Reboot Europa

Auf dem Weg zur neuen Supermacht?

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Europas Führer haben den Mund wieder sehr voll genommen. Bis spätestens 2010 will man, so die Regierungschefs auf ihrem Gipfeltreffen am Wochenende in Brüssel, zum "dynamischsten Wirtschaftsraum" werden, die USA überholen und die EU zur "führenden Wirtschaftmacht der Welt" ausbauen. Für dieses ehrgeizige Ziel werde man im Reformtempo nochmals zulegen. Mehr Eigenverantwortung und weniger Bürokratie, mehr Investitionen in Forschung und Bildung und der rasche Umbau des Sozialstaates gehören ebenso dazu wie ein "Superkommissar für Wettbewerbsfähigkeit", der das neue Riesengebilde wirtschaftlich lenken soll.

Es mag sein, dass es mit Europa zu Ende geht.

Claudio Magris

Solche Gipfelrhetorik ist uns vertraut. Schon beim Gipfel in Lissabon vor ein paar Jahren war Ähnliches zu vernehmen. Auch damals bekundete man die Absicht, die Vereinigten Staaten zu "überholen" und bis 2010 zum weltweit größten Binnenmarkt für E-Business und E-Commerce werden zu wollen (Alle und alles ans Netz). Jede erdenkliche Kraftanstrengung sollte dafür unternommen werden. Neben der Ausstattung von Schulen und Universitäten mit neuester IT-Technik, der Förderung der Ausbildung und des Wissens der jungen Leute auf diesem Gebiet und der Bereitstellung von Geldern für die Entwicklung entsprechender Lernsoftware, hatte man vor, die Neuansiedlung von Firmen gezielt zu unterstützen und die Investitionstätigkeit solcher Unternehmen zu fördern.

Was daraus geworden ist, ist bekannt. Zwar wurden Schulen und Universitäten mit Hardware voll gestopft, Lehrer und Ausbilder in der Handhabung von Rechnern und Programmen nachgeschult und Garagenfirmen mit Risikokapital belohnt. Aber an der allgemeinen Wachstumsschwäche, der weiteren Zunahme von Arbeitslosigkeit und dem Marsch in den Verschuldungsstaat haben alle diese Investitionen nichts geändert. Im Gegenteil: In den Schulen "verrotten" Computer, die Firmen verlegen sich wieder aufs Kerngeschäft und einige EU-Chefs müssen von der EU-Kommission erst wieder an ihre Beschlüsse von Lissabon erinnert werden.

Worauf sich also dieser neuerliche Optimismus gründet, erschließt sich dem Beobachter nicht auf den ersten Blick. Hier scheint erneut der Wunsch Vater des Gedankens zu sein. Sind nämlich alle anderen Regionen auf der Welt längst im Wachstum begriffen, tritt Westeuropa weiter auf der Stelle.

Erwacht Europa?

Trotzdem markiert und verstärkt auch diese Kampagne die Wende in der Politik der EU. Es sieht so aus, als ob Europa aus seinem Dornröschenschlaf erwacht sei und dabei ist, seine Jahrzehnte dauernde Larmoyanz, Depression und Schwarzmalerei abzulegen (Der ratlose Kontinent). Europas politische Führer scheinen sich den Herausforderungen zu stellen, die die Globalisierung für alle Staaten, Regionen und Metropolen dieser Welt bereithält. Der Alte Kontinent macht sich auf, die Rolle des Zuschauers aufzugeben und zum Global Player zu werden.

Und das nicht nur auf dem Gebiet der Wirtschaft und der Technik. Auch der Kosovo-Albtraum, als Europa der US-Militärmacht bedurfte, um zu versuchen, auf dem Balkan Ordnung, Frieden und Sicherheit wiederherzustellen; sowie der Irak-Krieg, den die USA mit "frisierten" Anschuldigungen und Dokumenten wider den Willen des UN-Sicherheitsrates vom Zaum brach, um das Land zur Freihandelszone zu machen; und nicht zuletzt der von Donald Rumsfeld zwischen dem "alten" und dem "neuen Europa" getriebene Keil haben Europa gezeigt, dass es zu mehr Eigenständigkeit finden muss. Will Europa im Greater Middle East oder in Fernost gehört werden, muss es aus dem Schatten des "großen Bruders" heraustreten und sich von ihm emanzipieren.

