Fehler gibt es nicht in der Musik

Am 26.5. wäre der 1991 gestorbene Miles Davis 80 geworden

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Miles Davis behauptete gerne von sich, er habe die Musik „vier oder fünf Mal neu erfunden.“ Das musste er auch, denn er war von Musikern umgeben, die ihm technisch überlegen waren. Mit der Sammlung, die heute als "Birth of the Cool" bekannt ist, fing alles richtig an (Text mit Hörbeispielen).

Miles Davis auf dem Cover der Platte, die für manche das Ende des Jazz einläutete

1945: Die Stimmung in den USA ist hoch. Die Weltwirtschaftskrise ist überwunden, der Zweite Weltkrieg gewonnen. Aber große Veränderungen stehen der Jazzwelt hervor. Ironischerweise werden die Bigbands, die den Sound der 30er und frühen 40er prägten, den wirtschaftlichen Boom der nächsten Jahrzehnte nicht überleben. Einerseits sind die Arbeitskräfte nicht mehr so billig; Duke Ellington finanziert seine Bigband durch den Erlös seiner Kompositionen quer. Andererseits vollzieht sich ein Wandel weg von stark arrangierten Kompositionen hin zu Improvisationen über kaum noch erkennbare Themen, bevor am Ende alles aufgelöst wird und jeder sozusagen für sich spielt. Davis ist in jeder Phase vorne dabei.

Davis war nämlich ein guter, aber nicht so schneller Trompeter, der versuchte, im wilden Bebop-Zeitalter Mitte der 1940er überhaupt mitzuhalten. Doch Davis war kein Dizzy Gillespie - der erste Trompeter, der seit Louis Armstrong das Trompetenspiel weiterbrachte. Er war auch kein Charlie Parker, der nicht nur das Altsaxophon als Hauptinstrument im Jazz etablierte, sondern das Musikvokabular selbst weiter entwickelte. Parker fand einen Weg, eine Melodie bestehend aus so genannten Obertönen schön klingen zu lassen. Vereinfacht gesagt: Wenn man eine Nummer am Klavier nur mit weißen Tasten spielt, solierte Parker nur auf den schwarzen Tasten, und es klang trotzdem gut.

Parker spielte außerdem wie ein Besessener. Er übte manchmal den ganzen Tag eine einzige Nummer, erst in C, dann in Cis, dann D, dann Dis, usw. Wenn er alle Tonarten durch hatte, spielte er alles noch mal in double-time -- doppelt so schnell.

Der arme Davis - was sollte er bloß neben einer solchen Konkurrenz anstellen? Seine Stärken - wie er später immer wieder unter Beweis stellte - waren:

  1. Sein unverwechselbarer Trompetenton. Als der kraftvolle Louis Armstrong noch König war, hatte Davis einen leichten, vibratolosen Hauch, oft zwischen Heulen und Seufzen, der diesen Amateurboxer oft zu entrückt klingen lässt, um sentimental zu wirken (vgl. Concierto De Aranjuez).
  2. Sein Talent, die besten Musiker seiner Zeit um sich zu scharen und ihnen die passende Plattform zu geben, damit sie sich noch weiter entwickeln.

Als Davis sein Nonett gründete, gab es noch keine LPs. "Birth of the Cool" ist eine Sammlung von 6 Singles, die nach und nach aufgenommen wurden. Den Titel hat man auch erst lange nach der Auflösung der Gruppe erfunden. Ob für Davis ein Konzept dahinter stand? Etwa „cool jazz“? Schwer zu sagen, was Davis vorhatte. Die Stücke fanden keinen großen Anklang, und das Projekt dauerte nicht viel länger als ein Jahr. Aber so viel steht fest: Es war ein gelungener Versuch, etwas Neues zu machen.

Bebop war schnell und verrückt, und die Big Bands der 30er hatten mit Rhythmus/Dynamik (vor allem Basie) und Komposition/Arrangement (vor allem, aber nicht nur Ellington) experimentiert. Also zähmte Davis den Bebop (bestes Beispiel: Bud Powells Budo) und durchbrach die Zusammensetzung der Bigband, um völlig anders arrangieren zu müssen. Der Kontrabass hatte die Tuba im Laufe der 30er nach und nach komplett verdrängt, da brachte Davis das altmodische Instrument wieder ins Spiel – behielt aber den Kontrabass bei! Das Tenorsaxofon war das Soloinstrument schlechthin aus der Bigband-Ära; Davis wählte Altsaxofon und das bis dahin selten benutzte Baritonsaxophon – und benutzte letzteres sogar als zweites Soloinstrument neben seiner Trompete. Ferner waren eine Posaune und ein Horn dabei, letzteres ein nie zuvor gesehenes Instrument im Jazz (es spielte noch eine traditionell besetzte Combo).

