Extreme Blödheit und rassistische Vorurteile

Der NSU-Untersuchungsausschuss belastet die Sicherheitsbehörden schwer

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Nach eineinhalb Jahren legt der NSU-Untersuchungsausschuss nun eine Bilanz seiner Arbeit vor. Auf den ersten Blick klingt die beachtlich: In über 70 Sitzungen wurden 100 Zeugen vernommen, 8.000 Akten gewälzt und 389 Beweisbeschlüsse gefasst – einstimmig, wie die Mitglieder des Untersuchungsausschusses parteiübergreifend immer wieder betonen. Einigkeit zu demonstrieren ist den Angehörigen des NSU-Untersuchungsausschusses wichtig – doch die Schlussfolgerungen aus den Untersuchungsergebnissen könnten unterschiedlicher nicht ausfallen. Darüber können auch die 47 parteiübergreifend vorgeschlagenen Reformmaßnahmen für Polizei, Justiz und Verfassungsschutz nicht hinwegtäuschen.

Die Einigkeit, mit der alle Parteien von der CSU bis zur Linken im NSU-Untersuchungsausschuss zusammengearbeitet haben, macht den Ausschussvorsitzenden Sebastian Edathy (SPD) bei der Vorstellung des Abschlussberichts stolz. Es sei nicht nur der erste Untersuchungsausschuss in der Geschichte des Bundestages, der von allen Fraktionen gemeinsam eingesetzt worden sei, sondern auch sämtliche Beschlüsse des Ausschusses sowie der Abschlussbericht seien einstimmig verabschiedet worden. Grund dafür sei, dass es immerhin um die Frage gegangen sei, ob der deutsche Rechtsstaat noch funktioniere – und dieses Thema wollte offenbar keine Partei für Wahlkampfmanöver missbrauchen, obwohl die Bundestagswahlen unmittelbar bevorstehen.

Das Urteil des Untersuchungsausschusses fällt für die deutschen Sicherheitsbehörden, aber auch für die Spitzenpolitiker, denen während der katastrophalen Ermittlungsarbeit zu den verharmlosend "Döner-Morde" genannten Verbrechen Polizei und Verfassungsschutz unterstellt waren, verheerend aus. Selbst die CSU zeigt sich über die Arbeit der Ermittler entsetzt: Stephan Stracke nennt den Umgang der Strafverfolger mit der Mordserie eine "beschämende Niederlage des deutschen Sicherheitssystems". Den einen zentralen Fehler gebe es nicht, sondern eine Vielzahl von Fehlern.

Zu den Hauptproblemen, die bei der Vorstellung des Berichts immer wieder genannt werden, zählt die Kooperation der einzelnen Landespolizeien und der Ämter für Verfassungsschutz. Offensichtlich konnte das NSU-Trio auch deshalb so lange unerkannt morden, weil die Morde nicht in dem Bundesland begangen wurden, in dem die Rechtsterroristen gelebt haben.

Im Abschlussbericht finden sich dazu deutliche Worte. In Bund und Ländern habe es schwere behördliche Fehler bis hin zum Organisationsversagen gegeben. Über Jahre hinweg seien die Versäumnisse nicht erkannt und daher auch nicht korrigiert worden. So hatte die Polizei beispielsweise bereits im Januar 1998 1,4 Kilo TNT in drei Rohrbomben in einer Garage in Jena sicherstellen können – währenddessen sich Uwe Böhnhardt unbehelligt aus dem Staub machen konnte. Die in der Garage ebenfalls gefundene Adressliste des Uwe Mundlos sei zudem als "für die Ermittlungen ohne Bedeutung" eingestuft worden. Hinzu kommt, dass die Landespolizeibehörden untereinander nur mangelhaft Informationen ausgetauscht haben.

Trotz allem, so stellt der Untersuchungsausschuss fest, gibt es keinen Hinweis darauf, dass die Behörden in irgendeiner Weise die NSU unterstützt, gedeckt oder deren Taten gebilligt hätten. Bis zum 4. November 2011 habe keine Behörde gewusst, dass der NSU für die Taten, die ihm heute zur Last gelegt werden, verantwortlich sein könnte. Auch die Tatsache, dass noch nach Bekanntwerden der NSU und ihrer Mordserie Akten durch den Verfassungsschutz vernichtet wurden, ist für Edathy kein Indiz für eine Unterstützung des NSU durch die Behörden. Die vernichteten Akten hätten teilweise rekonstruiert werden können, so der Ausschuss-Vorsitzende. Was der Hintergrund der Vernichtung gewesen sei, könne man aber nicht abschließend sagen. Möglich seien extreme Blödheit oder der Versuch, etwas zu vertuschen. Edathy hält es aber für wahrscheinlicher, dass es sich um Blödheit gehandelt hat.