Haben die Amerikaner das Ende des Kalten Krieges genutzt, um ihren Vorsprung in den vier Schlüsselbereichen der Macht: den militärischen, ökonomischen, technologischen und kulturellen, weiter auszubauen, legte Europa eine "strategische Verschnaufpause" (Robert Kagan) ein. Statt den Kollaps des Sowjetreiches als Chance zu begreifen, ihre "strategische Einflusssphäre" zu erweitern, sahen viele Europäer das Ereignis als willkommene Gelegenheit, eine "beträchtliche Friedensdividende" einzustreichen.

"In der Ersten Welt haben wir in den 90-er Jahren eine rauschende Fete gefeiert", so Joschka Fischer jüngst im Interview. Ohne massiven Druck der USA hätte die EU das Zeitfenster nicht genutzt, das durch den Zerfall des Kommunismus und dem Rückzug der UdSSR aus ihren Trabantenstaaten für kurze Zeit offen stand, und die EU nach Osten erweitert. Und noch der Maastrichter Vertrag von 1992 bestärkte etliche EU-Führer in dem Gefühl, ein durch den Euro geeintes Europa könnte alsbald seine alte Größe in einer neuen politischen Form wiedererlangen.

Erst die Ereignisse auf dem Balkan, der Angriff auf die Twin Towers und der darauf in Gang gesetzte War on Terror haben Europa signalisiert, dass räumliche Ausdehnung und ökonomische Größe und Potenz allein keine Garanten für globale Macht und Stärke sind. Ohne entsprechende militärische, politische und kulturelle Flankierung, ohne Hard und Soft Power, bleibt Europa ein "Koloss auf tönernen Füßen".

Ansehensverlust

Tatsächlich ist es in den Neunziger Jahren auch eher zu einem Abstieg Europas als zu einem Aufstieg zur neuen Supermacht gekommen. Und dies nicht allein wegen seiner relativen militärischen Schwäche gegenüber den USA oder seines mangelnden Einflusses in Fernost oder in der arabisch-israelischen Welt. Nicht einmal auf dem Gebiet der Kultur, der Geschichte oder der Ideologie, das Europa fast eineinhalb Jahrtausende dominiert hat, gibt Europa noch den Ton an.

Seitdem nicht mehr Bücher und Texte, sondern Massenmedien und Internet zu den weltweiten Trägern und Verbreitern von Lebensstilen, Lebensformen und Mentalitäten geworden sind, nimmt Amerika auch auf diesem Sektor längst eine beherrschende Stellung ein. Über die Datennetze bringt es ihre Version von Musik und Mode, Demokratie und Freiheit unter die Leute. Folgt man der Empirie ehemaliger Sicherheitsberater, dann stammen fast vier Fünftel aller Bilder und Wörter, die auf der Welt zirkulieren, aus den USA.

Forderungen nach Quoten oder Erlässen, die heimische Kulturgüter wie Sprache, Film oder Schlager schützen, wirken häufig allzu hausbacken und linkisch. Statt diese zum Biotop zu erklären, sollte Europa den Wettbewerb annehmen und strategische Kooperationen fördern, die mit attraktiveren Angeboten und qualitativ höher stehenden Produkten die Herzen und Köpfe der Jugend erobern. Nicht überall steht Europa nämlich so schlecht da wie auf dem Feld des Films oder der Software. Sieht man sich beispielsweise auf dem Popmarkt um, dann bieten britischer Punkrock oder Britpop, deutscher Electronic- oder Technosound, französischer Noir Delir-Chanson in aller Regel mehr Vielfalt, Abwechslung und Qualität als der stromlinienförmige Mainstream, der aus Amerika nach Europa schwappt. Vergleiche sind da immer schwierig, sie mutieren leicht zu Geschmacksurteilen. Aber eine Band wie Franz Ferdinand braucht sich vor den Strokes nicht zu verstecken. Und ein Entertainer wie Robbie Williams hat sicherlich mehr Potenz als ein Justin Timberlake oder eine Aguilera oder Pink zusammen genommen.

