Fähigkeitslücke oder Täuschungsmanöver? Die Wahrheit über US-Raketen in Deutschland
USA planen ab 2026 neue Mittelstreckenwaffen in Deutschland. Begründung: Fähigkeitslücke gegenüber Russland. Jetzt formiert sich Widerstand.
Immer wenn im Westen von Fähigkeits- oder Raketenlücken gesprochen wird, ist allergrößte Vorsicht geboten. Nur allzu oft stellten sich Behauptungen über die Hochrüstung erklärter Gegner als glatte Lüge oder zumindest als grobe Übertreibungen heraus, um die eigenen Rüstungsbestrebungen zusätzlich zu befeuern.
So auch im jüngsten Fall, der geplanten Stationierung von US-Mittelstreckwaffen in Deutschland, deren katastrophalen Folgen sich schon jetzt immer deutlicher abzeichnen. Umso wichtiger ist es, dass sich allmählich unter anderem mit der Kampagne "Friedensfähig statt erstschlagfähig!" auch der Widerstand dagegen formiert.
Fähigkeitslücke …
Auffällig ist zunächst, wie dünn die gerade einmal vier läppischen Sätze daherkommen, mit denen eine deutsch-amerikanische Erklärung vom 10. Juli 2024 das Vorhaben angekündigte, ab 2026 diverse US-Mittelstreckensysteme hierzulande für die "Abschreckung" zu stationieren.
Die Vereinigten Staaten von Amerika werden, beginnend 2026, als Teil der Planung zu deren künftiger dauerhafter Stationierung, zeitweilig weitreichende Waffensysteme ihrer Multi-Domain Task Force in Deutschland stationieren. Diese konventionellen Einheiten werden bei voller Entwicklung SM-6, Tomahawks und derzeit in Entwicklung befindliche hypersonische Waffen umfassen. Diese werden über deutlich größere Reichweite als die derzeitigen landgestützten Systeme in Europa verfügen. Die Beübung dieser fortgeschrittenen Fähigkeiten verdeutlichen die Verpflichtung der Vereinigten Staaten von Amerika zur NATO sowie ihren Beitrag zur integrierten europäischen Abschreckung.
Gemeinsame Erklärung der Regierungen der Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland zur Stationierung weitreichender Waffensysteme in Deutschland
Eine nicht viel ausführlichere Begründung lieferte Verteidigungsminister Boris Pistorius nahezu parallel dazu mit folgenden Worten ab: "Wir reden hier über eine durchaus ernst zu nehmende Fähigkeitslücke in Europa."
Fast zehn Tage später schoben dann die Parlamentarischen Staatssekretäre Siemtje Möller (Verteidigung) und Tobias Lindner (Auswärtiges Amt) in einem Schreiben an den Außen- und Verteidigungsausschuss des Bundestages eine etwas ausführlichere Begründung nach:
Russland hat in den vergangenen Jahren massiv im Bereich weitreichender Raketen und Marschflugkörper aufgerüstet. […] Wir beobachten, dass Art und Umfang der massiven russischen Aufrüstung auch über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine hinaus zur Aufstellung und Stärkung von gegen den Westen gerichteten Fähigkeiten und Kapazitäten genutzt werden.
Siemtje Möller/Tobias Lindner, Spiegel Online, 19.7.2024
Viel kam danach nicht mehr, im Wesentlichen ist es bei dieser knappen Argumentation geblieben, die viele Experten aus guten Gründen für wenig überzeugend halten. Die wohl lauteste kritische Stimme ist Oberst a.D. Wolfgang Richter, der als früherer Abteilungsleiter beim Zentrum für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr wissen dürfte, wovon er da spricht.
Zuerst in einer ausführlichen Studie für die Friedrich-Ebert-Stiftung und später in einem Buchbeitrag für den von Johannes Varwick herausgegebenen Sammelband "Die Debatte um US-Mittelstrecken in Deutschland" kam er zu der Schlussfolgerung:
Die Behauptung einer so genannten Fähigkeitslücke als Begründung für eine Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen ist nicht nachvollziehbar.
Wolfgang Richter, Oberst a.D.