Dann erkor Davis einen bis dato unbekannten kanadischen Jazz-Arrangeur, mit dem er später wieder Musikgeschichte machen sollte: Gil Evans. Evans war unorthodox; ein Stück wie Moon Dreams beginnt wie ein Wiegenlied, dann endet eine Melodielinie auf einem ungewöhnlichen Ton, die Tonart beginnt zu schaukeln, das Tempo spielt verrückt, bis das Ganze völlig aus den Fugen gerät und in einem scheinbar formlosen Alptraum endet. Irgendwie hört man den Free Jazz von 20 Jahren später hier schon kommen.

Aber noch wichtiger sind die durcharrangierten Bläserpassagen hinter den improvisierten Soli. Z.B. ist das Stück Venus de Milo ein wahres Wunder. Die Bläsersätze bieten dem Solisten Davis hier einen idealen Hintergrund – oder besser gesagt: die ideale Begleitung, denn es ist in diesem Stück – ja, auf dieser CD – oft schwer zu sagen, wer hier eigentlich improvisiert und wer im Satz spielt. So was hat Weather Report erst 25 Jahre später wieder aufgegriffen und perfektioniert - dessen Motto: entweder spielen alle nach Noten oder es improvisieren alle gleichzeitig.

Auch in Stücken wie Godchild und Boplicity spielte Davis meisterhaft. Das mäßige Tempo nutzte der Arrangeur Evans, um die Themen so verfremdet-schön zu gestalten, dass es wirklich schade wäre, wenn man’s schneller spielen würde. Und die Solisten nutzten das mäßige Tempo gleichermaßen, um ihre Soli wie ausgedachte Melodien zu improvisieren – oder waren sie doch aufgeschrieben? Das erste Solo von Mulligan verklingt in „Boplicity“, man vermutet das zweite – aber nein, es spielen doch mehrere Instrumente zusammen, und dann kommt Davis wieder mit einem... Solo? Und dann setzt Davis noch eins oben drauf, spielt zwei Takte double-time, schaltet wieder runter und ruht plötzlich einige Sekunden lang – nur das Kombo murrt munter weiter. 3-4 Sekunden Pause – das muss den Beboppern wehgetan haben!

Aber was soll’s: Die Scheibe (eigentlich: „Scheiben“) war ihrer Zeit weit voraus. Das Nonett selbst wusste offenbar gar nicht richtig, was daran gut war. So ging die Gruppe auseinander. Davis tappte mit ein paar unglücklichen Platten noch auf der Semi-Bebop-Schiene (z.B. "Bag’s Groove") und kämpfte mit Drogen, bis er das ultimative Quintett Ende der 1950er gefunden/erfunden hatte. Erst nach den Aufnahmen für "Birth of the Cool" setzte sich die LP durch; Nun waren die Musiker nicht mehr auf knapp 4 Minuten für Aufnahmen begrenzt.

Das Quintett

Davis nahm die LP zum Anlass, das Prinzip der Improvisation voll zur Geltung zu bringen. Er sammelte die besten Improvisationskünstler um sich (vor allem John Coltrane und Cannonball Adderley) und ließ jedem minutenlang freien Lauf. Im Gegensatz zu "Birth of the Cool" gab es auf "Kind of Blue" keine ausgefeilten Arrangements. Zwei weitere Besonderheiten dieser Platte, die vielen als der Höhepunkt der Jazzgeschichte schlechthin gilt: Davis nutzte Moden statt Tonarten (Blue in Green ist eine Aneinanderreihung von kleinen Terzen, die im Kreis herumgehen), um den Solisten mehr Freiheit zu geben; und die Stücke sind nicht (wie bis dato im Jazz üblich) Neubearbeitungen von bekannten Nummern aus dem Repertoire, sondern neue Kompositionen - wobei "Kompositionen" fast übertrieben ist, bestehen die Stücke eigentlich nur aus Aufhängern ("Themen"), die die Soli einrahmen.

Fast die gleiche Besetzung hatte kurz zuvor die Platte "Milestones" aufgenommen. Davis drehte seinem Publikum in späteren Jahren bekanntlich den Rücken zu, wenn er nicht ganz von der Bühne verschwand, während ein anderer ein Solo spielte, und so wundert es nicht, dass er bei Billy Boy gar nicht mitspielt. Die Nummer soll vielleicht zeigen, wie gut seine Combo war, denn es spielen nur Klavier, Bass und Schlagzeug. Gleichzeitig zeigt Davis' "Billy Boy", dass der Jazz vor allem eine umdeutende Kunst ist, denn das harmlose Disney-Kinderlied Billy Boy vermutet man gar nicht dahinter.