Europa müsste mit seinen Pfunden nur besser wuchern. Statt ständig auf den amerikanischen Markt zu schielen und dessen Vorgaben und Trends zu übernehmen, sollten sich die Macher mehr an eigenen Stilen und Gepflogenheiten, Interessen und Neigungen orientieren und Marken und Produkte besser vermarkten als bisher.

Erinnerung einmal anders

Daneben besitzt Europa natürlich etwas, was die neue Welt nicht hat, nämlich Erinnerung. Diese muss nicht, wie Karl-Heinz Bohrer in seinen Gadamer-Vorlesungen bemängelt hat, bei den blutigen Erfahrungen zweier Weltkriege, bei Völkermord, Vertreibung und Gulags, bei der Erfahrung von Totalitarismus, Rassismus und Massenvernichtungswaffen beginnen. Sondern kann auch bei Visionen und Utopien ansetzen, die weniger Skepsis und Zweifel am technisch-wissenschaftlichen Fortschritt üben.

Schließlich war Europa einst Quelle und Sitz des utopischen Denkens. Hier entstanden die ersten Utopien über einen idealen Staat (Th. Morus, Th. Campanella, Th. Hobbes), eine umfassende Wissensgesellschaft (F. Bacon) oder eine reibungslos funktionierende Gesellschaft (Saint-Simon, E. Cabet). Hier wuchsen die Hoffnungen auf die endgültige Beseitigung von Hunger, Krankheit und Armut, der Traum vom grenzenlosen materiellen Reichtum (A. Smith) und vom "Ewigen Frieden" (I. Kant); hier wurden die ersten Arbeits- (Ch. Fourier, A. Gorz), Erziehungs- (J. - J. Rousseau) und Gesellschaftsutopien (K. Marx, J. Habermas) ausprobiert oder erfunden; und hier haben auch alle aktuellen Sehnsüchte der Menschen nach Unsterblichkeit, Schönheit und ewiger Jugendlichkeit ihren Ursprung, die nach Amerika aus- und in die Gen-, Nano- und Computertechnologie eingewandert sind und dort die "Go Ahead-" und "New Frontier"-Mentalität der Menschen befeuern.

Während hierzulande viel zu prinzipiell über das Für und Wieder des Klonens von Lebewesen, der Forschung an embryonalen Stammzellen sowie der genetischen Optimierung und Züchtung des Menschen durch genetische Selektion oder den sozialen Folgen der Globalisierung von Märkten und Netzwerken gestritten wird, stehen Amerikaner solchen Fragen viel offener und unbefangener gegenüber. Fällt Amerikanern bei der Selektion von Stammzellen eher die Petrischale ein, denken Europäer und vor allem Deutsche zuallererst an die Rampe von Auschwitz.

Will Alteuropa künftig mehr Gehör in der Welt finden und einen dominierenden Part in der Weltgesellschaft spielen, dann muss es sich weniger darauf, als auf seine utopischen Energien, Kräfte und Ressourcen wieder besinnen. Es muss versuchen, am Takt, Rhythmus und Code, den Lebenswissenschaften und Informationstechnologien "vorgeben", mitzuschreiben. Ohne neue Patente, Geschäftsideen und Visionen, die es katapultartig aus der Gegenwart schleudert, wird Europa bleiben, was außereuropäische Besucher seit geraumer Zeit hier beobachten und vorzufinden glauben: ein "Museum", das zur "Schädelstätte des absoluten Geistes" geworden ist.

