurde, die wirtschaftlich Starken und Gutbetuchten des Landes zur Kasse zu bieten, ihnen vor allem Vermögen oder Erbschaften wegzusteuern. Das Argument, dass der bürokratische Aufwand den zu erwartenden Ertrag möglicherweise übersteigen könnte, wollte man nicht gelten lassen. Weniger diesen als vielmehr die Symbolkraft solcher Maßnahmen hatte man im Blick, auch um das soziale Gewissen zu beruhigen oder die eigenen Mitglieder zu besänftigen.
Weilte man hingegen bei Firmenvertretern oder Wirtschaftsjournalisten, dann lautete darauf meist die Antwort: eine Menge. Der luxemburgische Premier hält beispielsweise die deutsche Wirtschaft für den größten Gewinner der EU-Erweiterung. Als Exportland Nummer Eins werde vor allem Deutschland vom Go East am meisten profitieren. "Mittelfristig gerade die deutschen östlichen Grenzregionen", sagte Jean-Claude Juncker dem Wirtschaftsmagazin "Capital". "Die Erweiterung wird uns nicht ärmer, sondern reicher machen", meinte der Kanzler im Bundestag. Schließlich tut sich im Osten für den Exportweltmeister ein gigantischer Absatzmarkt auf, was Hunderttausende von Arbeitsplätzen sichern und (hoffentlich) neue entstehen lassen könnte.
Ob sich allerdings solche Hoffnungen und Erwartungen auch realisieren werden, hängt vor allem davon ab, ob es den EU-Lokomotiven Deutschland und Frankreich gelingt, ihre hausgemachten Strukturprobleme (hohe Arbeitskosten, kurze Arbeitszeiten, langer Freizeitausgleich ...) möglichst rasch zu lösen und den durch die Agenda 2010 bislang nur eingeleiteten "Reformprozess": die Flexibilisierung der Arbeit, die Lockerung des Tarifrechts, die Aushöhlung des Betriebsverfassungsgesetzes, die Erhöhung von Arbeitszeiten, die Verringerung von Urlaub und Zuschlägen, zügig fortzusetzen.
Schließlich warten im Osten meist ebenso gut ausgebildete und hoch motivierte Mitarbeiter, die Willens sind, für weit weniger Lohn und Verzicht auf Urlaub, betriebliche und soziale Absicherung rund um die Uhr sowie an Sonn- und Feiertagen für die Firma zu schuften. Kostet ein Arbeiter im Westen dem Unternehmer durchschnittlich knapp 30 Euro pro Stunde, ist jener geneigt, die gleiche Arbeit für knapp 5 oder 6 Euro die Stunde zu verrichten.
Verlagern von Standorten
Kein Wunder, dass diverse Firmen wie Siemens oder andere schon drohen, Firmensitz oder Produktionsstätten nach Polen, Ungarn oder Tschechien zu verlegen, wo sie mit Dumpinglöhnen und Niedrigststeuersätzen, ja sogar mit Steuerfreiheit für die nächsten zehn Jahre, geködert werden. "Out Of Germany or Out of Business" stellt für manche wie den Opel-Chef bereits eine echte Alternative dar. Den neuen Ländern dient als Vorbild neben Spanien und (mit Abstrichen) Portugal mit Sicherheit Irland, das, einst als Armenhaus der EU verschrien, durch die Liberalisierung seiner Märkte, die Senkung von Steuern und das Einstreichen von Subventionsgeldern aus Brüssel, inzwischen über dem EU-Durchschnitt wirtschaftet und damit Deutschland, Frankreich und andere hinter sich lässt.
Der Versuch von Stoiber, Clement und Schröder, Brüssel zu "zwingen", Mindeststeuersätze festzulegen oder Fördergelder zu sperren, um Steuerdumping in den EU-Staaten zu verhindern, wird dort aber auf wenig Gehör stoßen. Mal abgesehen davon, dass sich der Beobachter fragt, warum die Herren das, wenn sie sich schon darüber ereifern, nicht vorher zur Verhandlungsgrundlage gemacht haben.
Gewiss werden nicht alle Ankündigungen realisiert. Einzelne Firmen, die den Sprung in den Osten gewagt haben, werden nach einer gewissen Karenzzeit auch reumütig wieder ins Land zurückkehren. Aber allein der Druck, der dadurch entsteht, Standorte zu wechseln oder zu schließen und woanders neu aufzubauen, wird den Widerstand von Arbeitern, Angestellten und Gewerkschaften brechen und deren Bereitschaft, Abstriche an Lohn, Gehalt und Sozialleistungen hinzunehmen, merklich wachsen lassen. Da können die Gewerkschaften noch so sehr ihre Muskeln spielen lassen und für die Ein- oder Beibehaltung von Tarifverträgen und betrieblichen Vereinbarungen streiken.
