Faktisch richtig. Moralisch nicht rechtens

Was der Papst in Regensburg tatsächlich gesagt hat

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„Kein Zwang im Glauben“. Es ist wohl die am meisten zitierte Koransure. Auch der Papst bezog sich in seiner umstrittenen Regensburger Rede im vergangenen Jahr auf sie. Doch was hat es tatsächlich mit der Sure auf sich? Und welchem Zweck diente ihr Herbeizitieren Papst Benedikt XVI?

Die Empörung auf muslimischer wie nicht-muslimischer Seite nach der Rede von Papst Benedikt XVI am 12. September 2006 war groß. Darin hatte dieser die Aussagen des oströmischen Kaisers Manuel II Palaiologos (1391 – 1425) über die Gewalt im muslimischen Glauben zitiert: „Zeige mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat und da wirst du, so sagt er, nur Schlechtes und Inhumanes finden. Wie dies, dass er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten.“ Zwar gäbe es die berühmte Koransure 2, 256, die besagt, dass es „keinen Zwang im Glauben“ gibt – doch, so Benedikt, „es ist wohl eine der frühen Suren aus der Zeit, wie uns ein Teil der Kenner sagt, in der Mohammed selbst noch machtlos und bedroht war.“

Diese letztere Aussage des Papstes untersuchte Patricia Crone, Islamwissenschaftlerin am Institute for Advanced Studies, Princeton. Ihr Fazit: faktisch liegt der Papst richtig. Er hat sich allerdings – und das ist bemerkenswert - eine der frühesten, zur Sure vorliegenden Deutungen herausgepickt.

Papst zitiert die Deutung, die die Sure für überholt erklärt

Die „Kenner“, auf die sich der Papst berief, lebten in der Zeit bis zum 10. Jahrhundert – in einem auf Religion basierendem Gemeinwesen. Die Idee von Religion als Privatsache schloss dies per se aus, denn so Crone in ihrem kürzlich in Freiburg gehaltenen Vortrag:

You obviously can’t have religious freedom in a community based on religion. You can’t have freedom in a church. All you can have is freedom to leave the church, if you don’t agree with it. But in a society based on shared religion you can’t easily have that freedom either unless you remove yourself physically, to go to live somewhere else.

Die Sure stellte für die Exegeten demnach einen Widerspruch dar, den sie in drei Varianten zu lösen suchten.

Die erste Deutung lautet: die Sure stammt aus mekkanischer Zeit. Mohammed war damals noch nicht „der Mohammed“ – Gott habe ihm daher gesagt, dass er Nicht-Muslime weder zum Islam zwangsbekehren könne noch solle (womit wir bei der Deutung wären, auf die sich Benedikt XVI stützte). Doch mit Errichtung der ersten muslimischen Gemeinschaft in Medina und der Ausbreitung des Islam habe Gott den Befehl zum Dschihad gegen die Ungläubigen erteilt. Die in Koransure 2, 256 festgehaltene Offenbarung galt den damaligen Exegeten somit als überholt. Zwar steht sie im Koran, doch das tun alle Offenbarungen Gottes – was wiederum impliziert, dass der Koran nicht zuletzt als entwicklungsgeschichtliches Zeugnis rezipiert werden darf.

Zwei spätere Sureninterpretationen

Schon damals aber waren die Meinungen geteilt. Gerade dem Aspekt historisch bedingter Veränderlichkeit des göttlichen Wortes widersetzte sich die zweite Deutung, die die Sure der Zeit in Medina und dort einem einmaligen Ereignis zuordnet: die Kinder vieler Bewohner Medinas waren jüdisch oder christlich erzogen worden. Nach Mohammeds Einzug wollten die Eltern die Konversion ihrer (mittlerweile erwachsenen) Kinder erzwingen – doch Gott verbot dies: „Kein Zwang im Glauben“.

Auch die dritte Deutung siedelt die Surenentstehung in Medina an und bezieht sie dezidiert auf die Dhimmis, d.h. die Juden und Christen, die nicht zwangsbekehrt werden dürfen, hier allerdings ohne zeitliche Begrenzung.

Von einer auch für die Muslime selbst geltenden Religionsfreiheit ist jedoch nirgends die Rede. Zugleich schreiben alle drei Deutungen, so Crone, der Sure gesetzliche Normativität zu. Erst das 9. Jahrhundert habe eine Verschichtung von der Juristik zur Theologie evoziert. Nun hieß es, dass Gott von seiner Allmacht abließ, um dem Menschen freie Wahl zu lassen. ER würde also keinen Zwang ausüben. Eine Welt der Freiheit tat sich in dieser von den sogenannten Mu’taziliten vorgenommenen Interpretation auf. Jedenfalls beinahe. Denn die Idee von Gottes Überlegenheit gegenüber dem Menschen übertrugen sie eins zu eins: ER übt keinen Zwang aus. Der Mensch tut es sehr wohl. Handelt der demnach Gott zuwider?

