Feindbild Russland als Ablenkungsmanöver

Seite 3: Russland als Ablenkungsmanöver

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Es ist davon auszugehen, dass die Geldgeber den CSIS-Autoren freies Spiel lassen. CSIS-Leute betonen ihre Unabhängigkeit. Doch die ideologischen Anschauungen und Interessen verbinden, da muss sich ein von der Industrie oder einer Regierung geförderter Experte nicht verbiegen, um gewünschte Ergebnisse zu liefern.

Auch CSIS ließe sich mit seinen personellen und finanziellen Beziehungen als Verstrebungen eines Knotenpunkts in einem internationalen Netzwerk beschreiben. So kann das Establishment vor der Öffentlichkeit verborgen Entscheidungen der demokratisch gewählten Regierung beeinflussen und mit kruden Thesen die Öffentlichkeit beschäftigen. Solches lässt sich mit Sicherheit auch in Russland finden, doch es ist keine russische Eigenart. Lobbyismus, Intransparenz und Korruption sind weltweite Phänomene, die Herrschenden nutzen sie, um ihre Interessen im In- und Ausland durchzusetzen. Russlands Militäreinsätze sind zu Recht umstritten.

Doch die Fokussierung auf das Feindbild Russland ist ein machtpolitisches Instrument, das vom eigenen Versagen ablenkt. Sie drängt so manches aus dem öffentlichen Diskurs, was nicht zur westlichen Selbstüberschätzung passt. Putin ist nicht überall für Nationalismus und Autoritarismus verantwortlich. In Polen und in den baltischen Ländern gebärdet sich die politische Rechte homophob, flüchtlingsfeindlich und antirussisch zugleich. In Lettland diffamieren Rechtsradikale innerhalb der mitregierenden Nationalen Allianz russischsprachige Mitbürger immer noch als "Okkupanten".

Staatsgründer Karlis Ulmanis wird von den Nationalkonservativen verehrt. Dieser hatte Lettland in den 30er Jahren in eine nationalistische Diktatur verwandelt. Die lettische Korruption ist vor allem hausgemacht. Die niedrigen staatlichen Gehälter und die erheblichen Einkommensdifferenzen in der lettischen Gesellschaft senken die Hemmschwellen. Ärzte verlangen von Patienten inoffizielle Zusatzhonorare. Richter machten Schlagzeilen, weil ihre Urteile zu kaufen waren. Polizisten begingen nach der empfindlichen Kürzung ihrer Gehälter einen Raubüberfall mit tödlichem Ausgang.

In grenzüberschreitende Korruptionsskandale sind nicht nur Russen verwickelt. Daimler Benz schmierte Angestellte der Rigaer Verkehrsbetriebe, um den Auftrag für Linienbusse zu ergattern. Die Zeche für die überteuerten Busse zahlten die lettischen Einwohner. Die Deutsche Bank nutzte die Finanzierungsschwierigkeiten beim Bau der Rigaer Südbrücke, um der Rigaer Stadtregierung einen Wucherkredit anzudrehen.

Nicht Russland destabilisierte Ende 2008 sein kleines Nachbarland, sondern westliche Banken, die mit hemmungsloser Kreditvergabe Immobilien finanzierten, die sich die Kunden eigentlich gar nicht leisten konnten. Die Pleite der Lehman Brothers löste dann auch in Lettland eine schwere Wirtschaftskrise aus. Die Regierung sah sich veranlasst, die heimische Parex-Bank zu "retten". Diese hatte zwar Besitzer russischer Herkunft, doch sie waren lettische Einwohner. Um die Pleitebank zu kaufen, benötigte der lettische Fiskus dann selbst einen Milliardenkredit von der EU, die ihren Mitgliedstaat zu einer drastischen Sparpolitik und einer allgemeinen Senkung der Gehälter verpflichtete.

Keine russische Oligarchenbank, sondern die lettische Swedbank-Filiale ruinierte Existenzen. Sie hatte den Balten Euro-Kredite in Milliardenhöhe gegeben. Gegen Empfehlung des IWF beharrte die schwedische Regierung darauf, den Lats nicht abzuwerten, um die eigene Bank vor der Pleite bzw. einer "Rettung" mit schwedischen Steuermitteln zu bewahren. Eine Abwertung hätte lettische Kreditnehmer massenweise überfordert, die ein Gehalt in Lats bezogen, aber einen Swedbank-Euro-Kredit abstottern mussten. Wikileaks-Veröffentlichungen dokumentierten, dass Schwedens Finanzminister die lettische Regierung unter Druck setzte, um eine Abwertung zu verhindern.

Nicht Russland, sondern Schweden verbreitete damals das Gerücht, dass Lettland ein gescheiterter Staat werde, wenn es seine von IWF und EU aufgebürdete Sparpolitik nicht erfülle. Während man sich in Deutschland in der Not an Keynes erinnerte und die Bundesregierung mit staatlichen Programmen massiv in die kriselnde Wirtschaft investierte, wurden die Letten zur monetaristischen Politik gezwungen, die das Ziel hatte, die Maastricht-Kriterien zu erfüllen und den Euro einzuführen. Noch mehr Letten verließen ihr Land, um für sich im Westen eine bessere Lebensperspektive zu finden.

Im Rückblick wirken die Anti-Oligarchen-Kampagnen jener Jahre wie eine "Haltet den Dieb"-Strategie. An der überlegenen, offenen und alternativlos (neo)liberalen Wirtschaftsform des Westens kann es ja nicht liegen, wenn die Bürger darben. Es muss der böse Russe sein, der die erhabene transatlantische Wertegemeinschaft missbraucht und Elend über das gelobte Land bringt.