Anders als bei der Globalisierung liegen diese Optionen nicht mehr in weiter Ferne, in Indien, Taiwan oder Südkorea, sondern vor der Haustür. Der Wettbewerb um Standorte und Köpfe, Investitionen und Niedrigstlöhne beginnt jetzt erst richtig, und zwar direkt an den heimischen Grenzen. Für die Unternehmen genauso wie für Arbeiter und Angestellte. Anders als bei der deutschen Wiedervereinigung, als die Unternehmen Ostdeutschland als Absatzmarkt für überschüssige Güter nutzten und Wirtschaftsverbände die Regierung Kohl erfolgreich daran hindern konnten, dass dort unliebsame Konkurrenten für sie entstanden, gibt es jetzt keine Politik mehr, die davor oder den Unwägbarkeiten des freien Wettbewerbs schützen kann oder wird.
Bittere Botschaften
Wer sich darauf nicht rechtzeitig einstellt oder einstellen kann, wird zu den Verlierern zählen. Ohne die massive Deregulierung der Arbeitsmärkte, ohne schmerzhafte Einschnitte in die Sozialsysteme und ohne die Umsteuerung in Richtung langfristig bezahlbarer Renten- und Gesundheitskassen, werden beispielsweise weder Deutschland noch Frankreich wirtschaftlich genesen und weiter von niedrigem Wirtschaftswachstum und hoher Arbeitslosigkeit gebeutelt werden.
Innovationsoffensiven, massive Investitionen in Forschung und Entwicklung werden da kaum für Abhilfe sorgen. Zum einen wirken diese, wenn überhaupt, eher langfristig. Zum anderen werden höhere Qualifizierung und ständige Weiterbildung, entgegen anders lautender Stellungnahmen, den Westländern kaum aus der Patsche helfen, solange die Jobs dafür fehlen und der Staat wie auch die Unternehmen mangels Finanzkraft ihre Belegschaften systematisch ausdünnen. Zudem hat es der hervorragend Ausgebildete nicht mehr nur mit dem Kollegen aus Paris oder Madrid zu tun, sondern auch mit dem aus Krakau, Bratislava oder Riga, der als verkappte Ich-AG in den Westen kommt und seine Arbeitskraft um etliches billiger anbieten kann.
Es gehört zu den ständig weiterkommunizierten Legenden unserer Tage, dass weder die private oder staatliche Investition in Bildung, Betreuung und Ganztagsschulen noch die Steigerung von Abiturientenquoten und die ständige Überprüfung durch standardisierte Leistungstests, die Gewähr für den Verbleib in oder den Gewinn der Champions League liefern. Wäre dem so, dann hätte damals nicht bloß die DDR, deren Bildungs- und Rundumbetreuungssystem jetzt schrittweise im Westen eingeführt wird, Deutschland überholt, dann müssten auch Frankreich und England, wo Ganztagsbetreuung selbstverständlich ist, und Finnland, das nach Japan die besten Ergebnisse bei PISA erzielt hat, an Deutschland vorbeigezogen sein. Auch bei stärkstem Nachdenken will mir, wenn ich an Finnland denke, wohin mittlerweile Armaden von Bildungspolitikern gepilgert sind, um von deren Bildungssystem zu lernen, kein Nobelpreisträger oder keine Nobelpreisträgerin aus diesem Land einfallen.
Auf Europa warten neue Aufgaben und Kosten
Ob Europa nach der Erweiterung tatsächlich stärker wird, steht in den Sternen. Viel wird davon abhängen, ob Kerneuropa ökonomisch endlich auf die Beine kommt. Aber auch dann ist zu erwarten, dass durch das Pumpen Hunderter von Milliarden Euro in strukturschwache Ostgebiete Gelder, die für andere Aufgaben, politische, militärische, technologische gebraucht werden, abgeschöpft werden und in undurchsichtigen Kanälen (Korruption, Kriminalität, Parteienpatronagen usw.) versickern. Die deutsche Wiedervereinigung ist dafür Lehrstück und Abschreckung genug. Politiker und Bürokraten sollten daraus ihre Schlüsse ziehen. Sie zeigt, wie wirtschaftlich schwache Regionen, getreu dem Prinzip kommunizierender Röhren, starke Gebiete mit "nach unten" ziehen können.
Angesichts militärischer Bedrohungen (Terrorismus, Fundamentalismus, Proliferation), politischer Herausforderungen (Stabilisierung und Befriedung "balkanisierter" Staaten und Regionen) und technologischer Umwälzungen kann sich Europa ein Herumwerfen mit Geldern nicht leisten. Es muss sich vorher schon genau überlegen, wohin sie ihre Gelder verteilt oder transferieren will. Vater Bush und seine damaligen Berater haben schon gewusst, warum sie das damals "zaudernde" und "zögernde" Europa, das nur an seiner "Friedensdividende" interessiert war, zur Osterweiterung förmlich "gedrängt" haben. Und dies sicher nicht allein aus strategischen Gründen, um die Osteuropäer politisch zu stabilisieren, sondern vor allem auch, um alte und neue Rivalen, Russland politisch und Europa wirtschaftlich zu schwächen.