Auf ihrer Suche nach der Lösung des Widerspruchs zwischen einem politischen Gemeinwesen auf Religionsbasis und Gottes Zusicherung von Religionsfreiheit stießen sie zu folgender Interpretation vor: die Sure besage generell, dass niemand einen Menschen zum Glauben zwingen könne. Gott tut es nicht und der Mensch – könne es nicht. Innerer Zwang funktioniere einfach nicht. Äußerlicher hingegen schon.

Zwang unter Menschen

Denn das Äußere, das „embodied social being“, wie Crone formuliert, müsse sich in Normen einfinden. Das gelte auch für nicht-muslimische Gesellschaften und bis in die Moderne hinein. Für die muslimische Gesellschaft des 9./10. Jahrhunderts hieß die Norm: Unser Gemeinwesen basiert auf Religion, wir alle sitzen in diesem Boot und dürfen es nicht zum Kentern bringen. Norm bedeutet per se Zwang. In der Idee aber, dass sich dieser auf das Äußere beschränkt, die Seele aber nie bezwingt – in dieser Idee lag der Hinterausgang.

Von hier aus springt Crone in die Moderne, zu den Tiefgläubigen des 20. Jahrhunderts, die sich mit einer neuen Norm konfrontiert sahen: dem „Säkularismus“. Etwa Sayyid Qutb, der Begründer der ägyptischen Muslimbrüderschaft. Qutb wurde 1966 hingerichtet, Ägypten wurde damals von Gamal Abdel-Nasser, dem Verfechter einer arabischen säkularen „Umma“ regiert. Qutb hatte Zeit seines Lebens gegen diese Zwangsbekehrung der Muslime argumentiert. Religionsfreiheit, so Qutbs einflussreiche, im Gefängnis verfasste Exegese, bedeute die Freiheit der Muslime, ihren Glauben zu leben. Und mehr: Wahre Religionsfreiheit gäbe es nur unter islamischer Führung, denn nur diese lasse das Ausleben von Religion zu. Die Islamisten der Moderne schlossen dabei – im Großen und Ganzen – die Dhimmis ein, mit denen sie Juden und Christen meinten. Manche verstanden alle Anhänger monotheistischer Religionen als Dhimmis, denn, so Crone: ihr wirkliches Feindbild hieß Atheismus. Religiöse Freiheit umfasst demnach nicht die Freiheit, keine Religion zu haben – und damit in Amoralität zu verfallen.

Darf also der Muslim, der von seinem Glauben abfiel, zwangsbekehrt werden? Schwierig. Und die zunehmende Dominanz Europas mit seinem säkularen Weltbild machte die Sache nicht leichter. Entsprechend unklar fallen die Antworten der modernen Exegeten aus. Dem Bestreben, die Toleranz des Islam zu betonen – und über eine solche verfügt er unbestritten, wie seine jahrhundertealte Toleranzgeschichte belegt –, steht der Widerwille entgegen, vom Prinzip der Religionsfreiheit im Angesicht des übermächtigen Säkularismus abzulassen. Wolle man einen Querschnitt aus ihren heutigen Antworten ziehen, komme man, so Crone, zu dem Schluss:

Conversion is unnecessary, impossible, forbidden, required, a good thing, and highly commendable.

Verwirrungen und Verstrickungen

Verwirrend fiel ihr zufolge auch die Erwiderung der 38 muslimischen Gelehrten auf die Regensburger Papstrede aus: „Kein Zwang im Glauben“ stamme keineswegs aus mekkanischer Zeit, sondern, im Gegenteil, aus der Periode, da der Islam auf dem Weg zur Expansion gewesen sei. Auch laute die Kernaussage der Sure: Einen Menschen innerlich zum Glauben zwingen zu wollen, ist unmöglich. Diese Stellungnahme sei insofern nicht korrekt, als jene frühe Deutung, die der Papst heranzog, tatsächlich existierte. Zugleich ist unbestreitbar, dass diese über die Jahrhunderte von anderen Deutungen revidiert wurde.

Von diesem Interpretationsdschungel überdeckt blieben aber, wie Crone schlussfolgert, die Antworten auf die Fragen nach säkularer Staatsordnung und der Vertretbarkeit „äußerer“ Unterwerfung.

Warum wählte der Papst die früheste Deutung?

So weit, so gut die äußerst fundierte Islamkritik Crones. Was sie jedoch nicht beantwortet – und was auch nicht ihr Anspruch war – ist die Frage, warum der Papst in der heutigen aufgehetzten Zeit ausgerechnet die erste Deutung herangezogen und sie mit dem Zitat von der Verbreitung des Islam durch das Schwert aufgerundet hat? Zufälligkeit, gar Unkenntnis sind bei dem viel belesenen Benedikt XVI zweifelsfrei auszuschließen.

