Extremismusforschung: Blick auf einen wissenschaftlich-staatlichen Komplex
- Extremismusforschung: Blick auf einen wissenschaftlich-staatlichen Komplex
- Staat und Extremismusforschung: personelle Verflechtungen
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Verfassungsschutz und Extremismusforschung verbindet ein konzeptioneller Gleichklang. Ein historischer Abriss
Als Geburtsstunde der Extremismusforschung kann der im Jahr 1983 erschienene Artikel Extremismus und Demokratie. Anmerkungen zu einem antithetischen Begriffspaar gesehen werden. Der damals 23-jährige Politikstudent Uwe Backes und der zwölf Jahre ältere wissenschaftliche Mitarbeiter der Universität Trier, Eckhard Jesse, legten darin ihre Gedanken zum Verhältnis von Demokratie und Extremismus dar.
In den Folgejahren publizierten die beiden viel gemeinsam und geben bis heute das Jahrbuch Extremismus & Demokratie heraus. Sie gelten zu Recht als Väter der Extremismusforschung. Sie verstehen Extremismus als Antithese zu Demokratie und sprechen der Grenze zwischen beiden Kategorien eine existentielle Bedeutung für den Bestand der Demokratie zu.
Für die Definition dieser Grenze orientieren sie sich in ihrem ersten gemeinsamen Aufsatz am Verfassungsschutz: "Bei der Grenzziehung gegenüber dem politischen Extremismus bedarf es somit einer Minimaldefinition von Demokratie. Hierzu bietet sich die im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankerte ‚freiheitliche demokratische Grundordnung‘ an" (Backes/Jesse 1983, 5f.).
Ferner fordern sie, die "sozialwissenschaftliche Forschung hätte sich zweckmäßigerweise am bereits vorhandenen juristischen Sprachgebrauch orientieren können" (ebd., 8). Sie plädieren also für eine Orientierung an denselben juristischen Definitionen, wie sie auch die für Staats- und Verfassungsschutz zuständigen Behörden verwenden. Zunächst wird auch bei ihnen der Extremismusbegriff rein negativ, als Ablehnung der freiheitlich demokratischen Grundordnung definiert.
Eine profundere Basis erhält die Extremismusforschung durch die 1989 erschienene Dissertation von Backes und das dreibändige Hauptwerk von Backes und Jesse aus dem gleichen Jahr. Hier wird der Extremismusbegriff etwas allgemeiner gefasst und als Ablehnung der Grundpfeiler demokratischer Verfassungsstaaten definiert. Wird einer der Pfeiler Pluralismus, Gewaltenkontrolle oder Menschenrechte abgelehnt, gilt eine Position als extremistisch.
Durch die etwas allgemeinere Formulierung der Grenze der Demokratie kann die Extremismusforschung auch Phänomene außerhalb Deutschlands erfassen und setzt sich zumindest formal von der Definition des Verfassungsschutzes ab. In der Empirie spielen die Unterschiede zwischen freiheitlich demokratischer Grundordnung und Grundpfeilern demokratischer Verfassungsstaaten keine Rolle, da beide Definitionen hinreichend flexibel sind, um politisch erwünschte Ergebnisse zu erzielen.
Aus dieser Definition leitet die Extremismusforschung die Unterkategorien Rechts- und Linksextremismus ab. Beide werden zweistufig definiert. Notwendiger und gemeinsamer Bestandteil ist, dass mindestens eine der Grundlagen demokratischer Verfassungsstaaten abgelehnt wird. Erst dann gilt eine Position als extremistisch. Nun wird in einem zweiten Schritt in Rechts- und Linksextremismus unterschieden. Rechtsextremismus zeichnet sich durch eine Ablehnung der Gleichheit aus, Linksextremismus durch ein Streben nach maximaler Gleichheit. Diese Zweistufigkeit wird in der Definition von Backes deutlich: Rechtsextremismus setzt sich zusammen aus:
"1. [der] Menge der Definitionsmerkmale, die das betreffende Phänomen als ‹extremistisch› im Sinne der Negation unverzichtbarer Werte, Verfahrensregeln und Institutionen demokratischer Verfassungsstaaten ausweisen;
2. [der] Ablehnung des Ethos fundamentaler Menschengleichheit zur Unterscheidung jener Extremismen, die im Sinne eines radikalen Antiegalitarismus als ‹rechts› zu qualifizieren sind." (Backes 2003, 49).
Ähnlich wie Backes schreibt das Bundesamt für Verfassungsschutz, eine rechtsextreme Gesellschaftsvorstellung würde "zentrale Werte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung missachten". Und weiter: "Rechtsextremistische Agitation ist geprägt von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, Antisemitismus und Geschichtsrevisionismus sowie einer grundsätzlichen Demokratiefeindschaft."
Auch hier wird die Zweistufigkeit der Definition deutlich. Bezüglich Linksextremismus schlagen Verfassungsschutz und Extremismusforschung ebenfalls eine ähnliche, zweistufige Definition vor. Die Definitionen grundlegender Kategorien decken sich also bei Verfassungsschutz und Extremismusforschung weitgehend. In der historischen Rückschau wird deutlich, dass sich die Extremismusforschung dabei an den bereits bestehenden Setzungen der Sicherheitsbehörden orientierte.