Ein politischer Zwerg, der Goliath sein will
Politisch hingegen muss das Riesengebilde, gleich ob es die wirtschaftliche Kurve kratzt und tatsächlich prosperiert, bei dem Hang zur Größe, den es entwickelt, allerdings aufpassen, dass es sich nicht übernimmt. Folgt man Tony Blair, dann ist der Hunger nach Aufnahme weiterer Staaten noch lange nicht gestillt. Er hat nicht nur Bulgarien und Rumänien fest auf der Rechnung, er hält auch die Aufnahme der Türkei und Kroatiens bereits für beschlossene Sache (Die europäische Erweiterung).
Und auch Joseph Fischer, der deutsche "Nebenaußenminister", wie der Spiegel spöttelt, hegt bekanntlich bereits großeuropäische Ambitionen (Reboot Europa). Er hat ein Europa vor Augen, das großen Staaten wie Russland, China, Indien oder den USA Paroli bieten und ihnen auf Augenhöhe begegnen kann.
Doch vor solche Großmannssüchte hat die EU bekanntlich die Kommission und ihre Bürokraten gestellt. In Brüssel wird diese Gefahr zunehmend bemerkt. Zur allgemeinen Verwunderung erklärte im ZDF-Morgenmagazin vom Mittwoch der Erweiterungskommissär Günter Verheugen, er glaube, "dass wir jetzt allmählich an unsere Grenzen stoßen". In den kommenden Jahren komme es folglich nicht mehr auf Zugewinn an, sondern darauf, "das wirtschaftliche Fundament dieses Europa der 25 so zu stärken, dass es das große politische Gebäude, das wir errichtet haben, auch wirklich tragen kann."
Diese Einsicht kommt spät, aber vielleicht gerade noch rechtzeitig. Die EU wird politisch kaum zum Goliath werden, wenn sie Staaten weiter bedenkenlos in sich "hineinfrisst". Sonst steht sie vielleicht auch bald mal vor der Frage, wie sie es denn mit einem "Eurabia" (The Rise of Eurabia) oder "Eurasien" halte. Denn sowohl mit Russland als auch mit den arabischen Staaten gibt es viele kulturelle Bande, die sie und Europa traditionell verbinden. Europa wird sich deswegen nur dann behaupten und emanzipieren können, wenn es "seinen Bestand" endlich konsolidiert und den Koloss politisch und militärisch auf feste Füße stellt.
Dazu gehört mit Sicherheit die baldige Verabschiedung der Verfassung. Die Ankündigung Tony Blairs, dies mit einem Referendum tun zu wollen, ist grundsätzlich zu begrüßen. Für Deutschland dürfte das aber unnötig sein, da keine namhafte politische Gruppierung sich bislang dagegen ausgesprochen hat. Dazu gehört weiter die Abstimmung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Hört man aber Tony Blair, so sind berechtigte Zweifel angebracht. Die europäische Integration will er nämlich nur dort ausgebaut wissen, "wo ein gemeinsames Handeln sinnvoll ist - etwa bei der Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern oder beim Ausbau unserer Wettbewerbsfähigkeit". In der Außen- oder Verteidigungspolitik dagegen soll es "bei der freiwilligen Zusammenarbeit der Regierungen bleiben".
Im Klartext heißt dies, dass die britische Regierung von Fall zu Fall prüfen und entscheiden will, ob sie mit Europa oder mit Amerika marschiert. Ad Hoc-Koalitionen, wie sie der jüngere Bush praktiziert, kann die EU aber weder dulden noch akzeptieren. Getreu der Politik der Bushies: "Either you are with us or against us". Und dazu gehört schließlich auch, was Pazifisten, Gutmenschen und Menschenrechtlern kaum gefallen wird, die schrittweise technische Aufrüstung, Bündelung und Angleichung der unterschiedlichen Armeen, um die Schlagkraft der Truppe zu erhöhen. Will die EU tatsächlich zum Global Player werden, wie der grüne Außenminister fordert, dann muss sie sich auf diesem Gebiet mehr tun und ihre Ausgaben dafür erhöhen.
Obgleich der militärische Erfolg im Irak zweifelhaft scheint und darum so mancher Beobachter die militärische Option für gescheitert hält (siehe Was geht uns der Hindukusch an?), machtpolitisch überzeugen und geopolitische Ziele wie die Modernisierung des Greater Middle East verwirklichen kann im Zweifelsfall nur derjenige, der mit ihr drohen und sie nötigenfalls auch ausspielen kann. Ist das nicht der Fall, dann bleibt er, großeuropäische Ambitionen hin, "kontinentale Größenordnungen" her, wirtschaftlich vielleicht ein Riese, politisch aber bestenfalls ein Zwerg.
An Nordkorea, wirtschaftlich und technologisch ein Land der Steinzeit, kann man beobachten, welche "Beachtung" es weltpolitisch genießt, weil es militärisch drohen kann. An solchen "realpolitischen Konstellationen" oder machtpolitischen Gegebenheiten kommen auch die Gutwilligsten nicht vorbei. Sie können vielleicht hysterisiert, aber nicht, wie in den Kulturwissenschaften heute üblich, einfach "wegkommuniziert" werden.