Für westliche Friedensforscher wie Werner Ruf oder den bedeutenden libanesischen Politologen Joseph Samaha fällt die Antwort eindeutig aus. Der Papst habe bewusst jenes Konstrukt untermauert, um dessen Festzementierung sich westliche rechtsgerichtete Meinungsbildner wie Samuel Huntington, Bernhard-Henri Lévi, Alain Finkelkraut, André Glucksmann oder die fundamentalistischen Evangelikalen in den USA seit Langem bemühen: Die Bedrohung des Abendlandes durch den Islam.

In seiner Analyse, die im August 2007 in der von der Rosa-Luxemburg-Stiftung herausgegebenen Schrift rls standpunkte erschien, dreht Ruf den Anklage-Spieß zunächst um: Weshalb suche der Papst nach Beispielen im Islam, um den Zusammenhang von Religion und Gewalt darzulegen? „Fällt (ihm) nicht ein, dass zeitgleich mit dem 1. Kreuzzug in Europa die ersten groß angelegten Progrome gegen Juden stattfanden?“

„Weiß er“, der als Kardinal Ratzinger lange Jahre der vatikanischen Glaubenskongregation vorsaß, die wiederum die Nachfolgerin der Inquisitionskommission ist, „etwa nichts von den Hexenprozessen, den zigtausend Frauen, die außerehelich schwanger wurden, öffentlich gedemütigt, gequält oder zum Selbstmord getrieben wurden?“ Und „wie kann dieser oberste Vertreter der Kirche sich auf Vernunft und Aufklärung berufen, wo doch gerade diese Kirche die Schriften eines Immanuel Kant und anderer Aufklärer auf den Index, die Liste der verbotenen Bücher, gesetzt hat?“

Stattdessen reklamiere dieselbe Kirche mittlerweile Aufklärung, Freiheit und Menschenrechte für sich und bringe, wie in Regensburg geschehen, den Islam mit Inhumanität und die Koransure 2, 256 mit der Zeit in Verbindung, da Mohammed viel zu machtlos war, um – quasi sein wahres „inhumanes“ Gesicht zu zeigen.

Deckmantel für den Krieg gegen den „Islamofschismus“

Benedikts Rede mache somit auch die von den westlichen Medien angestrengten Differenzierungen zwischen „dem Islam“ und „islamischen Terroristen“ zunichte. Zwar handelt es sich für Ruf ohnedies um unzureichende Differenzierungen, da sie Individuen gleichsetzende Charakteristika oktroyieren. Zumindest aber sei dergestalt versucht worden, nicht die Weltreligion an sich zu diffamieren. In Regensburg aber habe der Papst klargemacht, von wem die Bedrohung ausgehe – von dem Islam. Dass es sich dabei um eine Religion mit komplexer Vergangenheit, zwei großen Glaubensrichtungen, von denen allein eine vier Rechtsschulen aufweise, diversen regionalen Ausprägungen und zahllosen Formen von „Volksislam“ handle, sei offenbar irrelevant.

Auch für den libanesischen Linksintellektuellen Joseph Samaha bestand kein Zweifel an den Motiven des Papstes. In seinem Leitartikel zur Rede bemühte der Gründer der Tageszeitung „Al-Akhbar“ nicht das Religionshistorische, sondern konzentrierte sich auf das Jetzt. Seine Fragen: Warum hat der oberste Theologe des Vatikans nicht den nötigen zeitlichen Abstand zu den von ihm herangezogenen jahrhundertealten Aussagen eingenommen? Vor allem: Warum hat er das, was er gesagt hat, in dieser Zeit gesagt? In einer Zeit, in der der Kalte Krieg beendet und das kommunistische Feindbild entschwunden ist. In einer Zeit, in der sich US-Präsident George W. Bush zum Krieger gegen einen gallertartigen Feind namens „Terrorismus“ aufschwingt. Ein Feind, der deshalb so gallertartig ist, weil er aus seiner arabischen wie islamischen Geschichte und seinen Beweggründen „herausgeschält“ wurde, mit dem Zweck, aus ihm eine „ideologische Krankheit“ zu machen.

Die Krankheit wurde „Islamofaschismus“ genannt und Ussama Bin Laden als ihr Virus ausgewiesen. Die daraus erwachsene Kenntnis laute: „Wir“, der Westen, müssen uns zusammenschließen, um „unsere“ freiheitlichen Werte zu verteidigen und „deren“ faschistoide Werte zu ändern. Wäre Benedikt XVI dem Beispiel des entschieden gegen die Irak-Invasion protestierenden Johannes Paul II gefolgt, wäre die Zuspitzung etwas weniger dramatisch. Mit seiner Rede aber habe der oberste Vertreter der katholischen Kirche der Bushistischen Ideologie den kulturellen und moralischen Deckmantel geliefert. Wenig ist das nicht, so Samaha.