Faszination Watson

Wird die Cloud Denken und Handeln bestimmen? Teil 1

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Im vergangenen Jahr 2010 hieß die Frage des Jahres: "Wie verändert das Internet unser Denken?" Weltweit wurden die Konsequenzen der faszinierenden Tatsache diskutiert, dass Informationen heute fast an jedem Ort wenigstens der westlichen Welt im Überfluss zur Verfügung stehen. Obwohl schon 2010 das Wort Cloud sich zum Internet-Modewort entwickelte fragte sich aber noch niemand, welche Konsequenzen sich wohl aus dem qualitativen Sprung vom Netz zur Wolke für das Denken ergeben werden. Darum soll es in dieser Serie gehen. Denn nicht nur - und nicht einmal in erster Linie - wird unser Denken durch das sich wandelnde und zur Cloud verdichtende Web weiter verändert. Vielmehr wird unsere Art, Entscheidungen zu treffen und damit unsere Fähigkeit, zu handeln, durch die Cloud nachhaltig beeinflusst werden. Vielleicht werden wir in fünf Jahren die Frage diskutieren: "Wie verändert die Cloud unser Handeln?"

Wenn wir heute über die Möglichkeiten der Cloud reden, dann sprechen wir vor allem über die Lösung einer Reihe von Problemen, die wir heute haben und gut kennen. Als mittelständischer Unternehmer fallen einem da z.B. die vielen kleinen Sorgen rund um die Server-Gesundheit ein: Wie sicher sind meine Systeme, wenn ich keinen Vollzeit-Administrator habe? Die Probleme beginnen bei der Ausfallsicherheit der Hardware und hören beim Schutz vor Hackern und Viren noch nicht auf. Server-Virtualisierung in der Cloud ist da eine willkommene Antwort, Datensicherung im Netz durch eine Schweizer Firma die mit einem Rechenzentrum in den Niederlanden zusammenarbeitet, gibt mir Sicherheit selbst für den Fall, dass im Münsterland wieder einmal das Licht ausgeht. Oder das Thema des sicheren Zugriffs auf Dokumente, Kundenkontakte, Projektdaten von jedem Ort der Welt aus, ob ich gerade Urlaub am Watzmann mache oder einen Kunden in Berlin besuche.

Auf diese Fragen gibt die Cloud-Technologie eine Antwort, Speicherplatz für meine Daten kann mir sicher und hoch verfügbar so bereit gestellt werden, dass ich überall von meinem Notebook aus so auf die Daten zugreifen kann, als wären sie auf meiner lokalen Festplatte.

Die Liste ließe sich fortsetzen. Aber es wäre zu kurz gegriffen wenn wir die Cloud nur unter dem Gesichtspunkt der Lösung heutiger Probleme betrachten würden. Wie jede andere Technologie eröffnet sie neue Möglichkeiten, gibt Chancen für neue Ideen die ergriffen werden, schafft sozusagen Lösungen für Probleme, die wir noch gar nicht haben.

Der Computer schlägt den Menschen im Rätsel-Raten

Zu Beginn dieses Jahres faszinierte uns Watson, ein IBM-Computer, der im Spiel Jeopardy die menschlichen Meister auf dem Gebiet des assoziativen Wissens schlug. Dieses Ereignis hat mein Denken über die Möglichkeiten und vor allem die Konsequenzen von Cloud-Services nachhaltig beeinflusst.

Man kann das Geschehen aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten, sicherlich bewegt uns dieser Sieg einer Maschine über den Menschen deshalb so besonders, weil er auf einem Gebiet errungen wurde, das bisher als unsere ureigenste Domäne galt: der Fähigkeit, assoziativ, durch Analogien und Kreativität, Schlussfolgerungen ziehen zu können, die sich erst im Nachhinein rational begründen lassen - kurz gesagt: zu raten, Rätsel zu lösen.

Wir sind normalerweise nicht sehr erstaunt, dass eine Maschine etwas besser kann als wir Menschen, ja, wir erwarten es sogar. Warum sonst sollten wir Maschinen bauen? Ein Auto sollte schneller fahren als ein Mensch laufen kann, sonst würden schon unsere Urgroßeltern den Lärm und die Abgase kaum akzeptiert haben. Auch, dass Computer schneller und fehlerfreier rechnen können, beeindruckt uns nicht sehr, denn auch das Rechnen halten wir - zu Recht - nicht für eine ursprünglich menschliche Fähigkeit. Wir können es zwar besser als die Tiere, aber erst nach langer Übung, vielen Rückschlägen und selbst dann oft nur mühsam.