Gewiss wird diese Rückbesinnung auf zukunftsträchtigere Traditionen allein nicht reichen, um den "technologischen Vorsprung" und das daraus verbundene "Machtgefälle" (Robert Kagan) zwischen alter und neuer Welt zu beheben. Dazu gehört, natürlich, die gezielte Förderung und Ausstattung sogenannter Startups mit billigen Büroräumen, Venture- und Risikokapital. Nur weil überzogene Versprechungen am Neuen Markt zerstoben sind, heißt das ja nicht, dass Investitionen in neue Technologien oder Firmen, die diese zu neuen Anwendungen und Produkten führen, von vorneherein oder gar prinzipiell falsch sind.

Dazu gehört, ferner und vor allem, der Aufbau einer eigenständigen europäischen IT-Industrie, die stabilere und offenere Betriebssysteme entwickelt als die amerikanischen. Programmentwickler wie Linus Torvald wären dann nicht mehr gezwungen nach Silicon Valley abzuwandern, um dort die Früchte ihrer Erfindung einzuheimsen. Und dazu gehört, schließlich, auch die Rückbesinnung auf jene Geschichte, die diesen technischen Fortschritt einst überhaupt möglich gemacht hat. Erst die mathematische Revolution, die Kopplung von indischem Stellenwertsystem und dem Buchdruck Gutenbergs, brachte dem neuzeitlichen Europa damals seine wissenschaftlich-technische Macht.

Europa reloaded

Betrachtet man die nackten Zahlen und Fakten, dann stehen die Chancen für ein "Reboot Europa" gar nicht so schlecht. Nach der Osterweiterung wird die Bevölkerung der EU auf 500 Millionen Menschen anwachsen, eine Zahl, die etwa doppelt so hoch wie die der USA ist. Europas Fläche wird dann an die 5 Millionen Quadratkilometer betragen, ein riesiger Binnenmarkt, der etwas mehr als die Hälfte der USA beträgt. Das Bruttosozialprodukt wird danach um rund 15 Prozent höher liegen als das der USA und etwa einem Viertel des gesamten weltweit erwirtschafteten Bruttosozialprodukts entsprechen.

Mittlerweile ist auch der Euro zur echten Alternative für Anleger geworden. Er hat nicht nur Parität mit dem Dollar erreicht, er hat ihn auch schon überflügelt. Schon plant Russland, sollten die Meldungen stimmen, seine Öl-Abrechnung in Euro statt in Dollar tätigen zu wollen. Trotz des "Toll Collect" Desasters und des Scheiterns der einen oder anderen Mars-Mission ist Europa auf dem besten Weg, den USA auf einigen Feldern der Spitzentechnologien den Rang ablaufen zu können: Das Airbus-Konsortium ist auf dem besten Weg, Boeing die Führungsposition bei der Herstellung und dem Verkauf von Großraumflugzeugen abzujagen; bei der Eroberung und Besiedelung des Weltraums ist man mit dabei; und mit der Entscheidung für ein eigenes Satellitennetzwerk (Galileo) schickt Europa sich an, sich unabhängiger von amerikanischer Hochtechnologie zu machen und ein Alternativmodell zum amerikanischen GPS-System aufzubauen.

Andererseits mehren sich auch die Signale, die mit einer heimlichen Absetzbewegung Europas von den USA rechnen oder bereits von einer "transatlantischen Spaltung" ausgehen (Das neue Byzanz). In eminent wichtigen Fragen und Feldern der Politik, der Wirtschaft oder des Rechts folgen die USA und Europa inzwischen unterschiedlichen sozialen Werten, Prinzipien und Interessen. Folgt man dem Urteil von Richard Haass, Vizechef im Planungsstab des State Departements, dann gibt es "den Westen" schon längst nicht mehr. In den global-strategischen Planungen des Imperiums spielt Europa keine besondere Rolle mehr. Es dient allenfalls noch als "Brückenkopf" für den Griff nach Eurasien und den Mittleren Osten. Weshalb die USA auch ihr Personal um ein Drittel abbauen und Militärstützpunkte in den Osten Europas verlegen.