Die ultimative Freiheit

"Birth of the Cool" und "Kind of Blue" – wann hat Davis die Musik noch neu erfunden? Sicherlich gehört dazu Sketches of Spain. Wieder ist Gil Evans als Arrangeur dabei, diesmal ist es aber eine Duoarbeit: Davis spielt Trompete, Evans spielt das Orchester. Das Resultat ist schwer beschreibbar: Tondichtung? Filmmusik? Klangteppiche? Jedenfalls einnehmend.

Von Klangteppichen und möglichst freien Improvisationen war es daher nur ein kurzer Schritt zu den Platten, die die 4te oder 5te Neuerfindung der Musik darstellen: "In a Silent Way" und "Bitches Brew". Davis war elektrisch geworden (man spricht von Fusion oder Jazzrock), und der Jazz noch freier - es war gar nichts mehr abgesprochen. Der Free Jazz, der vor allem in Deutschland (auch in der ehemaligen DDR) praktiziert wurde, galt vielen als Vollendung der Entwicklung, die mit den frühen Improvisationen aus dem New Orleans Jazz angefangen hatte. Sie wurde auch durchaus im Zusammenhang mit der gleichzeitigen Bürgerrechtsbewegung politisch verstanden - die ultimative Freiheit.

Doch diese 100%ige Freiheit - das zeigt der Autor Milan Kundera in „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ auf seine Weise - ist nicht jedermanns Sache. Für die meisten Menschen ist es besser, ein Kreuz tragen zu müssen, als gar keines zu haben. Man sagt ja auch von Kindern, dass sie Regeln brauchen - warum soll das bei Erwachsenen anders sein? Der freie Jazz lärmt jedenfalls gewaltig. Free Jazz war also vielleicht die logische Vollendung der Jazzentwicklung, nicht aber sein künstlerischer Höhepunkt.

Den Jazz verraten

Davis machte noch mehr als zwei Jahrzehnte nach "Bitches Brew" Musik, aber für viele ging der Jazz in den 1960ern zu Ende. Ich gebe zu, dass ich in einem früheren Leben als Jazz-DJ in New Orleans "Bitches Brew" bei 45 rpm statt bei 33 spielte, um zu zeigen, dass keiner es merken würde. Es rief auch keiner beim Sender an, womit bewiesen wäre - so mein Chef, der mir gleich verbat, Gleiches noch mal zu tun -, dass keiner meine Sendung hörte.

Der eine oder andere Jazzfan mag noch eine Neuerfindung der Musik in den vielen Platten von Davis nach "Bitches Brew" finden. Bei so viel Experimentierfreude können einem nicht alle Platten von ihm gefallen. Aber es spricht Bände, dass kein geringerer als Wynton Marsalis - einer der drei größten Jazztrompeter neben Louis Armstrong und Dizzy Gillespie - in den 1980ern Davis vorwarf, er habe den Jazzkanon mit seiner elektronischen Fusion verraten. Auch dieser Vorwurf will verdient sein.

Und wieder sah sich der leider schon betagte Davis von dem neuen Herausforderer Marsalis technisch überfordert. Als die zwei zum ersten Mal auf einer Bühne standen, soll Davis in den zwei Wochen davor jeden Tag geübt haben - zum ersten Mal seit Jahrzehnten.

Schwarze Musik?

Davis selbst sah musikalisch keine Hautfarbe, er spielte zusammen mit den besten Musikern, egal welcher Hautfarbe, aber Zeit seines Lebens fühlte er sich als Schwarzer benachteiligt. Einmal soll er verbittert gesagt haben, wenn er nur noch eine Stunde zu leben hätte, würde er sich einen x-beliebigen Weißen holen und genüsslich langsam erwürgen.

Die Benachteiligung kann man auch hören, zum Beispiel auf den alten LPs von "Kind of Blue", denn Columbia Records nahm den Höhepunkt der Jazzgeschichte (jedenfalls die meistverkaufte Jazzplatte) mit einem Gerät auf, das zu schnell lief, weshalb die Platte bis zum CD-Remastering gar nicht richtig gestimmt war. Man kann die Benachteiligung auch auf der Platte lesen: Cannonball Adderleys Name wurde dort falsch geschrieben. So behandelt man nicht die Hohe Kunst, sondern höchstens die Negermusik.

Davis stand musikalisch nie still. Er hatte keine Angst davor, einen Fehler zu begehen, und glaubte auch nicht an falsche Töne in der Musik: "Do not fear mistakes. There are none". Nur so einer kann sich erlauben, den Einstieg bei "Freddy Freeloader" auf der Platte "Kind of Blue" komplett zu verpassen - ein Fehler im Diamant, aber Davis nimmt man es gerne ab.

Ja, Miles, ich komme auch auf vier oder fünf Mal.