Mit dem Raten, dem Rätsel Lösen und dem intuitiven Erkennen und Erfassen einer richtigen Lösung, ist es etwas anderes. Zwar ist auch darin nicht jeder Mensch gleichermaßen begabt, aber wir wissen, dass die Fähigkeit, eine Problemstellung intuitiv angemessen zu verstehen und eine gute, wenn auch nicht unbedingt die beste Lösung zu finden, die Menschen wirklich von allen Tieren gewaltig unterscheidet.

Darin hat uns nun also, wie es scheint, eine Maschine, ein Computer, geschlagen. Man kann lange darüber streiten ob er das wirklich getan hat, denn er löste zwar die gestellten Rätsel richtig und das auch noch schneller als jeder Mensch, aber er tat das nicht auf menschliche Weise. Das ist für meine Überlegung wichtig. Wir würden nicht sagen, dass ein Auto einen Menschen im 100-m-Lauf schlägt, denn jeder sieht, dass das Auto nicht läuft wie ein Mensch, sondern fährt. Vielleicht ist es etwas anderes, wenn der erste humanoide Roboter - sollte er je gebaut werden - die 100m in weniger als 9 sec läuft -, denn dann können wir den menschlichen Läufer vom Roboter nicht mehr ohne weiteres unterscheiden.

Je weniger sich das, was die Maschine tut, von dem, was der Mensch tut, unterscheidet, nicht nur dem Ergebnis nach, sondern auch danach, was man sieht, umso mehr sind wir beeindruckt.

Man kann niemandem beim Denken "zusehen"

Nun können wir aber weder einem Menschen noch einem Computer beim Rätselraten zusehen, wir sehen nicht ,wie einer denkt, und wir sehen auch nicht, was die Maschine macht. Wir müssen zugeben: Dass jemand irgendwie intuitiv und kreativ oder scharfsinnig auf die richtige Lösung eines Rätsels gekommen ist, erkennen wir nur am Ergebnis. Wie das ging, können wir nicht sehen, so wenig, wie wir sehen können, wie das der Computer macht - und damit wird beides ununterscheidbar.

Bei Watson haben uns die Ingenieure noch - ansatzweise - erklärt, wie der Algorithmus funktioniert, den der Computer zum Rätselraten benutzt. Und so sehen wir im Moment uns Menschen noch ein ganz klein wenig im Vorteil gegenüber der Maschine, denn wir wissen noch ein wenig besser, wie der Computer zu seinen Ergebnissen kommt, als wir das über den Menschen wissen, denn niemand, nicht einmal der Rätsel-König selbst, weiß, wie Kreativität funktioniert, wie einer zu "genialen Lösungen" kommt, die sich im Nachhinein auch noch als zwingende, einzig mögliche Lösung eines verzwickten Problems darstellen lassen.

Auch das ist übrigens nichts Neues. Die Funktionsweise einer Dampfmaschine, die eine Lokomotive antreibt, war den Menschen schon weit früher bekannt als die Funktionsweise und das Zusammenspiel der Muskeln, Bänder, Gelenke, die uns das Sprinten über die Stadionbahn ermöglichen.

Es bleibt ein entscheidender Unterschied zwischen den Leistungen herkömmlicher Maschinen und einem Computer wie Watson: Bei der Maschine sieht jedermann auf den ersten Blick, dass die Sache anders läuft als beim Menschen - wie Watson Rätsel löst, können wir nicht sehen, hören, riechen, wir haben kein Sinnesorgan, mit dem wir das Denken beobachten können, es findet hinter einer undurchdringlichen Wand statt, die nicht nur aus Schädelknochen oder Blech besteht, denn selbst wenn wir dahinter schauen, sehen wir kein Denken, sondern nur graue Substanz oder Schaltkreise, und wenn wir überhaupt etwas Messen können dann ist es beim Gehirn und beim Computer sogar das selbe, nämlich elektromagnetische Felder, und wir wissen, das diese Felder nicht das Denken sind.

Zurück zur Cloud: Hier werden uns bald nicht nur nahezu unbegrenzte Speicherkapazitäten zur Verfügung stehen, sondern - Stichwort "Software as a Service" - auch Softwarelösungen auf Supercomputern, die in der Leistungsfähigkeit und Schnelligkeit Watson nicht nachstehen. IBM hat etwa für 2012 einen Rechner mit 20 Billiarden Berechnungen je Sekunde ankündigt. Wir werden diese Services nicht zum Jeopardy-Spielen verwenden, so wie keiner auf die Idee kommt, sich vom Computer ein Kreuzworträtsel oder ein Sudoku lösen zu lassen - aber sie können und werden uns unterstützen, Urteile zu treffen, Entscheidungen für Handlungen herbeizuführen, die wir bisher unserer menschlichen Kreativität und Intuition anvertraut haben.

Wir tun das heute bereits - wenn auch auf einem überschaubaren Niveau. Aber wenn wir uns ansehen, was wir da heute typischerweise machen, dann bekommen wir einen Vorgeschmack von dem, wie wir zukünftig zu unseren Entscheidungen kommen werden.