Europa first

Der Terroranschlag von Madrid, hat, so paradox es klingt, die Einigung Europas vorangetrieben. Terrorangst und Gefahrenabwehr haben die Europäer näher rücken lassen und nationale Egoismen und Ressentiments in den Hintergrund gedrängt. Die Chancen auf die Verabschiedung einer gemeinsamen Verfassung sind gestiegen, seitdem die neue spanische Regierung nicht mehr auf Nizza beharrt und die Vorschläge des Konvents akzeptieren will. Polen, das nicht isoliert dastehen will, bleibt nichts anderes übrig, als mit ins Boot zu steigen.

Der Plan der Neocons, die EU-Staaten zu zwingen, sich zwischen "Washington oder Paris zu entscheiden" (David Frum und Richard Perle), könnte bald zum Rohrkrepierer werden. Nicht die Wahl zwischen Amerika oder Europa, sondern ein Europa first könnte künftig die Handlungsweise der Europäer beseelen. An die Stelle eines vielzüngigen und in sich zerstrittenen Europas, Lieblingsidee Donald Rumsfelds, könnte bald ein geeintes und nach Innen gefestigtes treten, das dem Imperium Gegenmodell, Gegenmacht und Rivale zugleich wäre.

Und auch im militärischen Bereich schickt die EU sich an, eigene Wege zu gehen und sich vom "Protektorats"-Status zu verabschieden. Der Aufbau einer eigenen Eingreiftruppe schreitet voran, die Verabschiedung einer alternativen eigenen Sicherheitsdoktrin steht unmittelbar bevor, und die Umwandlung der Multikulti-Truppen in ein funktionierendes Netzwerk macht, soweit man hört, gute Fortschritte. Schon sieht Joschka Fischer am Horizont ein "strategisches Europa" auftauchen, das in "kontinentalen Größenordungen handeln kann", sich an "große Staaten" wie Russland, China, Indien und den USA orientiert und sich mit ihnen geostrategisch wie geopolitisch messen will. Der deutsche Außenminister will die "klein-europäischen Vorstellungen", wie sie 1994 von Karl Lamers und Wolfgang Schäuble projektiert wurden (Kerneuropa, Europa der zwei Geschwindigkeiten) verlassen und stattdessen "die Globalisierung politisch gestalten."

In wessen Interesse?

Bei solchen "großeuropäischen Ambitionen", wie sie der grüne Außenminister neuerdings hegt, ist die Gefahr eines imperial overstretch natürlich gegeben. Weitere Erweiterungen nach Osten, wie für 2007 geplant (Rumänien und Bulgarien), oder nach Südosten (Balkanstaaten, Türkei) könnten die Kräfte Europas stark überfordern. Statt weiter auf Zugewinn zu setzen, sollte sich Europa zunächst konsolidieren. Andernfalls droht die Gefahr der Handlungsunfähigkeit. Mit 25 Mitgliedern ist Europa "schon arg überdehnt" (Peter Glotz). Am Schicksal der ehemaligen AOS, der African Organisation of States, hat man gesehen, wie solche Extensionen enden können, nämlich in der Implosion.

Im Übrigen ist Europa nicht mit den Vereinigten Staaten vergleichbar. Anders als diese ist Europa kein klassisches Einwanderungsland, es besitzt eine blutig-kontroverse Geschichte und eine sprachlich-kulturelle Vielfalt, die Mentalitäten prägt und die nicht einfach per Dekret außer Kraft gesetzt werden können. Auch darf man nicht übersehen, dass die Türkei 1999 nur auf massivem Druck der USA überhaupt "Kandidat" geworden ist. Die Idee der Osterweiterung wie die Aufnahme der Türkei spiegelt hauptsächlich das Interesse der Weltmacht: Einerseits, um den Emporkömmling wirtschaftlich und politisch zu schwächen; andererseits, um die Region politisch ans Imperium zu binden.