Stationierungsbefürworter wie der Wissenschaftler Jonas Schneider und Bundeswehr-Oberst Torben Arnold begründen in einem Papier für die regierungsberatende "Stiftung Wissenschaft und Politik" ihre Position folgendermaßen:
Moskau verfügt über den Marschflugkörper SSC-8 (Zahl im hohen zweistelligen Bereich), der den INF-Vertrag 2019 zu Fall brachte, seit 2023 über die Raketen Zolfaghar aus Iran (rund 400 Stück) und KN-23 aus Nordkorea (etwa 50 Stück). Die seegestützten Hyperschall-Marschflugkörper Zirkon (Zahl im hohen zweistelligen Bereich) verschießt Russland seit 2024 auch von Land aus. Von seiner ballistischen Iskander-Version SS-26 müsste Moskau trotz ihres Einsatzes gegen die Ukraine noch deutlich über 100 Stück haben (Fachleute betrachten die SS-26 als Mittelstreckenwaffe.) Die Bilanz: Russland besitzt weit über 500 bodengestützte Mittelstreckenflugkörper, die Nato in Europa bislang keinen einzigen.
Jonas Schneider/Torben Arnold, SWP-Aktuell, Nr. 36/2024
Selbst wenn man diese – womöglich deutlich zu hoch gegriffene – Zahl für bare Münze nehmen sollte, wird allerdings noch lange kein Rüstungsschuh daraus. Wolfgang Richter und andere weisen darauf hin, dass Russland zwar tatsächlich über deutlich mehr landgestützte Kurz- und womöglich auch Mittelstreckenwaffen verfügt als die NATO, dies aber durch deren Überlegenheit bei see- und luftgestützten Waffensystemen mehr als wettgemacht werde. So etwa Ulrich Kühn vom Forschungsbereich "Rüstungskontrolle und Neue Technologien" am "Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik" Hamburg:
Es stimmt, dass Europa bisher nicht über bodengestützte Abstandswaffen in diesem Spektrum verfügt. Allerdings verfügen Nato-Staaten über luft- und seegestützte Mittelstreckenraketen, weshalb keine generelle Fähigkeitslücke besteht.
Ulrich Kühn, ISFH, Neues Deutschland, 30.8.2024
Konkret spricht Wolfgang Richter in seinem Buchbeitrag davon, "mehr als 3.000 solcher Wirkmittel" befänden sich in Europa im Bestand von NATO-Staaten (die gesamten westlichen Arsenale liegen noch einmal deutlich höher).
… oder Angriffswaffen
Von einer russischen Überlegenheit kann also keine Rede sein, eine Fähigkeitslücke existiert nicht, es sei denn, man will unbedingt die speziellen Eigenschaften landgestützter Waffensysteme nutzen.
See- und luftgestützte Waffen benötigen länger, um ihr Ziel zu erreichen, es bleibt Zeit für die Lagefeststellung und für einen etwaigen Gegenschlag, sie sind damit per se nur bedingt offensiv für Überraschungsangriffe auf strategische Ziele (Radaranlagen, Raketensilos, Kommandozentralen …) geeignet – ganz im Gegenteil zu den ultraschnellen und hochmobilen landgestützten Systemen, die nun in Deutschland stationiert werden sollen.
Wie Wolfgang Richter in seinem Buchbeitrag kritisiert, lassen die Pläne kaum einen anderen Schluss zu: "Dafür gibt es jedoch nur ein operativ logisches Szenario: Die NATO schießt zuerst."
Und genau in dieser Kritik erblicken Stationierungsbefürworter wie die bereits zitierten Jonas Schneider und Torben Arnold den "Wert" dieser Waffen:
Marschflugkörper, die von Flugzeugen abgefeuert werden, müssen zuerst in die Luft gebracht werden, wodurch wertvolle Zeit verlorengeht. […] Verfügbare seegestützte Marschflugkörper haben entweder zu kurze Reichweiten oder sind wegen ihrer eher geringen Geschwindigkeit zu lange unterwegs für zeitkritische Ziele im russischen Kernland. […] Nicht nur die LRHW, auch die SM 6-Version der Army fliegen mit über fünffacher Schallgeschwindigkeit und sind im Zielanflug manövrierbar. Daher sind sie hocheffektiv gegen mobile Ziele und sehr schwer abzufangen, selbst für moderne Raketenabwehr. Die Dark Eagle ist mit bis zu 17- facher Schallgeschwindigkeit kaum zu stoppen. Mit dieser hohen Eindringfähigkeit sind beide Waffen ideal, um auch solche russischen Hochwertziele auszuschalten, die gezielt geschützt werden.