Die App aus der Cloud: Ein Ratgeber

Neulich stand ich auf dem Darmstädter Bahnhof und wollte nach Münster (Westfalen). Über die nächste Reisemöglichkeit hatte ich mich mit Hilfe des Rail-Navigators informiert, einem Internet-Service der Deutschen Bahn. Ich hatte rund eine viertel Stunde auf dem Bahnsteig in Darmstadt zuzubringen, um dann mit einer Regionalbahn nach Frankfurt zu fahren und dort umzusteigen.

Plötzlich sah ich am Nachbargleis einen InterCity-Zug abfahren und erkannte gerade noch, dass dieser nach Frankfurt fuhr. In dem Zug hätte ich gern gesessen, weil ich natürlich lieber eine halbe Stunde auf dem Frankfurter Bahnhof zugebracht hätte als eine viertel Stunde in Darmstadt und 10 min in Frankfurt, und weil ich lieber InterCity-Züge benutze als Regionalbahnen.

Im letzten Satz kam zweimal das Wort "ich" und zweimal das Wort "lieber" vor. Genau davon weiß der Rail-Navigator nichts, er kennt mich nicht und erst recht nicht meine Vorlieben. Wahrscheinlich wählt er die Verbindung nach der Dauer der Reise aus, und wenn ich ohnehin erst um 20:00 Uhr in Münster ankomme, dann bietet die Software aus der Cloud natürlich die Verbindung an, bei der ich am spätesten starten muss.

Die Software weiß weder, dass ich mich bereits auf dem Darmstädter Bahnhof befinde, noch, dass ich es bevorzugen würde, die Wartezeit auf einem Bahnhof zu bündeln als sie auf mehrere Haltestellen zu verteilen.

Nun kann man natürlich einwenden, dass zukünftige Versionen des Rail-Navigators diese Dinge berücksichtigen können. Die tatsächliche Position des Handys zum Zeitpunkt der Abfrage kann in den Algorithmus eingehen, außerdem könnte in der Cloud aus meinem tatsächlichen Verhalten ein Profil erstellt werden, aus dem die Software mir Vorschläge macht, die immer besser zu meinen Vorlieben passen.

In Deutschland wird "Profil erstellen" immer mit "Schutz personenbezogener Daten" assoziiert und das macht jegliches Speichern von tatsächlichen Entscheidungen einzelner Personen anrüchig und rückt Hersteller entsprechender Lösungen in die gefühlte Nähe krimineller Organisationen. Dieser Aspekt soll mich hier aber zunächst nicht beschäftigen, mir geht es um die Frage, ob solcherart generierte "Individualität" tatsächlich geeignet wäre, das Problem zu lösen, welches darin besteht, dass Systeme wie der Rail-Navigator meine Vorlieben nicht kennen und berücksichtigen können.

Der gute Bekannte kennt mich

Software-Systeme, die individuelle Profile erstellen, machen nichts anderes als gute Bekannte, die mich ständig beobachten, sich alles merken und dann meinen, sie wüssten, was gut für mich ist. "Ich weiß doch ganz genau, was du willst", sagt man mir dann und versucht, mir einzureden, dass meine Vorlieben klaren Regeln folgen, die man mit "Wenn… dann…"-Sätzen notieren und berücksichtigen kann.

Fragen von Meinungsforschungs-Instituten kommen einem da in den Sinn, die im vorliegenden Fall lauten könnten: "Wenn Sie in einer mittelgroßen deutschen Stadt auf dem Bahnhof stehen und eine gewisse Wartezeit haben, würden Sie dann eher bevorzugen, zum nächsten großen Bahnhof weiterzufahren und dort etwas länger zu warten oder würden Sie lieber auf diesem Bahnhof so spät wie möglich starten?" Das sind die Fragen, bei denen man zwischen "Weiß nicht" oder "Egal" schwankt, oder mit einem klaren "Kommt ganz drauf an!" antworten möchte.

Ein guter Bekannter, der mich vielleicht seit langem auf Reisen begleitet, wird feststellen, dass meine wirkliche Entscheidung von unzähligen Kleinigkeiten abhängt, z.B. von der Auslage des Zeitungsladens in Darmstadt oder vom Duft, der vom Backstand herüberkommt, oder von den Sympathiewerten anderer Wartender. Niemand - wahrscheinlich nicht einmal ich selbst - kennt alle Gründe und deren Zusammenhänge, die in meine Entscheidung einfließen, und deshalb würde mein Bekannter wohl immer wieder sagen, dass man aus mir "nicht schlau wird".

Teil 2: Die App sagt, was ich tun soll
Teil 3: Kritik der Cloud-Services