Die Hoffnungen, dass sich mit einer "europäischen Türkei" das Verhältnis zu den muslimischen Staaten verbessern würde, sind trügerisch. Statt mit der Türkei einen "geopolitischen Puffer" zur islamischen Welt zu haben, wäre Europa unmittelbarer Grenznachbar. Rivalitäten und Bürgerkriege spielten sich dann unmittelbar vor der Haustür ab. An der Situation am Balkan sieht man, welche Probleme das aufwirft. Die Lage politisch stabilisieren kann man auch mit einer Türkei, die assoziierendes und nicht unbedingt Vollmitglied. Dass die Türkei sich dann andere Partner suchen würde, in Zentralasien die Turkvölker oder im islamischen Raum die arabischen Völker, ist reine Spekulation (Ein Heraushalten ist nicht mehr möglich. Das würde die Türkei wirtschaftlich um Jahrzehnte zurückwerfen. Und das weiß man auch in der Türkei. Weswegen man dort auch alle Anstrengungen unternehmen wird, um den Europäern zu "gefallen".

Vieles spricht dafür, dass die Osterweiterung für Mitteleuropa zum Bumerang werden könnte. Schon jetzt beginnen die Firmen, auch qualifizierte Arbeitsplätze dorthin zu verlagern, was zu Joblosigkeit und Lohndumping in den Heimatländern führen wird. Wie kommunizierende Röhren werden arme und reiche Länder, westliche und östliche Ideen, Köpfe und Löhne austauschen und sich irgendwann auf mittleren Niveau einpendeln. Davon profitieren werden nicht die Staaten, sondern einzelne Regionen und Metropolen. So wie in Asien oder Südamerika werden innerhalb Europas regionale Zonen des Wohlstands entstehen, die direkt an Zonen der Armut grenzen und sich inmitten dieser platzieren. Die europäische Landkarte wird in einigen Jahrzehnten vermutlich vollkommen anders aussehen.

Wo hört Europa auf?

Europa muss also klug und umsichtig handeln. Nicht dass es ihm so ergeht wie einst der schönen "Europa", Tochter des Königs Agenor im griechischen Mythos, als diese auf das Buhlen und Werben des wegen ihr zum "weißen Stier" mutierten Zeus hereinfiel und über die Meere entführt wurde. Es muss sich darum gut überlegen, wo seine Interessen, aber auch, wo seine kulturellen, territorialen und auch geografischen Wurzeln und Grenzen liegen. Die Diskussion darüber ist schon im Gang. Sie muss offen, ehrlich und intensiv geführt werden.

Historisch gesehen hat Europa seinen Kern nämlich in der Levante. Erst mit dem Zerfall des oströmischen Weltreiches hat sich dieses Zentrum nach Mitteleuropa verschoben. Die Osterweiterung wird das wieder korrigieren. Nach und nach wird Europa eine "Ver-Ostung" erleben. Wo das Kap Europas liegt oder liegen wird, ist deshalb schwer zu sagen. Einst war es Mitteldeutschland, aktuell ist es Osteuropa, morgen wird es vielleicht die Türkei oder Russland sein.

"Natürlich gehören Tolstoi und Dostojewski zur europäischen Kultur wie Stendhal oder Schiller". Da hat Claudio Magris sicherlich Recht. Richtig ist aber auch, dass Europa diese Dichter einfach zu seinen eigenen gemacht hat. Europäisch haben die beiden nicht immer gedacht. Europas Geschichte mag mit der Auseinandersetzung um kulturelle Grenzen und deren Überwindung Hand in Hand gehen - die Errichtung politisch fließender Grenzen wäre aber wohl mehr als Europa sich gegenwärtig leisten kann oder zumuten sollte. Auch die USA verzichten darauf, Mexiko oder den Irak zu ihren dreiundfünfzigsten oder vierundfünfzigsten Bundesstaat zu machen. Und zwar mit guten Gründen. Warum sollte Europa da anders handeln?

Europa sollte also nicht dumm sein, es geht weder um Stil- oder Geschmacksfragen noch um politische Korrektheiten, sondern vor allem und zuallererst um die Handhabung jener Macht, die kalkuliert und strategisch operiert. Schließlich könnte es auch ein böses Erwachen geben. Anstelle der Integration könnte es nämlich auch zur Erosion Europas kommen, zum Rückzug in die Kleinstaaterei, als deren Vorbild gemeinhin die Schweiz gilt.