Jonas Schneider/Torben Arnold, SWP- Aktuell, Nr. 36/2024
Noch deutlicher wurde ihre Kollegin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, Claudia Major, die in einem viel zitierten Beitrag bereits im Sommer 2024 folgende Sätze zum Besten gab:
Die Tomahawks sollen bis zu 2.500 Kilometer weit fliegen können, könnten also Ziele in Russland treffen. Und ja, genau darum geht es. […] So hart es klingt. Im Ernstfall müssen NATO-Staaten auch selbst angreifen können, zum Beispiel, um russische Raketenfähigkeiten zu vernichten, bevor diese NATO-Gebiet angreifen können, und um russische Militärziele zu zerstören, wie Kommandozentralen.
Claudia Major, Stiftung Wissenschaft und Politik, Handelsblatt, 19.07.2024
Risiken und Nebenwirkungen
Die katastrophalen Folgen der Stationierungspläne sind schon heute offensichtlich. All das wäre unmöglich gewesen, hätten die USA nicht im Februar 2019 unter zumindest zweifelhaften Anschuldigungen, den INF-Vertrag gekündigt, der u. a. Produktion, Besitz und Stationierung landgestützter Kurz- und Mittelstreckenaffen mit Reichweiten zwischen 500 km und 5.500 km verbot.
Auch der anschließende russische Vorschlag für ein beiderseitiges Moratorium wurde abgelehnt und umgehend schon lange ausgearbeitete US-Pläne zur Entwicklung neuer Waffensysteme aus der Schublade geholt.
Dennoch hielt sich Russland aus seiner Sicht lange an das Moratorium: Im Prinzip hatte sich dieses Moratorium aber mit dem mit einer russischen Mittelstreckenrakete ("Oreshnik") am 21. November 2024 erfolgten Angriff auf Ziele in der Ukraine erledigt – auch wenn Russland die Angriffe zynisch noch als "Live-Test" bezeichnete. Gleichzeitig wurde die umfassende Produktion und gegebenenfalls Stationierung dieser und anderer Mittelstreckenwaffen angekündigt, sollte der Westen nicht von seinen Plänen abrücken.
Wir entwickeln Mittelstrecken- und Kurzstreckenraketen als Antwort auf die Pläne der Vereinigten Staaten, Mittelstrecken- und Kurzstreckenraketen in Europa und im asiatisch-pazifischen Raum zu produzieren und zu stationieren. […] Ich möchte Sie daran erinnern, dass Russland sich freiwillig und einseitig verpflichtet hat, keine Mittelstrecken- und Kurzstreckenraketen zu stationieren, solange amerikanische Waffen dieser Art in keiner Region der Welt auftauchen. […] Die Frage der weiteren Stationierung von Raketen mittlerer und kürzerer Reichweite wird von uns in Abhängigkeit von den Aktionen der Vereinigten Staaten und ihrer Satelliten entschieden werden.
(Wladimir Putin, 21.11.2024
Vor wenigen Tagen wurde das Moratorium dann durch den russischen Außenminister Sergej Lawrow auch offiziell faktisch aufgekündigt:
Heute ist klar, dass zum Beispiel unser Moratorium für die Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen praktisch nicht mehr umsetzbar ist und aufgegeben werden muss. Die USA haben die Warnungen Russlands und Chinas arrogant ignoriert und sind in der Praxis dazu übergegangen, Waffen dieser Klasse in verschiedenen Regionen der Welt zu stationieren.
Sergej Lawrow, Die Welt, 30.12.2024
So gefährlich diese Entwicklung ist, überraschen kann sie nicht, und Experten wie Wolfgang Richter haben schon unmittelbar nach der deutsch-amerikanischen Ankündigung ihrer Stationierungsabsichten genau davor gewarnt:
Im Unterschied zum Doppelbeschluss von 1979 enthält die bilaterale Stationierungsentscheidung keinen Ansatz für eine rüstungskontrollpolitische Einhegung der Eskalationsgefahren und des nun wahrscheinlichen Stationierungswettlaufs mit Russland. Das russische Angebot eines Moratoriums für die Stationierung von landgestützten Langstreckenwaffen im INF-Spektrum dürfte sich damit erledigt haben, zumal Moskau bereits Gegenmaßnahmen angekündigt hat.