Freilich würden Extremismusforscher:innen den Vorwurf, sie seien nur die wissenschaftliche Zweigstelle der Sicherheitsbehörden, deutlich zurückweisen. Sie arbeiten zweifellos formal unabhängig von diesen Behörden, verwenden aber definitorische Grundlagen, die bis auf Nuancen jenen der Sicherheitsbehörden gleichen.
Damit stabilisiert die Extremismusforschung das Vorgehen der Sicherheitsbehörden, die sich wiederum auf die wissenschaftliche Fundierung ihres Agierens berufen können. Folglich ist es im Interesse der Sicherheitsbehörden, diesen politikwissenschaftlichen Ansatz besonders zu fördern. Dies wird durch die institutionellen Verflechtungen deutlich.
Staat und Extremismusforschung: institutionelle Verflechtungen
Auf der Ebene der Publikationsförderung ist die Zusammenarbeit von Extremismusforschung und staatlichen Behörden relativ einfach nachzuvollziehen. Der bereits erwähnte Aufsatz von Backes und Jesse erschien 1983 in der Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte. Die Zeitschrift wird von der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) herausgegeben, die ebenso wie das Bundesamt für Verfassungsschutz eine dem Innenministerium untergeordnete Behörde ist.
Das dreibändige Hauptwerk von Backes und Jesse ist ebenfalls von der BpB herausgegeben und viermal aufgelegt worden. Alleine von Jesse wurden 21 Publikationen von der Bundeszentrale oder einer der Landeszentralen für politische Bildung herausgegeben. Artikel und Beiträge in Sammelbänden sind dabei nicht berücksichtigt.
Man kann davon ausgehen, dass Lehrkräfte und politische Bildner:innen, die in den 1990er-Jahren Bildungsmaterialien zu Demokratie und Gefahren für die Demokratie suchten, früher oder später auf die Extremismusforschung stießen. Erst in Folge des Regierungswechsels 1998 wird die Publikationslandschaft der BpB, in der sich von nun an auch vereinzelt kritische Stimmen zum Extremismuskonzept wiederfinden, pluraler. Doch bis heute sind die einschlägigen Publikationen der BpB dominiert von Jesse und Backes bzw. ihren Schüler:innen.
Weniger ersichtlich ist die staatliche Förderung des Jahrbuchs Extremismus & Demokratie. Das Jahrbuch erscheint seit 1989 und wird von Backes und Jesse herausgegeben. Seit wenigen Jahren ergänzen Alexander Gallus und Tom Thieme das Herausgeberteam. Im Jahrbuch publizieren in erster Linie Schüler:innen der Herausgeber, aber auch Mitarbeiter:innen von Ministerien, Behörden, politischen Stiftungen oder Parteien.
Die meisten Beiträge orientieren sich an den Definitionen der Extremismusforschung und beschreiben Phänomene, die diesen Definitionen zufolge dem politischen Extremismus zuzuordnen sind. Bereits 1993 beschrieb der Politikwissenschaftler Wolf-Dieter Narr die Jahrbücher als eine "wissenschaftlich angestrichene Verdoppelung dessen, was man ohnehin weiß, wenn man die Berichte der Verfassungsschutzämter, ‚Innere Sicherheit‘ und ähnliche Organe regelmäßig zur Kenntnis nimmt".
Daneben erfuhren die Jahrbücher großzügige finanzielle Unterstützung, indem das Innenministerium über mehrere Jahre hinweg bis zu 1000 Exemplare des Jahrbuchs aufkaufte und "die Abgabe an einen Verteiler aus Wissenschaft, politischer Bildung, Medien und Administration veranlasste", wie aus einer kleinen Anfrage im Bundestag hervorging.
Der Personenkreis, der im Jahrbuch veröffentlicht, trifft sich seit 1990 regelmäßig als sogenannter Veldensteiner Kreis, dem Backes und Jesse lange vorsaßen. Einige der Treffen fanden mit finanzieller Unterstützung der Bayrischen Landeszentrale für politische Bildung statt (Bayrischer Landtag 2012). In einer älteren Selbstdarstellung des Kreises wurden die Referent:innen wie folgt beschrieben:1
Nicht wenige der Genannten sind Mitarbeiter von staatlichen Institutionen wie dem Bundesamt für Verfassungsschutz oder einzelnen Landesbehörden, der Gauck- bzw. Birthler-Behörde und verschiedenen Bundes- bzw. Landeszentralen für politische Bildung. Ihre Publikationen gelten meist als Standardwerke an Schulen und freien Bildungsträgern. Häufig sind die Mitglieder der Diskussionsrunde gleichzeitig auch Autoren des von Uwe Backes (Technische Universität Dresden) und Eckhard Jesse (Technische Universität Chemnitz) herausgegebenen Jahrbuch Extremismus & Demokratie.
linkfang.org 2020
Die Zentralen für politische Bildung, das Jahrbuch Extremismus & Demokratie sowie der Veldensteiner Kreis sind Plattformen für Austausch und Netzwerke zwischen Extremismusforschung und staatlichen Einrichtungen; finanziell unterstützt durch öffentliche Mittel. Eine weitere Möglichkeit der Förderung staatlicherseits ist die Vergabe von Forschungsaufträgen. Systematisch zu erfassen, wie viele Gelder auf diesem Weg von Behörden und Ministerien an Vertreter*innen der Extremismusforschung geflossen sind, steht bislang noch aus.