BKA – ein Ort des Versagens

Eine Liste mit Klarnamen von Informanten, die der Verfassungsschutz aufgrund des öffentlichen Drucks nach der Aktenvernichtung dem Ausschuss vorgelegt hatte, habe ergeben, dass weder das Terrortrio noch dessen nächste Bezugspersonen beim Verfassungsschutz geführt wurden, so Edathy weiter. Er verlasse sich darauf, dass die Liste, die der Verfassungsschutz vorgelegt hat, auch vollständig sei.

Wolfgang Wieland (Grüne) fasst das Elend bei der Vorstellung des Abschlussberichtes mit drastischen Worten zusammen. Alle beteiligten Innenminister seien mehr Teil des Problems denn Teil der Lösung gewesen, der Generalbundesanwalt als Zeitungsauswerter deutlich überbezahlt. Das BKA, welches der Ort der geballten fachlichen Kompetenz sein sollte, sei in den Ermittlungen der Ort des Versagens gewesen. Wo immer es auftauchte, habe es eine negative Rolle gespielt. Polizei und Verfassungsschutz hätten zur Zeit des NSU ihren Namen nicht verdient gehabt. Ein Problem sei dabei auch die in der Bundesrepublik geltende sicherheitspolitische Doktrin gewesen, wonach Rechtsextreme immer Einzeltäter seien. Behörden, die von vornherein ausschließen, dass es eine rechtsextreme Terrorgruppe auf deutschem Boden auch nur theoretisch denkbar ist, werden in diese Richtung freilich auch nicht ermitteln.

Hinzu kommt nach Ansicht von Petra Pau (Linke) ein in Polizei und Verfassungsschutz verankerter institutioneller Rassismus, der dazu geführt hat, dass einseitig gegen die Opfer ermittelt wurde – weil sie einen Migrationshintergrund hatten.

Neue Arbeitskultur mit selbstkritischem Denken gefordert

Zu den 47 parteiübergreifenden Reformvorschlägen für die Sicherheitsbehörden gehört unter anderem, dass die Polizei bei allen Fällen von Gewaltkriminalität, bei denen es aufgrund des Opfers einen rassistischen oder politischen Hintergrund geben könnte, eine Prüfung dieses Hintergrundes stattfinden und dokumentiert werden muss. Zudem soll bei der Polizei eine neue Arbeitskultur entstehen, die selbstkritisches Denken ermöglicht. Weiterhin soll in der Aus- und Weiterbildung von Richtern, Staatsanwälten und den Bediensteten im Justizvollzug die Grundlage dafür gelegt werden, dass die Gefahr durch Rechtsextremismus künftig nicht mehr unterschätzt wird.

Im Bereich des Verfassungsschutzes sollen die Nachrichtendienste ihre Informationen auf der Basis der bestehenden Gesetze konsequent an die Strafverfolgungsbehörden weiterleiten. Zudem brauche es unkomplizierte und verständliche Regelungen zur Löschung von Daten. Weiterhin sollen sich die Verfassungsschutzbehörden einem Mentalitätswandel unterziehen – weg von der "Schlapphut-Haltung" hin zu einer Offenheit gegenüber der Gesellschaft. Die Verfassungsschützer sollten sich laufend inhaltlich mit der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft auseinandersetzen.

Doch im Bereich des Verfassungsschutzes wird auch deutlich, dass sich die Parteien doch nicht so einig sind, wie es auf den ersten Blick scheint. Denn während die Vorschläge im Abschlussbericht darauf abzielen, den Verfassungsschutz besser zu machen, fordert beispielsweise die Linkspartei dessen komplette Abschaffung.

Und auch die FDP schert ein wenig aus dem allgemeinen Lob über die Arbeit des Untersuchungsausschusses aus. Hartfrid Wolff ergänzt das Lob mit deutlicher Kritik. Es blieben nach wie vor mehr Fragen zum NSU offen, als beantwortet seien. So seien die Verbindungen in die Schweiz nicht beleuchtet worden, obwohl der NSU von dort Waffen bezogen und teilweise dort untergetaucht war. Zudem seien die Verbindungen zu dem Neonazi-Netzwerk Blood & Honour und zur "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene" (HNG) nicht behandelt worden. Wolff fordert eine bessere Kontrolle der Geheimdienste. Außerdem solle der Untersuchungsausschuss auch vom neuen Bundestag wieder eingesetzt werden. Dem widerspricht Eva Högl (SPD) kurz darauf deutlich. Aus Rücksicht auf die Angehörigen der NSU-Opfer dürfe man den Untersuchungsausschuss nicht zu einer Never-Ending-Story machen.

Die Einigkeit über die Konsequenzen aus den Untersuchungen zur NSU ist also möglicherweise doch eher oberflächlich. Ob sie bestehen bleibt, wenn es daran geht, konkrete Maßnahmen zu verabschieden, muss sich erst noch zeigen. Deutlich wird aber auch, dass die Abgeordneten in ihrer Aufklärungsarbeit an Grenzen stoßen, wenn sie es mit Behörden zu tun haben, die mitten in den Untersuchungen noch Unterlagen vernichten – ganz gleich, ob dies aus Dummheit oder Absicht geschieht.