Wolfgang Richer
Genauso wurde früh davor gewarnt, Russland werde sich gezwungen sehen, etwaige Pläne zur Stationierung landgestützter Mittelstreckenwaffen mit einer Absenkung seiner nuklearen Einsatzschwelle zu kontern – und auch dies ist mit der neuen russischen Nukleardoktrin geschehen, die am 19. November 2024 in Kraft gesetzt wurde:
Diese Veränderung läuft auf eine erhebliche Absenkung der Schwelle für einen atomaren Ersteinsatz in einem bis dahin konventionellen Krieg und damit auf eine Erhöhung des Risikos einer unkontrollierbaren atomaren Eskalation hinaus.
Rainer Böhme und Wolfgang Schwarz, Das Blättchen, 2.12.2024
Im Februar 2026 läuft außerdem der letzte große russisch-amerikanische Rüstungskontrollvertrag ("New Start") aus. Er verpflichtet beide Seiten, Obergrenzen der strategischen Waffen mit interkontinentaler Reichweite einzuhalten, sowohl was die nuklearen Sprengköpfe (1.550) als auch die Trägersysteme (800) anbelangt.
Bleibt es bei der Stationierungsentscheidung, dürften die ohnehin geringen Aussichten auf eine Verlängerung gegen null sinken. Die Kontrahenten haben aktuell zusätzlich noch tausende Sprengköpfe eingelagert, die binnen Monaten montiert werden könnten. Auch mit der Produktion neuer Sprengköpfe wäre zu rechnen – und ebenso damit, dass dann andere Atomwaffenstaaten ihre Arsenale ebenfalls noch weiter ausbauen würden.
Kampagne formiert sich
Allein diese unvollständige Aufzählung einiger der katastrophalen Auswirkungen der Stationierungspläne sollte als Motivation ausreichen, sich gegen diese Waffensysteme zu engagieren.
Am 3. Oktober 2024 wurde hierfür der Berliner Appell "Gegen neue Mittelstreckenwaffen und für eine friedliche Welt" bei der Friedensdemonstration in Berlin gestartet. Er wurde bislang von über 26.500 Menschen unterzeichnet, was hier möglich ist. Im November 2024 wurde darüber hinaus die Kampagne "Friedensfähig statt erstschlagfähig!" ins Leben gerufen, der sich mittlerweile über 40 zivilgesellschaftlichen Gruppen angeschlossen haben.
Ziel der Kampagne ‚Friedensfähig statt erstschlagfähig: Für ein Europa ohne Mittelstreckenwaffen!‘ ist es, möglichst breite und bundesweite Proteste gegen die geplante Stationierung landgestützter US-Marschflugkörper, Hyperschallwaffen und Raketen in Deutschland zu bündeln. Wir wollen über die Risiken und Gefahren der Stationierung aufklären und so die dringend nötige Debatte lostreten, vor der sich der Bundeskanzler seit der Ankündigung der Stationierung im Juli 2024 drückt.
Damit dies gelingt und die Kampagne Fahrt aufnimmt, werden auch weitere Gruppen gesucht, die sich ihr anschließen. Eine Mehrheit der Bevölkerung spricht sich jetzt schon gegen die Stationierungspläne aus, es besteht also die Aussicht, zahlreiche Menschen hinter den Forderungen zu versammeln, die sich auf der Internetseite der Kampagne "Friedensfähig statt erstschlagfähig!" finden lassen:
- Stopp der geplanten Stationierung neuer US-Mittelstreckensysteme in Deutschland
- Abbruch der Projekte zur Entwicklung eigener europäischer Hyperschallwaffen und Marschflugkörper, an denen Deutschland sich beteiligen will
- Neue Initiativen für gemeinsame Sicherheit und Zusammenarbeit und die langfristige Vision einer neuen Friedensordnung in Europa
- Dialog statt Aufrüstung: Wiederaufnahme von Verhandlungen über Rüstungskontrolle und (nukleare) Abrüstung (z.B. für ein multilaterales Folgeabkommen zum INF-Vertrag)